Berlinale Retrospektive 2022: Mae West: „Klondike Annie“

Klondike Annie

USA 1936. Regie: Raoul Walsh. Mit Mae West, Victor McLaglen, Phillip Reed, Helen Jerome Eddy

 

„No Angels: Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“ heißt die Retrospektive der 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2022. Die Retrospektive blickt damit auf drei Beispiele von Schauspielerinnen, die die Hollywood-Komödien der 1930er bis 1940er geprägt haben. Begleitend dazu ist bei Edition Text + Kritik ist  ein von Rainer Rother verfasster Band mit drei Essays zu den drei Darstellerinnen erschienen:

Rainer Rother: No Angels. Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard. Edition Text + Kritik, München 2021. Text deutsch und englisch. 162 Seiten, viele Abbildungen. 15 Euro.


Komödienweis’ hat sich Mae West festgefahren; „Klondike Annie“ geht den Weg der Abkehr.

 

Der Witz des Films ist, dass Mae West in ihrer erprobten Rolle als begehrte Nachtclubsängerin in die Rolle einer frommen Betschwester schlüpft. Der Clou an dem Film ist, dass er dies nicht als Witz erzählt. „Klondike Annie“ ist ein Drama, nach eigener Vorlage selbst verfasst, mit ein bisschen Hilfe ihrer Freunde – und unter der kompetenten Regie von Raoul Walsh. Wir sind wieder einmal in den 1890ern, dem Lieblingsjahrzehnt von Mae West – Rainer Rother beschreibt diese Faszination ausführlich in seinem Mae West-Essay im Begleitband.

 

Rose ist bekannt als „San Francisco Doll“, sie ist der Star der Edelkaschemme in Chinatown, und sie gehört dem Besitzer, einem bösen Chinesen, den yellowfaced Harold Huber spielt. Böse guckt er, wie alle Filmchinesen böse gucken, und wir hören alsbald – und spüren körperlich – wie er eine Vertraute von Rose foltern lässt. Denn Rose will fliehen, der Goldrausch in Alaska lockt sie, vor allem aber treibt sie der besessene Chinese weg aus Frisco.

Es gelingt trotz aller Gefahren, auf ein Schiff in Richtung Nome zu steigen; dort verknallt sich der Käpt'n in sie. In allen ihren Filmen geht es um Männer, die von der Mae West-Figur besessen sind, die sie sehen und nicht mehr ohne sie leben können. In den anderen Filmen genießt sie die Aufmerksamkeit, spielt mit den Männern wie eine Katze mit der erlegten Maus. In „Klondike Annie“ leidet sie unter dem Begehren, sie wurde genug begehrt in ihrem Leben. Den Käpt'n hält sie von sich fern. Bis es nicht mehr geht: Denn in Seattle erreicht der Steckbrief das Schiff, sie wird gesucht wegen Mordes in San Francisco, und der Film lässt bewusst offen, ob diese Anschuldigung wahr ist – geflohen ist sie im Schutz einer Schwarzblende, ganz zu Beginn des Films haben wir einen kunstvollen Dolch gesehen; keine große Fantasie ist nötig, diesen Dolch im Rücken ihres Peinigers zu sehen. Um nicht aufzufliegen, lässt sie sich auf den Käpt'n ein. Sie werden ein Paar. Was Rose betrifft, nur für die Dauer der Schiffsreise.

In Vancouver kommt eine neue Passagierin an Bord, die gottesfürchtige Annie, die in Nome die vielen verlorenen Seelen heilen will und dem Glauben zuführen will. Sie ist gut zu Rose, obwohl sie deren Schlechtigkeit zumindest ahnt; sie schenkt ihr ein Buch, „Settlement Maxims“ – und, wir sehen es über die Einträge im Logbuch, sie wird krank, ein Herzanfall. Sie stirbt. Und die Polizei durchsucht das Schiff. Und Rose verwandelt sich in Annie – ihre Chance, durchzukommen.

In Alaska wird sie zur Leiterin der Missionsstation, die einsam steht im Kampf gegen den Tanz-Saloon mit seinen, sprechen wir aus, was der Film verbrämt: mit seinen Nutten. Und Annie weiß, dass sie eine Schuld zu begleichen hat, und sie hat das Buch gelesen, und sie sieht die Religion, die sie immer getriezt hat mit ihrer Moral, in anderem Licht. Jeder kann gut sein und dennoch Spaß haben am Leben.

 

Die Vergangenheit wiegt schwer; die Schuld ist groß; die Leichtlebigkeit ist kein leichtes Unterfangen. Mae West strebt in diesem Film nach Ernsthaftigkeit, und es gelingt ihr, das Drama stringent durchzuhalten – mit den im Hollywoodfilm ohnehin üblichen Comic Relief-Szenen, die in einem Mae West-Film natürlich besonders spritzig sind und pointiert. Wahrscheinlich spiegelt sich in dem Film der jahrzehntelange Kampf von West gegen die moralinsauren Anständigkeitsvereinigungen, die ihre Revuen und Stücke am Broadway zu verhindern suchten, die den Hays-Code durchgesetzt haben – und die sie hier nicht in die Pfanne haut, sondern zu verstehen sucht.

Am Ende steht sie zwischen zwei Männern, dem Kapitän und dem Polizisten, beide sind heftig verliebt, beide wissen von ihr. Und sie weiß: Keiner der beiden ist die richtige Wahl, aber sie muss eine Wahl zwischen beiden treffen.

Auch das ein enormer Unterschied zum üblichen Mae West-Film: Sonst nämlich ist die Wahl zwischen Männern für sie immer die richtige.

 

Harald Mühlbeyer


Bilder (c) Universal Studios