Berlinale Retrospektive 2022: Carole Lombard: „Nothing Sacred“

Nothing Sacred

USA 1937. Regie: William A. Wellman, mit Carole Lombard, Fredric March, Charles Winninger, Walter Connolly, Sig Ruman

 

„No Angels: Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“ heißt die Retrospektive der 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2022. Die Retrospektive blickt damit auf drei Beispiele von Schauspielerinnen, die die Hollywood-Komödien der 1930er bis 1940er geprägt haben. Begleitend dazu ist bei Edition Text + Kritik ist  ein von Rainer Rother verfasster Band mit drei Essays zu den drei Darstellerinnen erschienen:

Rainer Rother: No Angels. Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard. Edition Text + Kritik, München 2021. Text deutsch und englisch. 162 Seiten, viele Abbildungen. 15 Euro.

 

Carole Lombard als Kleinstadtmädchen mit einem Traum: New York zu sehen – diese Basis bekommt einen besonderen Dreh. Denn Lombards Hazel Flagg stirbt langsam an einer Radiumvergiftung. So stand es in einer kleinen Zeitungsmeldung, und Wally Cook, Reporter, springt auf die Story an: Eine schöne Frau in der Blüte ihres Lebens dahingerafft von innen heraus! In Warsaw, Vermont, sucht er sie auf – und das ist schon auch heute noch, weit von Amerika entfernt, sehr komisch, wie die Provinz karikiert wird, mit ihren „Nope“-„Yap“-einsilbigen Einwohnern, die für Nichtauskünfte Dollar sehen wollen, mit der allgemeinen Garstigkeit, mit dem versoffenen Kleinstadtarzt, der die Zeitung hasst, weil er vor 22 Jahren um 10.000 Dollar betrogen worden war, weil er ein Preisausschreiben nicht gewonnen hat. Er ist es auch, der die Radiumvergiftung diagnostiziert hat. Falsch diagnostiziert hat, wie er Hazel gestehen muss. Und die ist hin- und hergerissen zwischen Freude und Traurigkeit, weil sie von den 200 Dollar Entschädigung für ihre Strahlenkrankheit nach New York wollte. „Da wird man zum zweiten Mal geboren, und wieder ist es Warsaw!“, schimpft sie aufgebracht.

Wally missversteht die aufgebrachte Stimmung und lädt sie nach New York ein, als letzte Freude in ihrem kurzen Leben und als Sensation für seine Zeitung. Mit dabei ist Dr. Enoch Downer, der Quacksalber – hauptsächlich, weil eine Komödie komische Figuren braucht. Und die hat der Film reichlich, der Zeitungsherausgeber gehört auch dazu; gespielt werden sie von Charles Winninger als Arzt (der mit Mae West als reicher Gönner in „Every Day’sa Holiday“ zu sehen war) und Walter Connolly als Zeitungsboss (der beispielsweise mit Lombard in „Twentieth Century“ – als Buchhalter des exzentrischen Theatermagnaten – und als Richter in „Lady by Choice“ aufgetreten war, und neben Rosalind Russell als Spielzeugeisenbahnfan in „Four’s a Crowd“ zu sehen war). Ben Hecht hat das Drehbuch geschrieben, und er hat ein Händchen für skurrile Charaktere, die skurrile Sachen machen, und zwar im Nebenher. Und natürlich hat er ein Händchen für das Skurrile, das seinen Hauptfiguren zustößt. Die Selznick-Produktion dauert nur 75 flotte Minuten – und ist in Technicolor gedreht. Man denke: ein „kleiner“ Film, kein Epos, aber alles in Farbe, 1937 – eine Seltenheit; und Carole Lombards einziger Farbfilm.

Natürlich wird die angeblich sterbende Hazel Flagg die Sensation der Stadt, eine Inspiration für das ganze Land, ein großer Star – ihr Leiden, ihr Dahinsiechen bringt ihr viele Fans ein; ihre Beerdigung werden sicherlich eine halbe Million Menschen besuchen – wenn sie denn doch nur tatsächlich todkrank wäre.

Lombard spielt auch hier „doppelt“, als ein Fake: und dies wiederum anders als die überemotionale Diva in „Twentieth Century“ oder als der naive Park-Avenue-Sprössling in „My Man Godfrey“: Hier nämlich als eine, die versehentlich in eine Lüge reinrutscht und nicht mehr rauskann, und die zugleich dieses Lügenleben willentlich genießt, weil es ihr das große Leben in New York ermöglicht. Ihr zur Seite: Fredric March als Reporter Wally Cook, der an ihr hängt, der damit seine berufliche Laufbahn zu retten versucht, der sich natürlich verliebt – und der ungewollt gerne Opfer von Täuschungen wird, Hazel ist nicht der erste Fall. Der Anfang des Films zeigt ein großes Galaessen zu Ehren eines reichen Sultans, der gleich darauf als Schuhputzer aus Harlem entlarvt wird – Wally hat ihn entdeckt. Später wird der Schuhputzer – eine durch und durch rassistische Szene – gezeigt, wie er in Hazels Krankenzimmer einsteigt und für seine Frau Blumen klaut. Der Herausgeber jedenfalls will zu Beginn Wally aus dem Reich der Lebenden entfernen – er muss nun im Kellerarchiv Nachrufe tippen. Hazel ist für ihn der Ausweg aus der Misere seines Lebens – er bringt sie damit in die Misere ihres Lebens.

Eine der besten Szenen des Films ist die Liebeserklärung, die als Kampf ausgetragen wird. Denn Hazels Täuschung ist aufgeflogen, nun soll sie wenigstens Lungenentzündung haben und muss fiebrig erhitzt werden: Ein Boxkampf wird es tun. Und Wally provoziert Hazel, und sie wird wütend, und sie kämpft – wie ein Mädchen. Also: Lombard spielt Hazel, die so kämpft, wie im Allgemeinen die Vorstellung ist, dass Mädchen kämpfen. Nahezu hysterisch, mit fuchtelnden Rundschlägen, die niemals treffen, sehr hampelnd – eine tolle Performance, zumal, wenn Wally sie dann KO schlägt – sie soll ja krankheitshalber bewusstlos sein. Er boxt ihr aufs Kinn, was ein Gentleman niemals tun sollte, sie steht, er tippt sie an, sie fällt aufs Bett – Simulant durch Schlagkraft. Und das Prügeln – es ist immer Liebeserklärung, da besteht nie Zweifel. Kurz darauf wird sie ihn KO schlagen, da hat er’s zurück.

Weitere bemerkenswerte Szenen: Bei einem Galaabend im Nachtlokal treten große Heroinen der Weltgeschichte auf; unter anderem Katinka, die Holland gerettet hat, indem sie ihren Finger in das Loch eines rissigen Damms gesteckt hat (das muss man erstmal kompliziert googlen…) – „show the finger!“, heißt es – es ist der Mittelfinger, den sie uns entgegenreckt. Als alles auffliegt, beschwert sich eine typische reaktionär-prüde Matrone: Sie stehe für alle Jungfern des Landes, und gerade erst wurde der Kurs gegen die kommunistische Bedrohung durch einen über die inspirierende Hazel ersetzt. Und in einer Szene – in besagtem Nachtlokal – sitzt Wally traurig gegenüber Hazel: „Es gibt keinen besseren Spaß als eine Totenwache“; sie entgegnet: „Sprechen wir nicht über Berufliches“ – und blinzelt dabei verschwörerisch in die Kamera, zu ihrem Publikum.

 

Harald Mühlbeyer

 

Bilder (c) Deutsche Kinemathek (im Film in Farbe!)