Berlinale Retrospektive 2022: Mae West: „Goin' to Town“

Goin' to Town

USA 1935. Regie: Alexander Hall. D: Mae West, Paul Cavanagh, Gilbert Emery.

 

„No Angels: Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard“ heißt die Retrospektive der 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar 2022. Die Retrospektive blickt damit auf drei Beispiele von Schauspielerinnen, die die Hollywood-Komödien der 1930er bis 1940er geprägt haben. Begleitend dazu ist bei Edition Text + Kritik ist  ein von Rainer Rother verfasster Band mit drei Essays zu den drei Darstellerinnen erschienen:

Rainer Rother: No Angels. Mae West, Rosalind Russell & Carole Lombard. Edition Text + Kritik, München 2021. Text deutsch und englisch. 162 Seiten, viele Abbildungen. 15 Euro.


Mae West wird in ihrer Rolle der Cleo Borden unvermutet Ranchbesitzerin mit Millionen auf dem Konto. Denn der Rancher hat sie geliebt, oder besser begehrt, so wie alle im Nachtclub, und West und der Rancher haben gewürfelt: Wenn sie gewinnt, kriegt sie ein Landstück, wenn er gewinnt, heiraten sie und sie bekommt seinen gesamten Besitz. Sie würfelt 2. Er würfelt 9. Sie hat gewonnen, so oder so, sie werden heiraten.

Wenn es also um Sex geht – um den Vollzug –, dann nur in der Ehe; anderes lässt der Code nicht zu. Später wird Cleo einen Mann heiraten unter der klaren Voraussetzung, dass kein Vollzug stattfindet, obwohl er gut genug aussieht. Der Sexappeal ist also in Hays-Code-Zeiten tatsächlich nur Verheißung und Hoffnung, aber das kann West sowieso am besten verkörpern.

 

Ihr Verlobter wird erschossen am Tag der Hochzeit. Cleo war klug genug, einen Ehevertrag zu schließen, jetzt aber scheint doch alles verloren. Aber, juristische Spitzfindigkeit, die sie nicht einmal geahnt hat: Allein ihr Eheversprechen schon sorgt für die Übernahme des Besitzes. Inklusive Vieh, inklusive Ölquellen. Und inklusive dem britischen Ingenieur Carrington, der dort arbeitet? Er vermeidet sie, wendet sich ab, ignoriert sie – sie schießt ihm den Hut vom Kopf, wirft ein Lasso um ihn, es sind ihre Methoden der Werbung und des Hofmachens, die werden auch bei ihm funktionieren. Fortan wird sie daran arbeiten, seine Bremsen zu lösen – inhibitions kennt die Mae West-Persona per definitionem nicht. Und fordert dies auch von den Objekten ihrer begehrenden Sehnsucht ein.

Er entschwindet ihr, sie hat ein Ziel und reist ihm nach, bis Buenos Aires. Dort gibt es Pferderennen, sie hat das Geld, das Glück und die Geschmeidigkeit, eine Menge Wetten zu gewinnen; macht sich dafür eine Dame zur Feindin, lässt sich auf einen halbseidenen Russen ein, hat einen treuen Indianer von ihrer Ranch, der mit ihrem Pferd Cactus umgehen kann, so dass es gewinnt: Pistolenschüsse kann das Tier gar nicht ab, da saust es los wie nix.

Carrington ist beeindruckt, aber nicht bereit. Der Neureichen fehlen ein Name und Kultur. Ein glückloser Spieler muss her als Strohmann-Ehemann, nun hat sie einen Namen, nun kann sie prunken, nun kann sie ihre Klasse zeigen.

 

Geld ist nicht alles. Verführungskunst auch nicht – wenn sie dabei nämlich nicht auf die Bedürfnisse des Mannes eingeht, den sie als Objekt ihrer Begierde auserkoren hat. So führt der Weg zum Mann über die Dame-Werdung. Sie gibt einen großen Ball, das Geld sprudelt ja, inklusive einer Oper, „Samson und Delilah“, sie singt den Delilah-Part, das kann sie natürlich auch noch! Die böse Antagonistin und der Russe spielen ein übles Spiel, der doofe Ehemann ist glückloser Glückspieler, aber das Ziel ist erreicht, Carrington fasst sie als Frau ins Auge. Er ist ein englischer Earl, das wird nun erst bekannt.

 

Belanglose Handlung plus Mae West – das ist der Deal, den sie mit dem Publikum eingeht, und Paramount ist offenbar zufrieden mit der Erfüllung dieses Vertrags, West darf Jahr um Jahr ihre Filme drehen. Die sind wahrscheinlich nicht teuer, bringen aber die ganze Welt auf die Leinwand, und die Blicke aus halbgeschlossenen Augen, das Flirten, das Abscannen der Männerwelt, das funktioniert auch unter dem prüden Code. Solange West monogam bleibt, und solange sie am Ende im Hafen der Ehe anlangt. Auch wenn sie – damit hat sie vieles vielen sonstigen Leinwand-Frauen voraus – den Mann und den Weg zum Mann selbst bestimmt.

 

Die coolen Sprüche nimmt ihr niemand, auch wenn einige Anzüglichkeiten nicht mehr möglich sind: „Ich bin Aristokrat und das Rückgrat meiner Familie!“ – „Die bräuchte einen Chiropraktiker.“

Am obligatorischen Liebes-Happy End singt West ein letztes Lied, eines von ihrem Aufstieg: „Now I'm a lady – come up and see me some time“ – Mae West ist eine Marke, und sie sagt ihren bekannten Slogan.

 

Harald Mühlbeyer

 

Bilder (c) Universal Studios