exground 09: Große Entdeckung in der Youth-Reihe: MY SUICIDE
Ich muss zugeben, dass mich die Reihe "Youth" eigentlich nicht sonderlich interessiert (hat), aber dann saß ich zur richtigen Zeit im richtigen Film und wurde eines besseren belehrt. David Lee Millers Regiedebüt, der Jugendfilm "MY SUICIDE", hat mich schlichtweg vom Hocker gerissen.
Wie der Titel schon verrät, geht es um Selbstmord, denn der Teenager Archie (Gabriel Sunday), ein vor Kreativität überfließender Hobbyfilmer, hat sich für seine Filmklasse etwas Besonderes ausgedacht: als Höhepunkt einer Dokumentation über seine Umwelt und deren Umgang mit dem Thema Selbstmord will er sich vor laufender Kamera umbringen. Archie wird zwar zuerst in die Psychiatrie eingeliefert, aber so wirklich ernst nimmt ihn keiner, und ist der Psychologe erstmal zur Weisglut getrieben, darf er auch wieder nach Hause. Dies ist der Beginn seiner Dokumentation, während der er eine unerwartete Verbündete in seiner heimlichen Liebe Sierra findet, erste Erfahrungen mit Sex, Alkohol und Drogen macht, neben Ablehnung auch auf Anerkennung und Bewunderung stößt, und Ratschläge seines Idols, dem abgedrehten Künstler-Philosophen Vargas (David Carradine), erhält. Und während Archie auf dem Abgrund balanciert, lernt er sein Leben und sich selbst erst richtig kennen. MY SUICIDE ist auf visueller Ebene ein Clash aus allem, was die Medienwelt zu bieten hat. In einer überwältigen Fülle fließen Fantasiesequenzen und schockierende Realität zusammen, werden Film- und Computerspielzitate mit Mediensatiren verwoben, wird selbstreflexiv vor dem Green-Screen geturnt und wechselt sich die Home Video-Optik mit Comic-Elementen und geleckter Kino-Qualität. In seiner Kreativität und nicht vollkommen erfassbaren Bilderflut erinnert MY SUICIDE ein wenig an THE SCIENCE OF SLEEP, geht aber noch viel weiter. Während der Film sich thematisch mit dem Thema Jugend, Pubertät und Selbstmord heute auseinandersetzt, demonstriert er zutiefst beeindruckend und einfallsreich auf visueller Ebene die Überwältigung, Verwirrung und Isolation der jungen Generation des Medienzeitalters. Dabei schafft er auch auf der Handlungsebene, Klischees weitgehend zu umschiffen oder ironisch zu brechen. Besonders beeindruckte der sympathische Hauptdarsteller, Co-Kameramann, Co-Drehbuchautor und Cutter Gabriel Sunday, der danach noch zu einem kurzen Gespräch bereitstand. Er gab kleine Einblicke in den langen Entstehungsprozess des Films, die Improvisationen (vor allem von David Carradines Seite, der in "another galaxy" lebte) und die wahnsinnige Menge an Material, die im Schnitt zusammengekommen ist. Beim Zuhören verstärkte sich die Verwunderung noch weiter, wie ein Team mit so wenig Erfahrung aus einem visuellen Clash soviel narrative und dramatische Energie herausholen und daraus ein organisches Ganzes machen konnte. Hut ab – auf die weiteren Karrieren von Gabriel Sunday und David Lee Miller bin ich sehr gespannt. Ein Autogramm von ersterem habe ich schon mal gesichert: das versteigere ich in zehn Jahren bei Ebay und setz mich zur Ruhe ;)
Sarah Böhmer