exground 09 - Die Umwertung aller Werte: CAMINO

Es gibt Filme, die zergehen im Hirn wie Zuckerwatte auf der Zunge. Ein kurzer sinnlicher Effekt, ein süßlicher Geschmack, das war's. Eben erst gesehen, schon wieder vergessen. Wie war das noch gleich? Die Hauptperson ist am Ende was? Tot? Ach, stimmt ja…
Die andere Sorte Film, die guten, die bleiben bei einem. Deren Stimmung breitet sich über einem aus wie eine Art Mantel, der die Weltwahrnehmung transformiert. Wenn man es gut trifft, mag man diese Filme nicht nur, man verliebt sich in sie. Und diese Filme haben auch den gleichen Effekt wie die Erinnerung an einen lieben Menschen, diese Erinnerung ruft ein angenehm unruhiges Kribbeln hervor, ein unwillkürliches Grinsen auf den Lippen, das Bedürfnis der Wieder-Sehen-Wollens. Der Effekt ist natürlich selten – wäre er es nicht, wäre das Gefühl ja auch nichts Besonderes mehr. Man verliebt sich ja auch nicht in jedes Gesicht, das einem auf der Straße begegnet.


CAMINO, der dritte Lang-Spielfilm des Spaniers Javier Fesser, wurde auf dem exground-Festival heute vorab als Meisterwerk angekündigt. Solche markigen Worte wecken ja eine gewisse Erwartungshaltung, man nimmt unwillkürlich eine Anti-Position ein. "Meisterwerk", so so… Na dann bring it on, wollen doch mal sehen, ob der Film wirklich so toll ist, wie du mir weismachen willst. Das Licht geht aus. Ich mache es mir in meinem Sitz gemütlich. Opening Credits. 143 Minuten Film. End Credits. Verliebt.

Die hinreißende Nerea Camacho spielt Camino, ein 11-jähriges Mädchen mit langen, braunen Haaren, unglaublich großen, stechend grünen Augen, das zwei Probleme hat: Sie ist verliebt in den gleichaltrigen, etwas abseits von ihrem Einflussbereich lebenden Jesus – und unheilbar krank. Ihre Mutter, eine streng gläubige Opus-Dei-Anhängerin, betrachtet die Krankheit der Tochter glaubenskonform als Geschenk Gottes. Ebenso wie den frühen Kindstod von Caminas Bruder vor einigen Jahren. Camino hat die theologische Doktrin der Mutter scheinbar verinnerlicht und nimmt ihr Leiden zunächst tapfer auf sich, wodurch sie zum Propagandaobjekt des Klerus wird. Das nimmt teilweise groteske Züge an, wenn die Mutter für Caminas Dahinsiechen selbstgeißelnden Dank gen Himmel schickt und noch im Angesicht des Todes ihres Kindes scheinbar in sich ruhend die Hände faltet. Caminas Vater ist weltlicher verankert und kann das Mitleid mit seiner Tochter nicht in eine pervertiert-rationalisierte Doktrin kanalisieren – seine Emotionen gehen ihn unmittelbar an. Er ist leider auch der schwache Part des Elternpaares, so dass sein verständnisvoller, unmittelbarer Umgang mit Camina und ihrer Krankheit erst spät zum Tragen kommt.

Javier Fessers Film ist zunächst ein Tauziehen von weltlicher Liebe und gesunder Ich-Bezogenheit einerseits und Unterwerfung unter ein Glaubenssystem/Selbstaufgabe andererseits, wobei die Sympathien deutlich bei der ersten Partei liegen. Aber das ist nur die Oberfläche von CAMINO. Der wiederholt aufgegriffene fragile Blick des Kindes in einen monströs und unbegreiflich gewordenen Erwachsenenkosmos erinnert an Victor Erices DER GEIST DES BIENENSTOCKS und mit fortschreitender Krankheit brechen Traumsequenzen die Realität des jungen Mädchens ein, die im Gegensatz zu vergleichbaren Stellen in Guillermo del Torros PANS LABYRINTH sehr hell und harmlos, fast kitschig gehalten sind. Aber der Kitsch ist nicht Kitsch um seiner selbst Willen, sondern hat Methode. Das idealisierte Märchenreich stellt die harmlose Kehrseite von religiösen Mythen dar, die ähnliche Erlösungsversprechen mit vergleichbaren narrativen Mustern transportieren. Zunächst muss das Leid ertragen werden, bevor die gute Fee (in Caminos Fall ein weißhaariger Mann in grünem Anzug, namentlich Mr. Meebles) bzw. Gott eingreift und alles zum Guten wendet. Im Märchen zu Lebzeiten der Protagonisten, in der Religion erst danach. Das ikonische Disney-Schloss spielt in Caminos Träumen ebenso eine Rolle wie die Aschenputtel-Geschichte, zu der sich in CAMINO immer wieder Schnittstellen auftun.

Es geht um narrative, sinnstiftende Muster. Für die Mutter ist es ihr sklavischer Glaube an religiöse Autoritäten, der an realitätsverdrängenden Fanatismus grenzt. Für Camino und ihren Vater ist es die Liebe wie im Märchen. An dieser Stelle räumt Fesser ordentlich auf mit masochistisch anmutenden religiösen Dogmen, die den Menschen im Hier und Jetzt vollkommen entwerten und seine Existenzberechtigung vollständig ins Jenseits verschieben wollen. Was für Fesser zählt, ist das aktuell empfundene, lebendige Gefühl der Liebe, die in CAMINO in ihre ureigenste Form der Liebesgeschichte gegossen wird, der Kommunikation des Liebesgefühls innerhalb einer fiktionalen Form. Das kann ein Märchen sein, ein Liebesbrief oder – ein Film. In der erzählenden Wiederholung des einmal Erlebten wird das Gefühl der Liebe aktualisiert, variiert und in Erinnerung gerufen. Und wenn das gut gelingt, entsteht eine Geschichte, in die man sich wiederum selbst verlieben kann.

CAMINO blendet den metaphysischen Bereich aber nicht vollständig aus, zieht sich nicht vollständig ins Säkulare zurück. Das Finale fügt den emotional-pathetischen und symbolischen Ebenen eine weitere hinzu, in der das Konzept des Glaubens und des Gottvertrauens jenseits aller narrativen Logik bejaht wird. In der Aufhebung von Raum, Zeit und Ratio wird der Film endgültig zum Märchen. Der Kitsch-Einspruch kommt aber wieder zu früh, denn die Künstlichkeit bleibt in der visuellen Ästhetik stets mitreflektiert. Die letzte Sequenz zeigt einen Film im Film, der auf eine früheren Moment verweist, von Caminos Vater mit seiner Super 8 Kamera aufgenommen, u.a. an Caminos Krankenbett. Die Kamera schwenkt umher, in die Ecke des Raumes, wo sich laut Camino soeben Gott auf einen Sessel niedergelassen hat. Die Kamera kommt an der angekündigten Stelle an. Und wer dann ganz genau hinschaut, kann dort in der Ecke, auf dem Super 8 Film, tatsächlich Gott in seiner ursprünglichen Form entdecken. In der heiligen Dreifaltigkeit von Drehbuchautor, Regisseur und Cutter.

- Daniel Bund