FILMZ 09: KEINE ANGST mit einnehmenden Jungschauspielerinnen
Während Mario Adorf im Cinestar 7 anlässlich „seiner“ Rückblende Gast von AM TAG ALS DER REGEN KAM war, gab es den ganz jungen Nachwuchs gleich nebenan. KEINE ANGST war da zu sehen, ein Sozialdrama nicht aus, sondern über die – gesellschaftlich – unterste Schublade. Michelle Barthel spielt mit großen Augen und sympathischer Nuschelstimme die 14-jährige Becky, die für ihre drei kleinen Geschwister die Mama geben muss, weil die echt Mutter (Dagmar Leesch) dank Alkohol und Haltlosigkeit das nicht mehr auf die Reihe bekommt. Beckys beste Freundin Melanie (Carolyn Genzkow) wohnt im selben Kölner Sozialfallhochhaus, ist blond, dünn, trägt auffallende Klamotten und zu viel Lidschatten, weiß auch besser über Jungs und so Bescheid. Melanie ist die Wilde, Becky die Brave, mit Verantwortung, die den netten Bürgersohn Bente (Max Hegewald) kennenlernt und sich verliebt. Derweil Melanie, en passant und ganz natürlich, über ihre Freunde den vorgezeichnete Weg geht.
Ansonsten bietet KEINE ANGST das volle Programm zwischen verkommenen Jungs, die Bente abziehen und verhauen, dem Sozialamt, das die Familie auseinander zu reißen droht, Lehrer, die sich nicht durchsetzen können, nichtexistenten Zukunftschancen, ein bißl Gangbang und überhaupt sexuelle (Selbst-) Ausbeutung bis hin zur Schändung durch Mamas neuen Freund Thomas (mal wieder und gerade schmierig groß: Frank Giering). Das kommt jedoch in KEINE ANGST erstaunlich unbemüht und mit vielen treffsicheren Momenten daher, besonders, wenn es um das schwache Selbstwertgefühl der Frauen geht, ihre Großspurigkeit und der unstete Blick.
Man dürfe auch lachen, erlaubte Michelle Barthel, die mit Carolyn Genzkow allein und unheimlich einnehmend KEINE ANGST ohne ihre in Kindertragik erfahrene Regisseurin Aelrun Goette (DIE KINDER SIND TOT, UNTER DEM EIS) vertraten. Und tatsächlich hatte der Verfasser dieser Zeilen das eine oder andere Mal die Befürchtung, gleich gerügt zu werden, als er mutterseelenallein im Kino lachte, an ganz unpassenden Stellen, weil KEINE ANGST bei und gerade in aller sozialen Härte Augenblicke des trockenen bis finsteren Humors bot – oder besser: anbot. Die besten davon sind jene im Film, die einfach da sind, in den vielschichtigen Figuren angelegt sind, in ihrer Alltagsschnodderigkeit oder den Momenten des Lebens, sogar in den desolaten: jene, in denen KEINE ANGST es dem Zuschauer überlässt, wie er sich zu dem Geschehen auf der Leinwand positionieren mag. Entsprechend verkauft Goette keine ihrer Figuren, sogar Thomas ist einfach da, eine Facette der Tristesse, wenn auch für einen geringen Preis der Distanz. Doch natürlich ist da die junge Liebesgeschichte, eine dankbare und dankenswerte, die ganz einfach und klein ein wenig Magie, Poesie, Hoffnung und Wärme bringt.
Die beiden jungen lebendigen Schauspielerinnen nahmen nach der Vorführung für sich und den Film ein. Barthel, beim Dreh 15, jetzt ein Jahr älter, und die 17-jährige Genzkow wären dabei immer noch als 14-Jährige durchgegangen. Sie berichteten über Goettes Einfühlungsvermögen und Führungskompetenz angesichts die Rollen, die an die Grenzen gehen lassen (und dabei nie ausgeschlachtet werden), sprachen frei über die Zukunftspläne, für den Fall, dass es nicht bei der Schauspielerei bleiben solle: Journalismus studieren, im Kulturbereich arbeiten. Es sei ihnen aus Eigen- und Mit-Erfahrung geraten: Tut es nicht!
Ihre Pläne, eine eigene Partei („Die Glücklichen“) zu gründen und nach dem Überleben diverser Ehemänner gemeinsam in ein Strandhaus zu ziehen, klangen da viel vernünftiger und zukunftssicherer.
PS: Wer den Fernsehfilm KEINE ANGST nicht im Kino zu sehen bekommt (morgen läuft er nochmal), kann ihn am 10.03.2010 um 20.15 Uhr in der ARD sehen.
Bernd Zywietz