Berlinale-Retro 2025: „Nelken in Aspik“ von Günter Reisch

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen

 

„Nelken in Aspik“

DDR 1976, Regie: Günter Reisch, mit Armin Mueller-Stahl, Helga Sasse, Erik S. Klein, Helga Göring, Herbert Köfer


Man fasst es nicht: Eine Satire im Defa-Film, und dann eine solche! Ein Werbetyp, genannt „Der große Schweiger“, muss wegen ausgefallener Zähne, und um sein Lispeln zu verbergen, die Klappe halten, und wird vom System immer weiter nach oben geschoben, weil hinter seinem Schweigen Weisheit vermutet wird… Schon die Handlung ist spöttisch und geht die Unzulänglichkeiten eines Systems an, in dem nach Plänen und nach Mustern gearbeitet wird, wobei die Essenz und die Praktikabilität auf der Strecke bleiben. Aber dann noch die Machart! Die nämlich nicht bräsiges Moralisieren enthält (wie es Satire ja manchmal tut), oder oberflächlichen Witz (wie leider auch), sondern die sich in ausgesprochenem Nonsens ergeht. Und Nonsens kann ja eine ganz starke Waffe sein, weil er den Sinn selbst hinterfragt…

Der Vorspann ist als Sammelsurium der Werbemittel gestalten, Plakate, Aushänge, was du willst; dazu singt der Filmkomponist an seinem Klavier höchstpersönlich: „Wenn ich schon ins Kino geh, und dann noch einen Film von der Defa seh … Dann muss ich, meine Herrschaften, immer den langen Vorspann verkraften.“ Selbstironie setzt den Ton des Unernstes, der den Film durchzieht, und der zugleich soweit ernst ist, als er die Gesellschaft, in der er spielt und für die er gezeigt wird, ernstmeint.

Wobei der Unernst in Unsinn, mitunter in Klamauk gerät – Klamauk als die niederere Schwester der Albernheit, für die Partei zu ergreifen ich diese Gelegenheit nicht versäumen möchte: Das Alberne sollte nicht als minderwertig, sondern als freiheitlich begriffen werden. Und „Nelken in Aspik“ lässt sich keine Butter vom Brot nehmen: „Werbung für den Wartburg ist reiner Hohn, willst du einen kaufen, kriegt ihn erst dein Sohn!“

Der übergeordnete Beamte sucht für die Kaderbeförderung einen fähigen Mann und stößt auf Wolfgang Schmidt, den Armin Mueller-Stahl mit blondem Haar und unglaublicher Energie spielt, eine Hyperaktivität, die sich in seinem übersprudelnden Mundwerk ausdrückt. Um auf den Punkt zu kommen, muss man eben viel reden, um ihn zu treffen, und außerdem kann er außer Quasseln eigentlich nichts. Er muss alles dreimal sagen, erklärt eine Kollegin dem Kaderschmied. Dreimal? Dreimal. Dreimal!!! (Und wieder ein Gag.) Schmidt ist Grafiker im Haus der Werbung, der die DDR-Produkte an die Konsumenten wie auch für den Außenhandel schmackhaft machen soll. Und ist als solcher ist er, naja, sagen wir: zum Beispiel abgelenkt durch vorbeugenden Brandschutz, den er gleich demonstriert, indem er einen Böller an seinem Gesicht explodieren lässt, aus Tollpatschigkeit.

Nun hat der Herr Huster von Obendrüber drei Wünsche an seinen Kandidaten: klarer Blick, klare Linie und fester Händedruck. Letzteren übt er selbst ausgiebig aus, so stark, dass Schmidt die Zähne zusammenbeißen muss und einen davon verliert. Das Quasseln wird fortan von Lispeln begleitet, zumal er ja als Hobby Stadionsprecher ist, und dies nun ist eine Sequenz, die direkt zu Monty Pythons „Leben des Brian“ führen könnte, wenn dieser Gedanke nicht so absurd wäre: Die Spieler mit all ihren S-Lauten in den Namen – diessse Ssszene issst sssuper! Und es führt zu einem peinlichen Torwartfehler, der daraufhin Schmidt jagt – und sich in der nächsten Szene als Zahnarzt entpuppt, der ihm gleichmal noch’n Zahn zieht.

Dunkle Lücken mitten im Gesicht – ein Bart muss her, und mit dem Kamm probiert er mehrere vor dem Spiegel aus, unter anderem einen hitlerischen… Weil Gag Gag ist, und Hitler in der DDR eben doch aus dem Verdrängten hervorlugt.

Ärztlich wird Schweigen verordnet, das hält den Film nicht davon ab, Schmidt auf dem Weg nach oben auch nach San Francisco zur Computermesse zu schicken. Mit einer unglaublichen Sequenz am Flughafen, der eine einzige Dauerbaustelle ist, wo die Passagiere durch Gruben und Dreck in eine Empfangshalle kommen, wo nichts funktioniert, von der Anzeigetafel über die Kofferwaage – die durch händische Schätzung ersetzt wird – bis zum Drehkreuz, das blockiert. Flughafenwitze! In den 70ern! In der DDR! Als Tempelhof um eine neue Passagierhalle erweitert wurde, der Flughafen, der heute als BER noch immer der Witz für staatlich-wirtschaftliche Unfähigkeit par excellence ist…!

Dass das Gepäck vertauscht wird, Schmidt auf der Elektronikmesse hunderttausende Sandmännchen und Pittiplatsche an den US-Millionär bringt, während ein Puppenspieler auf der Spielzeugmesse in Tokio die DDR-Computer als neuen Trend für die Jugend verkauft, weil sie so lustig aussehen, diese Satire-Pointe wird übertroffen durch eine Autofahrt im bunten Werbe-Auto, in der Schmidt den Kollegen amerikanische Zigaretten ausgibt, die heißen Hasch-Lulle, und fortan fahren sie völlig bekifft durch die Straßen…

Man muss sich das vorstellen: Der Film wurde zum 30. Jahrestag der Defa gedreht, ist also offizielles Staatserzeugnis, und gibt diese Ehre zurück, mit einer Einblendung am Anfang: Ewig lebe der 30. Jahrestag der Defa! Einen solchen Quatsch kann man sich nur ausdenken, wenn man sicher ist, dass eine komplette Ausgelassenheit, eine totale Freiheit des Albernen gewährt wird. Und das im Osten, in einer Diktatur!

Man stelle sich vor, was in jener Zeit im Westen an „Satiren“ herauskamen: klar, im Fernsehen Ekel Alfred und für den schlüpfrigen Unsinn „Klimbim“; im Kino aber waren das ein paar Jahre zuvor die Paukerfilme und die Willy Winzig-Klamotten mit Heinz Erhardt, denen man mit viel Wohlwollen in ihrer Witzischkeit ein bisschen Kritik am System Schule oder Behörde nachsagen könnte. Danach kamen Didi Hallervorden und Otto, Quatsch auf jeden Fall und auch ein bisschen satirisch – aber vor allem Komikerkomödien, in denen sich der Protagonist mit all seinen Running Gags und Manierismen in den Vordergrund spielte. In „Nelken in Aspik“ spielt der gestandene Mueller-Stahl die Hauptrolle, und eben nicht als Mueller-Stahl, sondern in seiner Rolle aufgehend. Und damit umso komischer.

In Westdeutschland wäre dieser Film am ehesten mit denen der Gruppe Arnold Hau zu vergleichen, Untergrund-Nonsens, der jedenfalls nicht am allgemeinen Kinogeschehen teilgenommen hat – und im Übergang von Pardon- zu Titanic-Redaktion stand. Wes eulenspiegelischen Geistes Kind „Nelken in Aspik“ ist, zeigt eine Talkshow-Szene (in der der Herr Schmidt natürlich schweigt), mit einer Teilnehmerin von der Filmfunzel im Eulenverlag.

 

Harald Mühlbeyer

 

Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:

 

„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen

„Deadlock“ von Roland Klick

„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen

„Fleisch“ von Rainer Erler

„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome

„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky

„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer

„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb

„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz

„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt

„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler

„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet

„Rocker“ von Klaus Lemke

„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel