Berlinale-Retro 2025: „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel
„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen…
„Die Zärtlichkeit der Wölfe“
BRD 1973, Regie: Ulli Lommel, mit Kurt Raab, Jeff Roden, Margit Carstensen, Wolfgang Schenck, Rainer Werner Fassbinder, Tana Schanzara, Brigitte Mira
Was ist ein Genrefilm? Da stellen wir uns ganz dumm und sagen so: Bei einem Genrefilm weiß das Publikum, was es zu erwarten hat, und es hofft, dass es mehr und anderes bekommt, als es erwartet hat. Und der Genrefilm bietet, was das Publikum erwartet, und das wenn möglich anders und zumindest ansatzweise neu. Ist nun „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ tatsächlich ein Genrefilm? Nuja. Wenn man „Serienkillerfilm“ hört, dann erwartet man sicherlich etwas anderes. Dieser Film: zuwenig Spannung, keine Plotraffinesse, nichts Thrillerhaftes oder wenigstens Psychohaftes. Man könnte auch sagen: Es ist ein Historienfilm, immerhin die Filmbiografie des berüchtigten Fritz Haarmann. Aber der Film wurde aus den 20ern in die späten 40er versetzt, von einer Nachkriegszeit in die nächste, spielt in künstlich erscheinenden Kulissen, und eigentlich ist ihm die Ära, in der er spielt, recht egal. Oder gar ein Vampirfilm, nur in real und ohne fantastische Elemente, immerhin reißt der Haarmann des Films seinen Opfer gerne mal mit den Zähnen die Halsschlagader auf und saugt ihr Blut… Am ehesten käme man mit dem Genre „Rainer Werner Fassbinder-Film“ hin. Zwar ist er von Ulli Lommel, aber es sind eine Menge aus der RWF-Crew mit dabei, nicht zuletzt der Meister selbst in einer Schwarzmarktlerrolle sowie hinter der Kamera als Produktionsleiter; der Film hat eine typische Fassbinder-Künstlichkeit, beispielsweise darin, wie die Darstellerinnen und Darsteller agieren, oder nicht agieren, wie sie ihre Sätze sagen, statt wirklich zu sprechen.
Wie dem auch sei: wild, schräg, blutig ist der Film, und vor allem ist er ein Fest für Kurt Raab, der Ausstattung gemacht hat, Drehbuch und natürlich Hauptdarsteller, er trägt den Film auf seinen Schultern. Fritz Haarmann hat Jungens gekillt, 1924 wurde er zum Tode verurteilt, er war Vorbild für die Peter Lorre-Figur in Fritz Langs „M“ von 1931. Am Anfang von „Die Zärtlichkeit der Wölfe“, hinterm Vorspann, sehen wir einen Schatten eine Ziegelmauer entlanglaufen, direkter Verweis auf Langs Meisterthriller. Am Ende wird ein Ball wegrollen, Kurt Raab hebt ihn auf, bringt ihn einem Mädchen… Aber nicht dieses wird er killen, nein: Er sagt ihr einen schönen Gruß vom Bruder, den hat er auf dem Jahrmarkt aufgelesen. Raab als Haarmann ist böse, ein richtig fieser Typ, er scharwenzelt durch die Notzeit mit Schwarzmarktgeschäften, gibt sich als arbeitsloser Bettler aus, der für den lieben Herrn Vater Kleidung erfragt, oder als Pfarrer, der für die Caritas Spenden einsammelt. Die verhökert er bei einem französischen Besatzungssoldaten. Der Wirtin gegenüber bringt er immer wieder Fleisch, ist das Kannibalismus? Denn immer wieder nachts hören die Nachbarn, wie er in seiner Dachkammer sägt und schabt und schleift, dann gibt’s wieder Fleisch am nächsten Tag – das ist, wenn er wieder jemanden umgebracht hat.Bis die Tat tatsächlich gezeigt wird, dauert es eine ganze Weile, wir sehen ihm erstmal bei seinen Gaunereien zu; er ist auch Spitzel der Polizei, führt am Bahnhof willkürlich Kontrollen durch, genießt seine Macht, und sondert sich so seine Opfer aus.
Raab, feist, mit Glatze, mit bösem Mund, den er immer wieder schief verzieht, auch wenn er lacht: Das ist so’n richtiges Monster, aber echt, menschlich, einer, der sich durchsetzt in einer Zeit, wo viele nichts haben. Seine Schiebereien sind dabei gleichgesetzt mit seinen Mordtaten, die einen, um sich geschickt durchzumogeln, die anderen zur Triebabfuhr, vor allem aber: er tut, was er will, und er fährt gut damit.
Auch wenn er an Grans hängt, einem Zuhälter, den er fast zu lieben scheint. Der von ihm weiß, von seiner Killerexistenz, und der vielleicht noch schlimmer ist, weil er wegschaut, weil es ihm egal ist, solange für ihn was abfällt; er genießt es, Haarmann in der Hand zu haben. Später wendet er sich RWF zu, der einen Schieber von größerem Format darstellt, das ist so ungefähr der Anfang vom Ende von Haarmanns Verbrechenslaufbahn.Genrefilm? Eher nicht. Ein Spiel mit Versatzstücken, aber so, dass nicht wirklich eine Art Vertrag mit dem Publikum erfüllt werden kann, ein Vertrag der gegenseitigen Zusicherung, bestimmte Formen, Formeln anzuwenden, in Varianz. Nee, der Film ist was ganz Eigenes, ein Unikat. Gar nicht so unähnlich zum „Mosquito – Der Schänder“ https://screenshot-online.blogspot.com/2020/02/grindhouse-nachlese-januar-2020.html – oder über ein Jahrzehnt später mit „Henry – Portrait of a Serial Killer“; und mit diesen Filmen vielleicht sein ganz eigenes Genre.
Harald Mühlbeyer
Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:
„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen
„Deadlock“ von Roland Klick
„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen
„Fleisch“ von Rainer Erler
„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome
„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky
„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer
„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb
„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz
„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt
„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch
„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler
„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet
„Rocker“ von Klaus Lemke