Berlinale-Retro 2025: „Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer
„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen…
„Jonathan“
BRD 1970, Regie: Hans W. Geißendörfer, mit Jürgen Jung, Hans-Dieter Jendreyko, Hertha von Walter, Christiane Ratej, Arthur Brauss
Ein Kuriosum von Film: Hans W. Geißendörfers Debüt enthält, laut Vorspann, Zitate aus Bram Stokers „Dracula“; das deutlichste ist der Titel, „Jonathan“, das soll wohl Jonathan Harker sein. Ansonsten nimmt er die Versatzstücke des Vampirfilms, um daraus sein ganz eigenes Stück zu montieren. Das zunächst unfreiwillig komisch daherkommt, wenn eine schwarzgekleidete, moralinsaure Matrone drei schwarzgekleidete Herren dazu anhält, den Thomas und seine Geliebte, diese „Hure“, aus einer Wohnung zu holen. Klopfen, Klingeln, Rufen, dann Türeintreten – und dann die Ermahnung der Matrone: „Macht nicht solchen Lärm!“ Ziemlich quatschig, so ein Dialogsatz – aber schon erleben wir Robert Müllers brillante Kameraarbeit, beim Gang durch den Wohnungsflur Schwenks links, Schwenks rechts, und immer wieder Blicke aus Absurdes – der eine (Arthur Brauss) findet ein Stück Kuchen, der andere einen toten Hasen in der Küche, der dritte pisst ins Klo. Dann Thomas und seine Geliebte, auf dem Bett gegenübersitzend, sich mit den Augen anstarrend – und die Matrone, und Thomas weicht zurück, und stürzt sich aus dem Fenster, und das Mädchen wird ins Herrenhaus abgeführt, und sie flieht, und die Hunde zerfleischen sie, und ein Mann flieht, und der Schlossherr erschießt ihn kaltblütig. Menschenjagd, Herrschaft, Unterdrückung.
Geißendörfer wird 15 Jahre später mit seiner „Lindenstraße“ darangehen, wöchentlich die deutsche Gesellschaft abzubilden. In „Jonathan“ blickt er ins autoritäre 19. Jahrhundert, und zeigt natürlich auch seine Gegenwart: Der Vampirismus hält die Bevölkerung in Angst und Schrecken, ein kleiner Untergrund-Widerstand hat sich formiert, der Professor – eine van Helsing-Figur – hat die Sache erforscht und weiß: Demnächst wird auf einem Schloss am Meer ein großes Fest der Vampire stattfinden, dort sind auch viele Gefangene inhaftiert, wenn man die befreit, dann sind genug Menschen da, die Vampire zu vernichten.
Es ist also so eine Art protokommunistisches Revolutionsmanifest, das Geißendörfer formuliert, eine revolutionäre Avantgarde, der die Massen folgen werden beim großen Aufstand gegen die herrschenden Blutsauger; die Widerstandsgruppe hauptsächlich junge Männer, quasi Studenten, quasi 68er…
Allein: Dieser deutliche Subtext vernebelt sich mehr und mehr in diesem Film, der vor allem Jonathans Reise begleitet, der als Kundschafter vorausgeschickt wird, um einen Weg ins Schloss, die Anzahl der Feinde, die Lage der Gefangenen herauszufinden. Wie er den nachrückenden Kämpfern diese Informationen zukommen lassen soll, lässt der Film außen vor, darauf kommt es nicht an. Vielmehr auf die Schrecknisse des Weges, wo die Kutsche überfallen wird, der Kutscher erstochen, die Pferde getötet, die Vampirbekämpfungsutensilien einem Wahnsinnigen überlassen werden, der Kruzifixe kopfüber aufhängt und sowas wie den Dracula-Jünger Renfield darstellen soll. Eine junge Frau in seiner Hütte lässt sich kochendes Wasser übers Bein laufen (sichtlich: Trockeneisdampf), dann läuft sie, um Jonathan zu warnen – und eine weitere Eigenart des Filmes bekommt seinen prominentesten Auftritt: Die Matrone nämlich hat eine Schar Ballettmädchen um sich, die gekonnt synchron, perfekt dressiert ihre Posen ausführen, zuerst im Herrenhaus auf der Treppe sitzend, dann auf dem Friedhof, schließlich auf dem Weg des Mädchens, die durch den Wald läuft, Jonathan suchend… Geißendörfer will Kunst, das ist deutlich, will nicht einfach im Genre suhlen, wie es ja so viele Vampirfilme tun. Er setzt auch wuchtige Musik ein, der Soundtrack ist phänomenal, Klassik (Grieg zum Beispiel) wird zu Progressive, überwältigend auf den Zuschauer losgelassen. Lässt die Kamera sich großartig bewegen, sie fährt durch ein Dorf, dessen Bewohner sich in den Häusern in Sicherheit bringen, durch Scheunen, an totem Vieh vorbei, eine Frau ist blutig und schreiend aufs Rad geflochten. Oder durchs Vampirschloss, entlang all der Bösewichter, rot gekleidet, die seltsame Handbewegungen, seltsame Rituale ausführen über den Körpern ihrer gefangenen Opfer, bevor sie sie aussaugen. Und immer wieder fließen ganz seltsam entrückte Szenen ein, die überlebenden Bauern etwa gedrängt in einem Zimmer, sie gaffen zu einer Seite, dorthin, wo sich ein junges Paar dem Liebesakt hingibt, und auf der Tonspur ein rhythmisches, geiles Schnaufen.Aber dann auch immer wieder sowas wie Laientheater, weil die Darsteller halt doch nicht so sind, und weil Geißendörfer (noch) nicht die Erfahrung hat, sie zu führen. Dadurch entsteht ein ganz unikater Vampirfilm; wer hätte gedacht, dass Meerwasser Vampire zerstören kann?
Harald Mühlbeyer
Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:
„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen
„Deadlock“ von Roland Klick
„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen
„Fleisch“ von Rainer Erler
„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome
„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky
„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb
„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz
„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt
„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch
„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler
„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet
„Rocker“ von Klaus Lemke
„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel