Berlinale-Retro 2025: „Fremde Stadt“ von Rudolf Thome

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen

 

„Fremde Stadt“

BRD 1972, Regie: Rudolf Thome, mit Roger Fritz, Karin Thome, Peter Moland, Christian Friedel, Werner Umberg, Eva Kinsky


Völlige Entschleunigung, völlige Entspannung. Und das bei einem Kriminalthriller.

Dass es sich um einen solchen handelt, das merkt man erst nach einer halben Stunde. Dann nämlich sieht man den Inhalt des Koffers von Philipp: Geldnoten, bündelweise 1000-Mark-Scheine. Und eine Pistole. Philipp Kramer heißt er jetzt, früher war er Franz Lerchenberg. Wir sind ihm bisher gefolgt, wie er in der Stadt ankam, in der er sich nicht auskennt, mit dem Taxifahrer ein billiges Hotel gesucht hat, wie er auf der Straße einer Frau nachgesehen, im Kaufhaus mit der Verkäuferin geflirtet hat.

Nun hat er sie gefunden, Sybille Lerchenberg und ihren (und seinen) Sohn Michael – der Zimmerkellner musste eine Bekannte in Heidelberg anrufen, in Philipps Namen nach ihrer Adresse fragen, sich dort von einem verschlurften Nachhilfelehrer bequatschen lassen, um dann Michael vor dessen Schule abzupassen. Und ohne großes Aufhebens in Sybilles Auto zu steigen. Guten Tag, Franz, sagt sie, völlig unbewegt. Und diese Haltung des Unbeteiligten, die hält der Film durch, von A bis Z, in seinen Figuren und in seiner Erzählhaltung. Unbeteiligt, unbewegt – das bedeutet nicht gleichgültig, es bedeutet eine Haltung gegenüber der Welt, dass Ereignisse, Zufälle, kurz: das Leben als gegeben hingenommen wird. Nicht darüber aufregen; mitgehen.

Der Film selbst zelebriert das, und das ist die große Kunst von Rudolf Thome und seinem Autor Max Zihlmann, lakonische Dialoge, minimale Handlungsschritte, große Pläne und große Konsequenzen, aber ein Verhalten der Normalität. Irgendwann schneiden wir zu einem kleinen Männchen mit Hut über der Halbglatze: Fischer, Kriminalbeamter, er ist dem Bankräuber auf der Spur, der in Düsseldorf zwei Millionen eingesackt hat. Und folgt über einen registrierten Geldschein dieser Spur, immer näher an Philipp Kramer ran. Der versucht einstweilen, sich seiner geschiedenen Frau Sybille anzunähern, einmal, weil sie (s)eine Frau ist, und dann noch, weil sie – ein Glück – als Psychotherapeutin ein Bankkonto hat, über das man das viele Geld geschickt waschen kann. Ihr Untermieter Schrott züchtet Fische, Zebrafische, Buntbarsche, sogar Piranhas, eine therapeutische Maßnahme der Frau Doktor. Und ohne dass sie es wissen, sind Millie und Ossi nach München gekommen, auch sie auf der Spur von Kramer und dem Geld.

Es sind wunderbar pointierte Dialoge, die aber dennoch nie als Knaller-Oneliner-Pointe taugen (so funktioniert Max Zihlmann nicht); „Wir sind nur deshalb nicht tot, weil ich den halben Weg gebetet habe“, klagt Millie nach langer Fahrt durch die Nacht nach München. Oder Schrott, wenn’s schon in Richtung Showdown kommt: „Wenn Sie in Schwierigkeiten stecken, man könnte einem Unmenschen meine Piranhas in den Swimmingpool tun. Naja. Wahrscheinlich gibt es keinen Pool.“ Nachdem Millie den siebenjährigen Michael mal für einen Zeitlang freundlich entführt hat – entführt aber dennoch! –, bringt sie ihn zur Mutter zurück, und es ist wie die Übergabe nach dem Babysitting.

Die drei Handlungsstränge um die drei Parteien, die hinter dem Geld her sind, fügen sich anstandslos zusammen, in einer klaren Konsequenz; weil ihnen diese Konsequenz des Weltenlaufes klar ist, verhalten sich vielleicht die Figuren so: das Schicksal annehmen, schon bevor es zugeschlagen hat. Und Risikos eingehen, weil das Ziel – Geld ohne Anstrengung, und damit ein Leben außerhalb – es wert ist.

In der S-Bahn-Baustelle des Stachus dann stehen sie sich gegenüber, alle haben zu diesem Zeitpunkt hierher finden müssen. Zwei Paare, ein Kind, der Polizist kommt über die Gleise daher – Pistolen werden gezogen, Sybille mit ihrem Michael springt dazwischen mit einem glorreichen Vorschlag: Warum teilen wir nicht? Und es ist klar, dass der Film, in dem sich Verbrechen lohnt und der sich auf die Seite derer schlägt, die mit ihrem leisen, freundlichen Hedonismus so grundsympathisch erscheinen, im Grunde zutiefst humanistisch, und das heißt: gegen das zwanghafte System von Arbeit gegen Lohn steht. „Ich bin mit meinem Anteil zufrieden. Sie sollten es auch sein. Sie sind nicht allein auf der Welt.“

 

Harald Mühlbeyer

 

Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:

 

„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen

„Deadlock“ von Roland Klick

„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen

„Fleisch“ von Rainer Erler

„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky

„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer

„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb

„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz

„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt

„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch

„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler

„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet

„Rocker“ von Klaus Lemke

„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel