Berlinale-Retro 2025: „Fleisch“ von Rainer Erler

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen

 

„Fleisch“

BRD 1979, Regie: Rainer Erler, mit Jutta Speidel, Herbert Herrmann, Wolf Roth, Charlotte Kerr, Christoph Lindert


Ein Thriller, konsequent durchgezogen, und ein Roadmovie durch die USA: Jutta Speidel als Monica und Herbert Herrmann als Mike sind frisch getrautes Ehepaar auf Hochzeitsreise. Aus Geldmangel steigen sie im 7,50 Dollar-Motel ab, denn Monica braucht unbedingt ein Bett. Nein, müde ist sie nicht… Sie werden dann gejagt von einem Krankenwagen. Renn, Mike, renn!, schreit Monica, der aber bleibt erstarrt, kriegt eine Betäubungsspritze, wird verschleppt…

Erler kennt die Regeln des Genres, er wendet sie an, und er erweitert sie durch Details im Hintergrund – die deutsch-amerikanische Ehe, Monica, die Deutsche, im fremden Land, der durchorganisierte Ablauf des Truckers Bill (Wolf Roth), der sich keine Pause, etwa zum Schlafen, leisten kann, und zumal keinen Ärger mit der Polizei, nachdem er die völlig aufgelöste Monica aufgelesen hat…

Von Anfang an weiß Erler genau, was er warum will, von der fröhlichen Hochzeit in Princeton über die ausgedehnte, zärtliche Liebesszene im Motel in Las Cruces bis zum geschickten Einsatz des Trucker-Netzwerkes von Bill, um später dann diesen ominösen Krankenwagen zu beschatten. Und „Fleisch“ ist knallhart, ein Beispiel für die deutsche Anlehnung ans amerikanische Paranoia-Genre, denn wer wird Monica glauben, wo doch auch die Wirtin schlicht alles leugnet, und ein Krankenwagen ja wohl kaum – und warum auch – und wohin?

Das ist geschickt aufgebaut, und durchweg spannend; lediglich in der Rückschau von heute fallen die etwas läppischen Inszenierungen gegen Ende auf, eine Verfolgungsjagd, die hilfsweise in Zeitraffer gehalten ist, oder das hanebüchene Finale, mit einem Polizisten in New York, der zwar die Verschwörungserfahrungen von Monica glaubt, aber eben als einziger, weshalb sie und eine Ärztin, die einzigen Zeugen, in die Klinik geschickt werden, um Beweise zu sammeln. Also: Polizeiarbeit ausüben, weil die Polizei nicht will, drehbuchtechnisch nur damit begründet, dass damit die Handlung auf Hochspannung bleibt…

Es geht um eine hocheffiziente Organisation der Organhändler, eine mafiaähnliche Struktur, in der jeder schweigen muss, und somit jeder was verdient. Menschenfallen in den USA, Tötung, Organentnahm und Verkauf an die Reichen, die sich diese Organe leisten können wie Ersatzteile für ihren Rolls Royce. Superspannend – und ein nachhallendes Thema, das sich in unzähligen Urban Legends abgesetzt hat, von der Organmafia, die einen in dunklen Ecken überfällt und ausweitet…

 

Harald Mühlbeyer

 

Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:

 

„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen

„Deadlock“ von Roland Klick

„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen

„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome

„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky

„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer

„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb

„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz

„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt

„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch

„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler

„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet

„Rocker“ von Klaus Lemke

„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel

 

Berlinale-Retro 2025: „Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen

 

„Nicht schummeln, Liebling!“

DDR 1973, Regie: Joachim Hasler, mit Dorit Gäbler, Karel Fiala, Chris Doerk, Frank Schöbel


„Nicht schummeln, Liebling!“ sei, so erklärt die Retro-Programmkoordinatorin Annika Haupts vor der Vorführung, „das beste Musical der diesjährigen Berlinale, bei weitem!“

Diese Aussage stimmt bedenklich, weil sie damit die eigenen Retrofilme „Orpheus in der Unterwelt“ oder „Hut ab, wenn du küsst!“ runtermacht, und auch so etwas wie den Teddy-Award-Gewinner „Lesbian Space Princess“, und überhaupt die Frage aufwirft, ob sie tatsächlich alle Filme der Berlinale gesichtet hat.

Denn „Nicht schummeln, Liebling!“ ist zwar pures Genre, aber eben auch nur Genre, total straight forward, ohne doppelten Boden. Reines Unterhaltungskino für die Massen, die gerne heitere Schlagermusik und fröhliche Tanzeinlagen sieht. Das ist nicht verwerflich, und im Übrigen der Grund, warum es die Kategorie „Genrefilm“ überhaupt gibt. Die Leute wissen, was sie bekommen, bei einem Film mit Chris Doerk und Frank Schöbel, dem Traumpaar des DDR-Schlagers Anfang der 1970er, und zack, der Film liefert.

Ob dieser Anspruch, populär zu sein und zu gefallen, den Film zum „besten Musical“ des Berlinalejahrgangs macht, das mag Geschmackssache sein. Wirklich bedenklich stimmt die Aussage von Haupts, weil der Film so viele Unzulänglichkeiten hat. Und man sich fragt, wie es mit der Retrospektive denn weitergehen mag in der Filmauswahl, wenn nun Rainer Rother in Rente geht. Wie qualitätsvoll wird die Filmauswahl sein, wenn hier explizit das Gefällige allem anderen vorgezogen wird? Man wird sehen, in einem Jahr…

Die Probleme des Films sind vielfältig, das beginnt mit der unzureichenden Figurencharakterisierung, wenn sich die Protagonisten nur deshalb zu Paaren sich formen, weil das Drehbuch es will: Chris Doerk als Schülerin Brigitte und Frank Schöbel als Fußballer Bernd, dazu Dorit Gäber als Dr. Barbara Schwalbe - als Rektorin von Brigitte im wirklichen Leben jünger als sie – und Bürgermeister Karli, der total fußballverrückt ist. Es werden Konflikte heraufbeschworen, die sich dann plötzlich in Liebe auflösen; naja, sowas kennt man auch aus dem BRD-Kino dieser Zeit. Fortschrittlich ist der Film in seinem Frauenbild (auch wenn das Töpfchen-Deckelchen-Prinzip uneingeschränkt gilt), weil Brigitte durchaus mit ihrem Vorleben prahlt, sie will halt auch ihren Spaß haben mit den Jungs, und weil Frau Schwalbe ein Frauen-Fußballteam aufstellt, in einer Zeit, in der der westdeutsche DFB bei dieser Frage eine Horde von Exorzisten sich wünschte, um die Frauen vom Platz wegzuhalten. Nur, dass die Fußballszenen (zwei Stück im ganzen Verlauf) sehr läppisch sind (wiewohl Frank Schöbel, laut Wikipedia, immerhin Hobbyfußballer ist). Zumal beim Frauenspiel ist zu erkennen, dass die Damen, die ja eigentlich Tänzerinnen sind, wenig Ahnung von diesem Sport haben, und mutmaßlich Regisseur Joachim Hasler (der auch die Kamera führte) ebensowenig.

Dazu kommt, dass Gags versemmelt werden; zum Beispiel, dass ein Jugendclub aus dem halbverfallenen Schützenhaus erschaffen werden soll. Deshalb ist es dort dunkel, und im Rathaus auch, weil, so die beiden Elektriker Fritze und Paule (eine Frau), die Gebäude leitungsmäßig zusammenhängen. Eine solch hanebüchene Behauptung wäre gerechtfertigt, wenn sich aus der Situation etwas ergäbe. Aber es wird zwar immer wieder dunkel (dunkel bedeutet: Wir sehen immer noch alles, nur zwei Grad Helligkeit weniger – also auch bildtechnisch eher unterirdisch) – es wird also zwar dunkel, aber im Dunklen passiert dasselbe wie im Hellen, damit ist die ganze Sache verschenkt.

Hochinteressant ist, wie mit diesem Film bestätigt wird, wie sehr sich das Defa-Kino nach Popularität sehnt – indem es sich titelmäßig anlehnt an May Spils‘ „Nicht fummeln, Liebling“ von 1970. Nur, dass dieser Film zwar Komödie, aber vor allem flott und subversiv ist. „Nicht schummeln, Liebling!“ dagegen ist ein Film für alle, die „Friedrichstadtpalast“ und „Ein Kessel Buntes“ mögen, aber mehr halt nicht.

 

Harald Mühlbeyer

 

Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:

 

„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen

„Deadlock“ von Roland Klick

„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen

„Fleisch“ von Rainer Erler

„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome

„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky

„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer

„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb

„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz

„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt

„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch

„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet

„Rocker“ von Klaus Lemke

„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel

 

Berlinale-Retro 2025: „Deadlock“ von Roland Klick

„Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ – so hieß die Retrospektive der Berlinale 2025. Harald Mühlbeyer hat sich alle Filme angesehen

 

„Deadlock“

BRD 1970, Regie: Roland Klick, mit Marquard Bohm, Mario Adorf, Anthony Dawson, Mascha Elm-Rabben


Roland Klick ist einer der großen Regisseure der deutschen Filmgeschichte, ein wahrer Maverick, der sein Ding durchgezogen hat. Und mit seinem Zweitling „Deadlock“ Kultstatus erlangt hat: eine minimalistische Gangsterstory im Italowesternlook; einer der besten deutschen Filme überhaupt. Marquard Bohm als Kid, Mario Adorf als Charles Dump, Anthony Dawson als Sunshine. Dazu ein Koffer voll Geld, eine abgewrackte Minensiedlung, eine junge Frau, geistig zurückgeblieben und Begehrensobjekt für die Männer. Mehr braucht Klick nicht, um seine Story vom Belauern, von brüchigen Allianzen, von Gier und Bosheit zu erzählen – ach doch: natürlich die Musik von Can, die psychedelischen Rock beisteuert, zu den sonnendurchfluteten Bilder der Wüstenei, in der sich die Gewalt abspielt.

Ich bin wieder völlig eingetaucht in diesen Film, der hypnotisch die gleißende Sonne über trockenen Steinen zeigt, der aus ganz wenigen Elementen – drei Männer, ein Geldkoffer, eine Maschinenpistole – eine solch kräftige filmische Dynamik gestalten kann. Marquard Bohm ist völlig kaputt, wenn er am Anfang durchs Sonnenlicht auf die Kamera zuläuft, zur heftigen Can-Gitarrenmusik; Mario Adorf als Charles Dump (was für ein Name!) liest ihn auf, oder besser: seinen Koffer, den Typen namens Kid lässt er liegen. Bringt es aber auch nicht übers Herz, ihn umzubringen, und das ist der Beginn dieses Zwickmühlenspiels. Jeder ist im Visier des anderen… Dump gibt sich hart, hat’s aber nicht drauf. Kid ist dem Tode nahe, weiß sich aber zu helfen. Und Sunshine, der Obergangster, der irgendwann ankommt, der hat alles und alle im Griff.

Klick – Regie, Drehbuch, Produktion – kann mit kleinen Gesten, ohne viele Worte, über Gegenstände, Blicke, Kameraeinstellungen die Positionen der Protagonisten im Machtgefüge darstellen, ein Machtgefüge, das sich immer wieder ändert. Als Zugabe gibt es eine junge Frau, die vielleicht Dumps Tochter, auf jeden Fall seine sexuelle Gespielin ist, und die als zusätzliches – aber sekundäres – Begehrensobjekt ins Spiel kommt. Sie ist geistig zurückgeblieben, weiß aber um ihren Körper und was Männer von ihr wollen. Vermutlich auf die harte Tour gelernt, vermutlich ist sie seelisch von vielen schon zerstört worden.

Aber kaputt sind sie alle, auf ihre je eigene Weise, und dass Klick dies alles im Rahmen eines veritablen Genrefilms ausführt, ist absolut erstaunlich. Gangster, Italowestern, Psychothriller – jedes Mal, wenn ich den Film sehe, tauche ich ein in diese Welt aus Dreck und moralischer Verkommenheit, in der Klick seine Protagonisten eben doch als Menschen zeigt. Wobei „Mensch“ nicht unbedingt ein Kompliment zu sein braucht.

 

Harald Mühlbeyer


Die weiteren Filme der Berlinale-Retrospektive 2025 „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“:

 

„Blutiger Freitag“ von Rolf Olsen

„Einer von uns beiden“ von Wolfgang Petersen

„Fleisch“ von Rainer Erler

„Fremde Stadt“ von Rudolf Thome

„Hut ab, wenn du küsst!“ von Rolf Losansky

„Jonathan“ von Hans W. Geißendörfer

„Lady Dracula“ von Franz Josef Gottlieb

„Mädchen mit Gewalt“ von Roger Fritz

„Männer sind zum Lieben da“ von Eckhart Schmidt

„Nelken in Aspik“ von Günter Reisch

„Nicht schummeln, Liebling!“ von Joachim Hasler

„Orpheus in der Unterwelt“ von Horst Bonnet

„Rocker“ von Klaus Lemke

„Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von Ulli Lommel