Nippon 2010: „Bare Essence of Life“ – Dünger fürs Leben
„Bare Essence of Life“ / „Urutora mirakuru rabu sutôrî“
Japan 2009, Regie: Satoko Yokohama
Nicht zum ersten Mal lässt sich ein Film von Satoko Yokohama bei Nippon Connection sehen. Ihr Debütfilm „Chiemi and Kokkunpatcho“ zog gerade durch das Frankfurter Festival die Aufmerksamkeit eines internationales Publikum auf sich. Mit „Bare Essence of Life“ flimmert nun das lange erwartete Kinodebüt der Regisseurin im Nippon Cinema Wettbewerb.
Ein Wecker, und noch ein Wecker, und noch ein Wecker … sie erinnern den jungen Bauer Yojin an das Vergehen der Zeit, der dann, nach dem Aufwachen, mit einem weißen Tuch bedeckt wie ein freier Vogel, wie ein spielendes Kind durch die Straßen seines Dorfes herumflattert. Denn Yojins Zeit vergeht anders und Evolution ist auch nicht seine Stärke. Selbst die Landarbeit führt er den Anweisungen seines verstorbenen Großvaters über einen Kassettenrecorder folgend durch, ohne dass die Aufnahmen ihm wirklich helfen, denn immer wieder entfalten sich in seiner wundersamem Fantasie neue, ablenkende Gedanken, denen er sofort nachgeht.
Er und seine Oma ziehen mit ihrem Wagen jeden Tag um 14 Uhr los durch das Dorf, um Gemüse zu verkaufen, die Oma am Steuer, Yojin, gewappnet mit einem Megaphon, auf der Ladefläche, so verdienen sie ihr Geld. Zur Belustigung der Zuschauer bezieht Yojin sein ganzes Universum in seine Aktivitäten immer mit ein, so dass ihr Gemüse mal besser ist als der Dorfarzt, oder mal zur Gelegenheit dienen soll, dass alle sich versammeln und Freunde werden.
Etwas zu impulsiv ist der vom japanischen Teenager-Schwarm Ken’ichi Matsuyama mit beeindruckender Leichtigkeit und Präzision gespielte Yojin. James-Dean-like rebelliert er bei jeder Gelegenheit, meistens aber nicht gegen die Polizei wie in „Denn sie wissen nicht was sie tun“, sondern gegen den Pestizidhändler. Dieser mag ihm ohne Geld nichts für die Besserung seines Kohlbeetes geben, damit es „evolviert“ und gutes Gemüse liefert, so wie die hellgrünen Felder die vom Helikopter aus mit Chemikalien bespritzten werden; was den Titel des Films lebendig bebildert.
„Bare Essence of Life“ ist ein großes Beispiel der stark an Bilder angelegten Erzählweise im japanischen Kino. Sehr gekonnt und doch mit ungeheurer Sanftheit mit Bildmetaphern arbeitend, schafft der Film eine romantische Poesie um Yojins Welt. Diese Welt wird bald Änderungen erfahren mit der Ankunft einer Fremden: Eine junge Frau, deren erste Anlaufstelle das Haus der Psychoanalytikerin in Yojins Dorf ist. Die junge Frau trauert, ihr Freund wurde bei einem Autounfall getötet. Noch schlimmer, er war dabei mit einer anderen Frau zusammen. Und dazu noch, als Auftakt in die surreale Welt, die sich dem Zuschauer entfalten wird, ging sein Kopf während des Unfalls verloren. Machicko, die Tokyo und ihre Trauer gegen das kleine Dorf zu tauschen versucht, ist die neue Kindergärtnerin. In der magischen Welt des Dorfes verhalten sich aber die Kinder wie Erwachsene bis hin zum Verschwinden der Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen: Mädchen reden wie alte Läster-Tanten. Yojin liegt natürlich genau dazwischen. Und als Gemüseverkäufer kommt er in Kontakt mit der jungen, von Komiko Asô gespielten Kindergärtnerin, wodurch sich ihm und ihr eine neue Welt aufmacht.
Diese Welt betritt sie zunächst skeptisch, vor allem, weil der aufdringliche Yojin sich auf der Stelle für verliebt erklärt und seine Heiratspläne offenbart. Zunächst bleibt es beim gemeinsamen Nachhauseweg; doch wird die zwischen den beiden aufkeimende Romanze schon bei der ersten Begegnung meisterhaft inszeniert: Während Machiko Yojins Oma beim Rückwärtsfahren hilft, wiederholt dieser ihre Befehle durch sein Megaphon, wie eine Spiegelung, die auf die gegenseitige Hilfe, die sich die beiden auf emotionaler Ebene geben werden, verweist. Sie, die Kindergärtnerin, die selbst traumatisiert ist, wird beginnen, ihn zu begleiten; sie wird, in der Symbolsprache des Films, für ihn Dünger sein, der die Entwicklung fördert, und Pestizid, das die Flausen aus seinem Kopf vertreibt.
Yojin sieht sich als ein Teil der Natur. Seine Arbeit im Gemüsebeet ist ein Kampf mit gleichgestellten Gegnern, ob diese Raupen oder Kohlköpfe sind. So lässt er sich einmal als Spiel zwischen den Kohlköpfen im Gemüsebeet begraben. Er ist ein Beobachter der Welt um sich herum, aber nicht nur das: wie wir alle, interpretiert er sie. Und seine Gedanken lassen ihn auf die Idee kommen, dass Machiko ihn mehr mag, wenn er sich mit Pestiziden duscht, um, wie sie sagt, sich wie alles andere zu entwickeln. Mit diesen Pestizid-Duschen wird Yojin immer apathischer, seine Impulsivität strahlt er immer seltener aus, er wirkt immer ernster, sein Lebensrhythmus verlangsamt sich, bis hin zum transzendentalen Moment des Treffens mit Machikos verstorbenen Exfreund, der wortwörtlich kopflos durch die Landschaft umherirrt und ihm Hilfe bei der Eroberung von Machickos Herz verspricht. Yojin bekommt sogar die Schuhe des Verstorbenen, in denen er herumläuft bis sein Leben komplett verschwindet und sein Herz zu schlagen aufhört.
Doch kurz danach geschieht das Wunder: Yojin ist auferstanden, er ist putzmunter und hat Machikos Herz erobert. Bloß auf Essen empfindet er keinen Appetit mehr. So vergehen mehrere glückliche Tage zwischen den beiden, dem Menschen, dessen Herz nicht mehr schlägt und der doch am Leben ist, und der Frau, die ihre Trauer in Liebe verwandelt hat, bis eines Tages, während eines euphorischen Ausbruchs Yojins bei einem Spaziergang im Wald, er für einen Bär gehalten und von einem Jäger erschossen wird. Seine Todesfeier wird durch die anwesenden Kinder zur sprudelnden Darstellung des Lebens, sein Gehirn vermacht er Machiko, die ihn der Natur wiedergibt.
Eine poesiegeladene Tragikomödie ist Yokohamas Film. Durch die natürliche Abwechslung von Komik und Romantik, aber vor allem durch die metaphorischen Motiven, die überall in den Bildern zu erkennen sind, und nicht zuletzt durch ein exzellentes Schauspiel Ken’ichi Matsuyamas wird „Bare Essence of Life“ ein hervorragendes Beispiel für die Aussagekraft von bewegten Bildern. Der Mensch wurde selten so explizit und zugleich unterhaltsam als Teil der Natur im Film inszeniert.
Ciprian David
„Bare Essence of Life“ / „Urutora mirakuru rabu sutôrî“
Japan 2009
R: Satoko Yokohama
D: Ken'ichi Matsuyama, Kumiko Asô
120 Min.