DVD: „Vital“ – Tsukamoto goes Arthouse!?

„Vital“, Japan 2004. Regie: Shinya Tsukamoto

Der Beginn mutet noch wie ein Experimentalfilm an: hektisch bewegte Kamera, Mehrfachbelichtungen, auf graphische Formen reduzierte, mikroskopische Bilder. Dazu eine (Tsukamoto-typische) Kakophonie synthetischer Klänge zwischen Industrial und zeitgenössischer E-Musik. Während diese langsam abebbt: der Blick auf das Gesicht eines jungen Mannes in Großaufnahme, zunächst auf dem Kopf stehend. Dann – nach einer 180°-Drehung und den anschließenden Schnitten zuerst auf eine besorgt dreinblickende Krankenschwester und dann auf ein noch besorgter erscheinendes älteres Paar – wird schnell klar, dass diese beiden am Krankenbett ihres Sohnes auf dessen Wiedererwachen, seine Rückkehr ins Leben warten. Doch letzteres wird sich als schwerer erweisen, als die beiden – und er selbst – dies vielleicht erhofft hatten. Denn Hiroshi, der Sohn, hat bei dem Zusammenstoß mit einem LKW nicht nur sein Gedächtnis, sondern – wovon er in diesem Moment noch nichts ahnt – auch seine Freundin Ryoko verloren. Ein in seiner formalen Gestalten bergmanesk anmutendes Zwiegespräch der Eltern kurz darauf lässt zudem unaufgearbeitete Schuld erahnen. Und die anschließenden Bilder von dem aus dem Hospital entlassenen Hiroshi in Verbindung mit den verstörenden Klängen auf der Tonspur machen klar, dass hier jemand aus dem Leben, aus der Zeit gefallen ist, seine Umwelt nunmehr mit Befremden und darob geschärften Sinnen wahrnimmt.

Als Hiroshi (Tadanobu Asano, der seine Karriere bereits Anfang der 1990er Jahre in einer Vielzahl großartiger Filme – etwa in Hirokazu Kore-edas „Maboroshi“, Shunji Iwais „Yentown“ und Sogo Ishiis „Labyrinth der Träume“ – begann und auch schon in Naoto Takanekas „Quiet Days of Firemen“ mit Tsukamoto und in „Gemini“ für ihn vor der Kamera gestanden hat – und somit im Grunde eigentlich zu alt für die Rolle ist) sich seiner Leidenschaft für die Medizin wieder bewusst wird, nimmt er ein Medizinstudium auf und wird offenbar trotz seiner Wortkargheit zu einem der besten seines Jahrgangs. Sein Interesse für die Anatomie des menschlichen Körpers nimmt schließlich befremdliche, ja verstörende Züge an, als sich eines Tages herausstellt, dass die Eltern seiner tödlich verunglückten Freundin (Nami Tsukamoto) deren Körper auf ihren eigenen Wunsch hin der örtlichen Medizinfakultät zu Studienzwecken überantwortet haben. Mit jedem weiteren sezierenden Schnitt, jedem weiteren zutage tretenden Detail des aufgebahrten Körpers, das sein Zeichenstift auf Papier festhält, kehren schubweise Erinnerungen zurück. Tranceartige Zustände, in denen er sich mit der Toten wieder vereint glaubt, lassen Hiroshi eine für seine Kommilitonen absonderlich anmutende, innige Beziehung zu dem Körper auf dem Sektionstisch aufbauen. Die Auseinandersetzung mit dessen somatischer Beschaffenheit wird zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, mit wiederaufkeimenden Emotionen, Sterblichkeit und Tod.

Regisseur Shinya Tsukamoto (der erneut u.a. auch für Kamera, Buch und Schnitt verantwortlich zeichnet) bindet in diesem 2004 erschienenen Film die formalen Stilelemente seiner wilden, frühen Cyberpunk-Kultstreifen (etwa seiner orgiastischen „Tetsuo“-Filme) weitaus dezenter und organischer in die Geschichte ein als im Vorgängerfilm „A Snake of June“ (2002). Dort muteten die Reminiszenzen an seine Undergroundjahre noch mitunter wie seltsam disparate, schillernde Fremdkörper an, die virengleich den Wirtskörper des um eine bizarre Dreiecksbeziehung kreisenden Films heimsuchten. Das Exzessive erhält hier nunmehr (rein) narrative Bedeutung, das Ungestüme der von Tsukamoto selbst fotografierten Bilder durch die Rückbindung an die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten ‚dramaturgische Plausibilität‘, wenn diesem (und damit dem Zuschauer) zunehmend das Vermögen abhanden zu kommen scheint, klar zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realität, Erinnerung und Imagination unterscheiden zu können. Oder vielmehr: eine Unterscheidung treffen zu wollen. Und war Tsukamotos Blick auf den menschlichen Körper bis dahin ein mehrfach gebrochener, durch Mutationen, Transformationen, durch das Metall von Waffen und Panzerungen verstellter, abgelenkter, so führt er hier die Linie weiter, die er mit „A Snake of June“ begonnen hat. Doch wenn der Blick dort noch vom erotischen bis perversen Verlangen der Protagonisten geprägt war, ein Blick auf die primär sexuell konnotierte Oberfläche des (lebendigen) entblößten Körpers, so transzendiert er hier diese Begrenzung, dringt in die (leblose) Hülle ein – wenn auch mit für Tsukamoto-Verhältnisse erstaunlicher Dezenz.

Gerade diese Abmilderung, die „narrative Indienststellung“ des Tsukamoto‘schen Formenvokabulars war es, die in manchem Fan der ersten Stunde die Befürchtung aufkeimen ließ, auch der Altmeister des Cyberpunk hätte nun endgültig den Underground in Richtung Arthouse verlassen – so wie hier Tsukamotos Bilder erstmals die Enge der Großstadt hinter sich lassen, in Richtung Natur, ins Offene vorstoßen. Was den Regisseur vielleicht bewogen haben mag, kurze Zeit später mit der düster-klaustrophobischen Low-Budget-Digital-Etüde „Haze“ (2005) zu kontern. 2006 kam dann wiederum der erste Teil seiner durchaus Mainstream-affinen „Nightmare Detective“-Reihe in die Kinos, der ob seiner Drastik und tiefschwarzen Abgründigkeit zumindest mehr zu gefallen wusste als die eher unspektakuläre Geistergeschichte des zweiten Teils – und darin durchaus eine gewisse Nähe zu den düsteren Genrefilmen seines Landsmannes Kiyoshi Kurosawa erkennen ließ. Es bleibt abzuwarten, welchen Weg der Mann mit dem Schlapphut in „The Bullet Man“, dem nunmehr dritten Teil seiner legendären „Tetsuo“-Reihe, eingeschlagen hat.

Tsukamotos „Vital“ ist Teil der neuen „Edition Asien“ von Rapid Eye Movies, die es sich offenbar zum Ziel gesetzt hat, ein möglichst vielfältiges Abbild des asiatischen Filmschaffens der letzten fünfzehn Jahre (die zeitliche Zäsur für diesen Blick zurück bildet „Tokyo Fist“ von 1995, wiederum von Tsukamoto) zu geben, während die im Sommer beginnende Reihe „Nippon Classics“ neben einer Reihe unbestrittener Klassiker wie Suzukis „Tokyo Drifter“ oder Okamotos „Kill“ auch buntschillernde Genreperlen wie Misumis „Hanzo the Razor“ oder Obayashis „Hausu“ bieten wird. Neben dem Hauptfilm (mit wahlweise deutscher Synchronspur oder dem japanischen Originalton mit deutschen Untertiteln in gewohnter Rapid Eye-Qualität) finden sich auf der DVD ein aufschlussreiches Interview mit Tsukamoto selbst zur Genese des Films, ein weiteres Interview mit seinem getreuen Maskenbildner Takashi Oda, ein Making-of, ein kurzes Feature zur Premiere auf den Filmfestspielen in Venedig und ein Musikclip. Damit entspricht die Ausstattung im Grunde der des bereits vor einiger Zeit von Rapid Eye veröffentlichten Digipacks im Schuber, dessen wertigere Aufmachung allerdings vom günstigen Preis der Editionsausgabe ausgestochen wird.

Zur Ergänzung sei noch auf Tom Mes‘ hervorragende Monographie „Iron Man. The Cinema of Shinya Tsukamoto“ hingewiesen, die bei Fab Press erschienen ist und Tsukamotos Schaffen von seinen 8mm-Anfängen bis hin zu „Vital“ kenntnisreich in den Blick nimmt.

Christian Moises



„Vital“. Japan 2004.
Regie, Buch, Kamera, Schnitt, Szenenbild: Shinya Tsukamoto. Musik: Chu Ishikawa. Produktion: Kiyo Joo, Shin-Ichi Kawahara, Ittoku Kishibe, Keiko Kusakabe, Koichi Kusakabe, Shinya Tsukamoto.
Darsteller: Tadanobu Asano (Hiroshi), Nami Tsukamoto (Ryôko), Kiki (Ikumi)
Extras (64 Min.): Making Of, Interviews, Feature: Venedig 2004, Kinotrailer, Musikvideo
Anbieter: Rapid Eye Movies
Länge: 85 Min.
Erscheinungsdatum: 19. März 2010


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