Filmfest München: Terry Gilliam's Flying Imaginarium

Den Höhepunkt des ersten Festival-Wochenendes bildete Terry Gilliams „The Imaginarium of Dr. Parnassus“. Dem Regisseur von Klassikern des neueren phantastischen Films wie „Time Bandits“ und „Brazil“ gelang eine bildgewaltige Urban Fantasy, die eine treffsichere und gegenwartsbezogene Alternative zum martialischen Eskapismus anderer Vertreter des Genres entwirft. Für die Außenseiter in Gilliams Filmen stellen die phantastischen Welten nicht ein von raunenden Schicksalsmächten beherrschtes Schlachtfeld zwischen Gut und Böse dar, sondern bieten einen subversiven Ausweg aus einer von Ignoranz und Vorurteilen beherrschten Alltagstristesse. In den Seitenhieben auf halbherzige Ablasszahlungen und den sentimentalen Betroffenheitskitsch der Oberschicht, sowie einer herrlich absurden Reise in das Unterbewusstsein großspuriger Vorstadtgangster schließt Terry Gilliam in Sachen satirischer Treffsicherheit indirekt an die Themen seiner Monty Python-Zeit an.

Überhaupt erinnern die digitalen (Alp-)Traumwelten, die sich in Anlehnung an Lewis Carroll hinter den Spiegeln des Schaustellers Doctor Parnassus (Christopher Plummer) finden, über weite Strecken an Gilliams Animationen für den Flying Circus. Im Unterschied zu einer Vielzahl seiner Kollegen schafft er es, die Möglichkeiten der digitalen Tricktechnik konsequent mit seiner künstlerischen Handschrift zu kombinieren, ohne den CGI-Hype im Positiven, wie im Negativen wichtiger zu nehmen, als er tatsächlich ist.

Nicht nur hinsichtlich der gemeinsamen Vorliebe für Lewis Carroll, ergänzen sich die Filme der Londoner Exil-Amerikaner Terry Gilliam und Tim Burton immer stärker, im anschließenden Publikumsgespräch äußerte der Ex-Python den Wunsch, sein Kollege solle ihm bei der Verfilmung von „Alice in Wonderland“ noch ein paar Seiten aus der Vorlage für zukünftige Filme übrig lassen. Beide arbeiten, ebenso wie Guillermo Del Toro und Peter Jackson, als Fantasy-Auteurs, die einem sich gerne in regressiven Sackgassen verlaufendem Genre neue Impulse verleihen. Durch ihre Arbeiten, die eine deutliche Sympathie für Außenseiter und Genre-Dekonstruktionen aller Art demonstrieren, haben sie beide familienähnliche Ensembles um sich versammelt, bei denen es wie im Fall von Johnny Depp immer wieder zu personellen Überschneidungen kommen kann.

Als Ensemblestück markiert „The Imaginarium of Doctor Parnassus“ auch eine berührende Abschiedsvorstellung und Hommage für den während der Dreharbeiten verstorbenen Heath Ledger, dessen filmisches Erbe sich nicht mehr alleine auf die brillante Tour-de-Force als Joker in „The Dark Knight“ beschränkt. Seine Freunde und Kollegen Johnny Depp, Colin Farrell und Jude Law vollendeten die Geschichte um einen Jahrhunderte zuvor geschlossenen Pakt mit dem Teufel, dessen Tribut im London der Gegenwart eingefordert wird. Das wechselnde Erscheinungsbild des Protagonisten, der sich Parnassus' Truppe anschließt, ergänzt sich unmittelbar mit dessen Absicht, durch ein ständiges Maskenspiel seinem Schicksal zu entkommen. Den diabolischen Advokaten, dem es immer wieder gelingt Parnassus zum Leid seiner Gefährten zu neuen Wetten zu verführen, spielt Singer-Songwriter-Multitalent Tom Waits als stilbewussten Dandy. Abgerundet wird das Ensemble durch Verne Troyer als zynisches, gutes Gewissen Percy, den Newcomer Andrew Garfield als idealistischen Romantiker und die Schauspielerin Lily Cole als Parnassus' von finsteren Mächten umworbene Tochter.

Obwohl die Geschichte an klassische Themen der Phantastik, laut Gilliam, „stories, that the modern world is not interested in anymore“, anknüpft, steht nicht die Fortschreibung tradierter Heldenreisen, sondern die Entdeckung von Ambivalenzen und neuen Perspektiven im Mittelpunkt, oder wie der Elder Statesman der Anarcho-Phantastik selbst erläuterte: „I don’t know if you always lose playing with the devil.“ Auch den Bezug zum London der Gegenwart verliert Gilliam nie aus den Augen. Darin besteht ein zentraler Unterschied zu Hollywood-Decepticons wie Michael Bay, der immerhin inzwischen anstelle von reaktionärem Action-Schrott inzwischen pathetischen Action-Schrott mit digital animierten Robotern fabriziert.

In bester Python-Tradition demonstrieren Gilliam und sein Ensemble mit „Doctor Parnassus“, dass treffsicherer und sophisticateter Sarkasmus das Prinzip Aufklärung nicht negiert, sondern dialektisch gebrochen fortsetzt. Dazu gehört auch die scheinbar unerschöpfliche Ausdauer des Regisseurs, der die Tragödie der Produktionsgeschichte in einen künstlerischen Triumph verwandelt hat. Seit den Auseinandersetzungen um „Brazil“ nimmt er immer wieder den Kampf gegen Windmühlenflügel auf. Nächstes Jahr auch wieder in La Mancha, hoffentlich ohne dass dieses Mal beim zweiten Anlauf das vor zehn Jahren nach wenigen Drehtagen gescheiterte Don Quijote-Projekt wieder verloren geht. Gewohnt Gelassen ergänzt Gilliam am Ende der Gesprächsrunde: „Let's hope it works as well as the first time... or wait, maybe better not.“

- Andreas Rauscher