Nippon 2010: Tetsuaki Matsues “Live Tape” – Ein Mann, seine Gitarre und zwei Sonnenbrillen

„Live Tape“, Japan 2009, Regie: Tetsuaki Matsue – Gewinner des NIPPON DIGITAL AWARD 2010


Zu Beginn von Testuaki Makues Dokumentar-Experiment „Live Tape“ steht der Tod: Ein junge Frau (Tsugumi Nagasawai, die einzige Schauspielerin des Films) in einem rosafarbenen Kimono betet am Neujahrstag 2009 im Kichijoji Hachiman-Schrein in Tokio für die Seelen der Verstorbenen, passiert auf dem Weg nach draußen zahllose Passanten und einen jungen Musiker, der mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase und einer Gitarre in der Hand neben dem Tor steht. Die Kamera verliert die Frau aus dem Blick und bleibt an diesem Musiker haften, der unvermittelt zu singen beginnt. Der Titel des ersten Songs, der in weißer Schrift eingeblendet wird, bildet zugleich den Titel des Films: „Live Tape“. Als der Sänger sich in Bewegung setzt, bricht die Kamera mit ihm auf und wird ihn begleiten, den ganzen Weg durch die mit Menschen gefüllte Innenstadt bis in den Inokashira Park, wo auch der Film sein Ende finden wird, das doch kein Endgültiges sein wird.

Aber auch bei der Initiierung und Durchführung des Projektes „Live Tape“ spielte der Tod eine nicht unwesentliche Rolle, genauer: der Tod des Vaters des Regisseurs Tetsuaki Matsue, seiner Großmutter und eines guten Freundes im Jahr 2008, kurz vor Beginn der Dreharbeiten. Die Arbeit an dem Film half ihm dabei, damit umzugehen, etwa dadurch, dass er seine Darstellerin Tsugumi Nagasawai an seiner statt für die Verstorbenen Fürbitte leisten und den Singer-Songwriter Kenta Maeno durch den Stadtteil Tokios wandeln lässt, in dem er aufgewachsen, mit seiner Familie durch die Gassen und Straßen geschlendert ist. Auch der Beginn dessen Karriere ist vom Tod überschattet. Denn in einem seiner ersten Songs, „Weather Forecast“, verarbeitet Maeno den Verlust seines Vaters, der mit 57 Jahren an einem Herzinfarkt verschieden ist, noch bevor er in Pension gehen und sein Leben in Muße beenden konnte.

Ähnlich wie in Alexander Sokurows „Russian Ark“ ist die Bewegung durch den Raum somit auch eine durch die Zeit, in die Vergangenheit Matsues und in die Maenos, indem dieser auf dem Weg durch die Straßen Tokios Lied an Lied aneinanderreiht, Songs, die untrennbar mit seiner Biographie verbunden sind, Abschnitte seines Lebens, seiner Karriere widerspiegeln. Und wie Sokurows Film besteht Live Tape aus einer einzigen Einstellung, ebenfalls mit Digitalkamera gedreht, in seinem Ansatz aber wesentlich persönlicher, kein Gang durch Kultur- und Geistesgeschichte wie Sokurows Gang durch die Sankt Petersburger Eremitage. En passant wird zudem ein Stück Zeit konserviert, ein Stadtteil und seine Menschen, am Neujahrstag 2009.

Wie ein japanischer Bob Dylan, mit Wuschelkopf und Sonnenbrille wandert Maeno an Menschen, Autos, Häusern, Schaufenstern vorbei, zieht sich einen Softdrink aus einem Automaten, setzt auf Bitten des Regisseurs seine charakteristische dunkle Brille ab und schenkt sie einem kleinen Jungen, der gerade mit seiner Mutter vorbei kommt. Bis er wie zufällig vor einem Ladencafé auf einen anderen Musiker trifft. Scheinbar spontan stimmen sie zu zweit einen Song an, die rauchende Ladenbesitzerin im Hintergrund. Danach werden sich ihre Wege wieder trennen, Maeno alleine weiterziehen. Ähnliches wird sich wiederholen. Nach dem Lautenspieler mit einem Saxofonisten, später mit seiner gesamten Band, den David Bowies, auf die er am Ende im Park treffen, die Akustikgitarre kurz gegen eine E-Gitarre austauschen wird, ehe er, wiederum akustisch, mit dem Song „Tokyo Sky“ den Film melancholisch aber hoffnungsvoll ausklingen lassen wird. Die Kamera wird sich dort auch von ihm lösen, das Geschehen im Park aufzeichnen, den kleinen Jungen, der seiner Großmutter ausbüxt, Radfahrer, promenierende Pärchen. Der Tod ist nicht zwangsläufig das Ende, die Erde dreht sich weiterhin, das Leben geht weiter.

Ähnlich wie Maeno in seinen Songs Gedanken, Beobachtungen wie in einem Bewusstseinsstrom aneinanderreiht, registriert die Kamera das Geschehen um ihn herum, bleibt vieles dem Zufall überlassen, treten die Umgebungsgeräusche akustisch in den Vordergrund, werden wieder leiser. Gedreht wurde mit kleinem Team, nur an den Stationen, wo Maeno auf seine Mitmusiker trifft, kamen zusätzliche Mikrofone zum Einsatz. So wirkt das Ergebnis erfrischend unprätentiös, steht nicht aufdringlich das Wort KUNST in übergroßen Lettern an jeder Wand. Möglicherweise muss man auch an der Musik Maenos Gefallen finden, um sich mit ihr und der Kamera treiben zu lassen. Dem aber, dem dies gelingt, wird beides, Musik und Bilder, noch nach Ende des Films eine Weile beglückt mit sich tragen.

Im anschließenden Q&A mit Matsue und Maeno gab der Regisseur bereitwillig Auskunft über Hintergründe und Entstehung des Films und meinte, er habe sich im Grunde beim Dreh wie eine Art Zuschauer gefühlt, der sich im Vertrauen auf alle Beteiligten dem Geschehen eher ausgeliefert als dieses kontrolliert, es quasi „live“ verfolgt habe, in der Hoffnung, dass alles gut gehen werde. Zudem sei der Titel auch in dem Sinne zu verstehen, dass der eigentliche Film erst bei der Betrachtung, quasi „live“ im Kopf des Zuschauers entstehe. Live konnte man sich auch nach dem Film ein weiteres Mal von den musikalischen Qualitäten Kenta Maenos überzeugen, der ein kurzes aber intensives Konzert gab, nachdem er vorher im Q&A eher durch Stoizismus und ironisches Understatement geglänzt hatte.
Am Ende dann noch die Bitte, man möge doch im Anschluss eine seiner CDs kaufen, da er nicht wisse, wie lange er wegen des aktuellen Flugverbots noch hier in Deutschland ausharren müsse und er den unfreiwilligen Aufenthalt irgendwie ja finanzieren müsse. Sprach's, gab auf Wunsch des Publikums nochmals "Weather Forecast" zum Besten, wanderte dabei durch die Stuhlreihen - und verschwand.


Christian Moises


„Live Tape“
Japan 2009. Regie: Tetsuaki Matsue, Musik: Kenta Maeno.
Darsteller: Kenta Maeno, The David Bowies, Tsugumi Nagasawai.