Theater: "Der Fall M.M." - Hinter die Fassaden blicken und Marilyn feiern


Eine ungewöhnliche Mischung aus Ballett, Schauspiel und Musical kommt Marilyn Monroe näher als eine Imitation

Von Tonio Gas mit Bettina Uhlich


Am Abend des 28.4.2012 öffnete sich der Vorhang des Schauspielhauses Kiel für die Premiere von „Der Fall M.M.“. Er wollte sich am Ende angesichts frenetischer Standing Ovations gar nicht mehr schließen. Dabei scheint die Beschäftigung mit Marilyn Monroe als Mythos und als Kriminalfall eher ein undankbares Thema. Sicherlich, das eine wie das andere fasziniert noch heute, aber beides hat auch schon zu inflationären voyeuristischen Publikationen und abstrusen Verschwörungstheorien geführt. Wer etwas über Marilyn machen will, muss sich also von der Masse abheben. Spekulationen über ein Mordkomplott der CIA und / oder der Kennedybrüder sind mit den Jahren zahlreicher, aber nicht besser geworden; laut dem seriösen Marilyn-Biographen Donald Spoto ist vieles davon nachweislich Unsinn.

Doch dann hat das Stück überzeugt, dessen Vielseitigkeit sich kaum in einer Inhaltsangabe zusammenfassen lässt. Ausgehend vom Kriminalfall – wie starb MM? – tritt Mr. Clemmons (Rudi Hindenburg) als Ermittler und Erzähler auf. Als erster Polizist bei der toten Marilyn lässt ihn der Fall nicht mehr los, in dem er gegen Vertuschungsbemühungen schließlich auf eigene Faust ermitteln muss. Hier ist „Der Fall M.M.“ klassischer Film Noir, der Detective gegen den Sumpf, der karge Schreibtisch am Bühnenrand das archetypische Setting, die Kommentare fast wie ein Voice Over, die Erzählung in Rückblenden, die aber immer wieder in die Gegenwart springt. Clemmons ist Erzähler, Kommentator, aber auch selbst Teil der Handlung, insoweit sie in der Gegenwart spielt. Hindenburg spielt ihn souverän und weiß sehr genau, was er da tut und tun soll.

Clemmons steht für den Versuch der Wahrheitsfindung, das Stück passt sich dem an, indem es im Gegenwartsteil reines Schauspiel ist. Weil man die Vergangenheit höchstens erahnen, aber nicht genau rekonstruieren kann, wählt die Inszenierung eine Form der Verfremdung: Klassischer Tanz und gesungene Musicalnummern wollen nicht darstellen und behaupten nicht genau zu wissen, wie es alles genau war, mit Marilyn. Aber wie man es sich vorstellen könnte. Fantasievolle Formen für etwas, das immer ein Teil unserer Fantasie bleiben muss. Das Stück von Autorin und Regisseurin Jana Pulkrabek wahrt eine sympathische Bescheidenheit und münzt sie in Kreativität um. Clemmons bietet zwar am Ende den Versuch einer Antwort an; doch ist dies ein Stück, welches offen zugibt, nichts Genaues wissen zu können.

Vergangenheit und Gegenwart berühren sich, können aber nie miteinander verschmelzen. Hindenburg ist Schauspieler. Sonia Dvorak, die Darstellerin Marilyn Monroes, ist Tänzerin. Sie können nicht zusammenkommen, er kann sich ihr nur zu nähern versuchen. Sie lebt in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, Clemmons hatte sie nie kennengelernt und versucht es nun postum. Also hat Dvorak eine andere künstlerische Ausdrucksform als Hindenburg. Das Crossover aus Schauspiel und Tanz ist nicht nur, wie Generalintendant Daniel Karasek meinte, eine große selbstlose Geste des neuen Ballettchefs Yaroslav Ivanenko. Es drückt auch kongenial die Verschiedenheit von gegenwärtigem Whodunit und vergangenem Geschehen aus, das als Mythos, aber nicht als exakt rekonstruierbare Realität weiterlebt. Drum hat Dvorak eine (gefühlt) kürzere Bühnenpräsenzzeit als Hindenburg, aber ist dennoch mit Recht die Hauptperson und darf in jedem Auftritt faszinierende Akzente eines Puzzles setzen. Das Zusammenpuzzlen dauert länger, ist mühevoller.

Da ist es nur konsequent, wenn der Mythos sich dem Versuch widersetzt, die Realität eins zu eins abzubilden. Man kann sich Marilyn gerade nähern, indem man gar nicht erst eine Imitation versucht; darum hat es ein aus verschiedenen Formen zusammengesetztes Theaterstück leichter als ein Film, der im klassischen dramatischen Sinne eine Geschichte erzählt.

Dvorak ist eine berührende, ausdrucksstarke Marilyn, die zum Glück nicht ganz auf den Kultfaktor verzichtet hat und der man ansieht, dass sie gewisse Posen MMs einstudiert hat. Sie darf wunderschön designte Marilyn-Kleider in den Primärfarben Weiß und Rot tragen, die auch auf vielen MM-Fotos prägend waren. Sie darf jenseits des Balletts in Musicaleinlagen wie Marilyn tanzen – und singen! Geschickt haben Pulkrabek und Ivanenko einige der bekannten musikalischen Highlights der Filme ausgewählt, ohne dies jemals zur bloßen Nummernrevue verkommen zu lassen. Mit der Jugendfreundin und Filmpartnerin Jane Russell (Pina Bergemann) darf Marilyn noch einmal „We’re just two little girls from Little Rock“ darbieten, und auch bei „My Heart Belongs to Daddy“ nochmals das kleine kokette Mädchen sein. Der wehmütige Song „One Silver Dollar“ stellt aber den eigentlich Gänsehautmoment dar, der bezeichnenderweise relativ weit am Ende des Stückes erklingt.

Überhaupt gewann das Stück nach einem überraschend schnell und unvermittelt zu Ende gegangenen ersten Akt an emotionaler Intensität. Gleichwohl war die Grundstruktur bereits in der ersten Hälfte gelegt worden, die mehr als oberflächliche Spaß-Musicalnummer mit ein bißchen Schauspiel und Tanz war. Hier hatte Hindenburg die wichtige Eröffnung in die detektivische Rückblendenstruktur. Hier konnte Dvorak mit ihrer Singstimme beeindrucken, die nicht ausgebildet ist, aber umso authentischer wirkte und Marilyn näher kam als die gesanglich Marilyn sehr fremd wirkende Michelle Williams. Allmählich vermischen sich Realität und Film- bzw. Starkult, und plötzlich erkennen wir eine Szene durch das Auftauchen und Sich-Formieren mehrerer Darsteller als Musicalnummer aus „Gentlemen Prefer Blondes“. Und dann kommt auch schon der Song von den kleinen Mädchen aus Little Rock, Marilyn als kleines Mädchen, aber auch als Star-Blondine, da lässt die Bühne nicht nur Raum für den Tanz, sondern auch für die Fantasie und eigene Interpretationen.

Natürlich haben diese Musicaleinlagen und ihre Abfolge nicht nur einen dramatischen Zweck, sondern sollen auch Spaß machen und den Kult feiern. Das Stück blickt hinter die Fassaden, ohne zu vergessen, Marilyn hochleben zu lassen. Das ist vielleicht die schönste Kreisquadratur, die die Unmöglichkeit, sich MM komplett zu erschließen, am besten ausdrückt. Eine ausgebildete Sängerin hätte eher geschadet; Dvorak hat hörbar viel aufrichtiges emphatisches Interesse an Marilyn, die sie doch weder sein kann noch will. Geschickte Regie-Einfälle unterstützten Dvoraks Eigenständigkeit gegenüber Marilyn. So wechselt beispielsweise einmal Dvoraks Stimme auf diejenige Marilyns über, wir bemerken es kaum, aber am Schluss – singen beide im Duett.

Kreativität und Authentizität vereinigen sich ferner in den klassischen Tanzszenen. Da gibt es nicht nur die Show-Einlagen, sondern originelle tänzerische Versinnbildlichungen von Situationen aus Marilyns realem Leben. Man muss einfach gesehen haben, wie kurz vor Schluss Joe DiMaggio (Alexander Abdukarimov) und Marilyn einen abenteuerlichen und hochgradig artistischen (dabei aber nicht offen spektakulären) pas de deux vollführen, bei dem sie weitgehend sitzen (!), schwungvoll und mit großem Gestus nacheinander greifen, aber einander immer wieder knapp verfehlen. Das sieht nicht nur schlangenartig elegant aus, sondern es verschafft auch einen wehmütigen Eindruck davon, dass der reale DiMaggio Marilyn kurz vor ihrem Tode erneut heiraten wollte und Hoffnung auf eine positive Wendung in ihrem Leben bestand. Das Glück ist sozusagen mit den Händen zum Greifen nahe, aber die beiden können es, können auch einander nicht greifen und fassen immer haarscharf daran vorbei. Einmal agiert Marilyn mit sich selbst als Kind, und plötzlich muss die erwachsene Marilyn und müssen auch wir überrascht feststellen: Das Kind ist verschwunden, das Kinderbett ist leer, Marilyn umarmt eine (im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Bettzeug gebildete) leere Hülle – eine Illusion, eine Sehnsucht auch. Und wie die verlorene Kindheit muss auch der Fall M.M. ein Mysterium bleiben, das wir nicht zu fassen bekommen können.
Clemmons bietet zwar eine Antwort an, aber Marilyn wird dadurch nicht in die reale Welt überführt und fassbar gemacht, sondern schwebt mit einem ätherischen Lichtschein in einer ihrer letzten Szene schon ein bißchen jenseits der Lebenden, aber damit auch jenseits des Fassbaren. Eine Legende, ein Mysterium. Aber sie ist nun immerhin Teil der Bretter, die die Welt bedeuten.