FddF LU: Bester Film #1: "Totem"
"Was bleibt" und "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" sind sicherlich Highlights dieses Festivals, sie laufen ab der zweiten Wochenhälfte.
Bisher sehr gut im Sinn von bemerkenswert, erinnerungswürdig und strange: "Totem" von Jessica Krummacher, in dem das schüchterne, verdruckste Hausmädchen Fiona bei der Familie Bauer arbeitet. Und während sie vorlügt, ihre Eltern seien tot, der Mutter aber vorlügt, sie sei im Urlaub am Mittelmeer, kommen wir dieser völlig verdrehten Familie nahe; näher, als uns vielleicht lieb ist. Aber ist es nicht das, was an einem Film interessant ist: Wenn er uns irgendwohin führt, wo wir nie sein werden, nie sein möchten, und es uns trotzdem vorführt, und wir uns unbehaglich fühlen und gleichzeitig irgendwie aufgehoben? Weil wir wissen, dass hier das Seltsame hin zum Absurden geführt wird, dass es also existentialistisch wird, irgendwo, irgendwie, dass irgendwas Allgemeines, Wahres dran ist? (Auch wenn wir nicht herausfinden, was genau?)
Tatsächlich, der Abspann verrät es: der Film beruht auf einer wahren Geschichte. Was ihn noch merkwürdiger erscheinen lässt. Wobei wahre Geschichte ein dehnbarer Begriff ist. Die Bauers wohnen in einem Mittelstandshaus, benehmen sich dazu wie Prolls, wahren einen Sinn für Ästhetik, der in merkwürdig gedämpfte Wutausbrüche ausarten kann. Sie sitzen in kurzen Hosen auf dem Ledersofa; Vater Wolfgang - mit erstaunlichem Gebiss - wills schön haben beim Hartwurstessen und spießt sie sorgsam auf Zahnstocher auf. Um dann Fiona mit Kartoffelsalat zu vergewaltigen: er stopft ihn ihr ins Maul, penetriert sie damit oral, es ist zum Kotzen absurd.
Mutter Claudia kümmert sich um die Kinder. Um die Jüngsten, zwei Babies. Der ältere Sohn mit Anzeichen von Hyperaktivität ist Fiona überlassen, die 15jährige Tochter macht mit einem 30jährigen rum, der nie irgendwas zustandebringen wird. Claudia aber pflegt Haushalt und Babies, redet sichs zumindest ein, wenn sie nicht in wahlweise aggressiver, wahlweise phlegmatischer Depression versinkt. Dass die Babies keine echten sind, sondern nur Puppen, die sie an Babies statt angenommen hat, ist nicht weiter der Rede wert; der Film zeigt's zwar, weist aber niemals explizit darauf hin. Was eine Qualität für sich ist, nicht alles auszusprechen, die den meisten zumal deutschen Filmen fehlt.
Eine völlig verkorkste Familie also, Verwirrung beim Zuschauer, eine beobachtende und teilnehmende Fiona; und eine dickliche, ältere Dame, die immer wieder durch den Zaun guckt, im Garten auftaucht, den Eltern ein Gespräch reindrückt. Wer ist sie eigentlich??? Gut, dass wirs nicht wissen, Information würde dem Film viel wegnehmen.
Was Krummacher zeigt, ist eine Ulrich-Seidl-Familie mit Schlingensief-Problemen. Eine Mischung, die verstört und fasziniert. Am 26. April hatte der Film Kinostart; vielleicht kommt er ja mal bei Ihnen vorbei.
Harald Mühlbeyer