Filmfest München: Große Regisseure - Herzog, Solondz, Coppola, Scorsese
Schon am ersten Tag in München ging es von null auf 100 in 0,000 Sekunden: gleich vier Filme von renommiertesten Filmemachern standen auf dem Programm: Herzog, Solondz, Coppola, Scorsese.
Werner Herzog war letztes Jahr mit „Bad Lieutenant“ in Venedig, und als Überraschung hatte er „My Son, My Son What Have Ye Done“ auch gleich mit im Gepäck. Der lief jetzt hier, und er bestätigt Herzogs Faszination an amerikanischen Crimegeschichten. War „Bad Lieutenant“, das Ferrara-Remake, eine großartige Mischung aus Mainstreamkonvention und Herzogobsession, so steigt er in „My Son, My Son“ tief hinein in die Besessenheiten, in die Absurdität, die sein Werk immer wieder auszeichnet – und das vor dem Hintergrund eines True Crime-Falles. Michael Shannon spielt einen verkniffenen, brütenden, mit stierem Blick aus zusammengezogenen Augenbrauen die Welt mit innerem Wahn betrachtenden Sohn einer Mutter, wie sie sonst nur bei Hitchcock vorkommt, Willem Dafoe ist der Cop, der etwas hilflos mit dem SWAT-Team vor einer Situation steht: denn Shannon hatte seine Mutter per Samuraischwert getötet und sich mit zwei Geiseln zurückgezogen in deren rosafarbenes Haus zurückgezogen, und aus Rückblenden, die von seiner Verlobten und seinem Freund ausgehen, entwickelt Herzog das Porträt dieses Sohnes. Der eine innere Stimme hört, Gott vielleicht, der unter der Fuchtel der Mutter lebt, der, ja: verrückt ist, der in einer Theatergruppe sich verausgabt hat; der aber auch verrückt werden muss, in dieser Vorstadtidylle, die Herzog mit wenigen, effizienten Mitteln aushebelt. Mit leichter, latenter Skurrilität, mit Irrealismen, mit Überzeichnungen sticht er direkt ins Herz seines Films – wen wunderts, dass da David Lynch als Produzent fungierte.
Todd Solondz hat sich seinem Meisterwerk „Happiness“ (1998) wieder angenommen, erzählt in „Life During Wartime“ – mit neuen Darstellern – die Geschichte der drei Schwestern Joy, Trish und Helen weiter, die in ihrem Leben so viele Abgründe, so viele Perversionen kennengelernt haben; die nun zwischen Vergeben/Vergessen, Weltverbesserung, Verdrängung, Verstellung, Suche nach Glück, Lüge und Hoffnung auf Erlösung stecken: nacherzählbare Handlung gibt es da kaum, der Film lebt von seinen einzelnen Szenen, die er, oberflächlich gesehen, ohne besonderen Zusammenhang aneinanderreiht, die vor allem aus Dialogen bestehen – die aber intensiv unter die Haut gehen, jede für sich und alle zusammen, die das immanente Scheitern dieser Familie, das niemals aufhört, ganz genau auf den Punkt bringen.
Francis Ford Coppola hat wieder mal ein eigenes Drehbuch verfilmt, zum ersten Mal seit „The Conversation“ (1974), und man muss ihm zugute halten: „Jugend ohne Jugend“, vor ein paar Jahren ebenfalls in München gezeigt, war ein Film ohne Sinn und Verstand gewesen, jetzt, in „Tetro“, ist wenigstens wieder Sinn zu erkennen. Wenn auch dieser Sinn eigentlich keinen so richtig interessiert, wenn er nicht gerade besessen ist von Coppolas Familiengeschichte. Es ist die Geschichte zweier Halbbrüder: Benny besucht in Buenoa Aires Angelo, der sich jetzt Tetro nennt, der vor Jahren dem dominanten Vater, einem Dirigentengenie, geflohen ist, um Schriftsteller zu werden, und über zwei Stunden, weitgehend in Schwarzweiß, bohrt der Film hinein in die Verstrickungen und Machtverhältnisse der Familie Tetrocini – wobei es hilft, nein, vielleicht gar notwendig ist zu wissen, dass Coppolas Vater der renommierte Komponist Carmine Coppola war, der seinen Clan im Griff hatte – lustigerweise ähnlich, wie heute Francis seinen weitverzweigten Clan im Griff hat. Dieser Aspekt der Fortführung der Familiengeschäfte bleibt allerdings in „Tetro“ außen vor (will man das sehen, sollte man sich vielleicht den „Paten“ nochmals vorknöpfen), in „Tetro“ geht es um die Heilung vom familiären Trauma durch die Verarbeitung als Tanztheaterstück, und hier wird dann auch klar, was Coppola vorhatte: ein Gesamtkunstwerk als Film zu gestalten, in dem Musik (der Dirigent!), Literatur (der Schriftsteller!), Tanz (die in Farbe gestalteten Bilder innerer Traumata als Choreographien) und letztlich wohl auch Malerei (die ausgesucht komponierten Filmbilder) sich vereinen. Problem halt: es ist ein bisschen wie ein verklausulierter Zweistunden-Blick ins Fotoalbum einer fremden Familie, was für Außenstehende nicht so wirklich prickelnd ist – und zudem ertrinkt der Film in Redundanzen, in Doppelungen, alles wird, zwei, dreimal gesagt, und das ist halt das Problem, wenn eine Kontrollinstanz fehlt: Coppola hatte Drehbuch, Regie und Produktion in der Hand, und als Mitarbeiter viele seiner Familienmitglieder eingesetzt.
Von Martin Scorsese lief in deutscher Erstaufführung ein Dokumentarfilm von 1977, der nur für Festivals freigegeben ist – und das ist schon so was wie eine kleine Sensation. „American Boy“ lässt in 50 Minuten Stephen Prince in Kamera und Mikrophon Anekdoten aus seinem Leben erzählen, er war ein enger Freund von Scorsese, hatte ein paar Auftritte – in „Taxi Driver“ als Waffenhändler, in „New York New York“ wurde er rausgeschnitten –, und er kann stundenlang erzählen. Unterhaltsam, witzig, einnehmend: und das sind Geschichten, die eigentlich sehr tragisch sind. Wie er einmal knapp das Leben eines Kindes nicht hat retten können, das dann an Stromschlag gestorben ist; wie er mal überfallen wurde; wie er sich willig der Heroinsucht ergeben hat, als er Roadmanager war für Neil Diamond Anfang der 70er. Überhaupt Drogen!
Und Scorsese albert mit Prince herum, in dem Wohnzimmer, wo sie das alles aufgenommen haben, man merkt die Connection der beiden – das beleuchtet dann genauer die zweite Dokumentation des Abends „American Prince“ von Tommy Pallota.
Da wird über dreißig Jahre später Prince nochmals interviewt, hat von seinem Erzähltalent nichts verloren, wenn es um die Freundschaft mit Scorsese geht, wie sie zusammen gewohnt haben, Sex, Drugs and Rock’n’Roll zelebriert haben, an Filmen gearbeitet haben – prägnant, auf den Punkt, humorvoll präsentiert sich Prince, und die beiden Filme stehen dem in nichts nach.
Richard Linklater war einer der Interviewer in „American Prince“, Pallota ist Produzent von Linklaters Filmen, und in „Waking Life“ hatte er – als gezeichnete Figur – Prince schon mal auftauchen lassen, der die Geschichte erzählt, wie er einmal einen Mann erschossen hat, der mit dem Messer auf ihn zugerannt ist.
„American Boy“ hat einen legendären Ruf, zirkuliert als Bootlegfilm seit Jahren, hat viele inspiriert – Prince erzählt auch mal eine Story von einer Frau mit Überdosis, die nur mit einer Spritze mitten ins Herz wiederbelebt werden konnte. Tarantino hat das direkt übernommen in „Pulp Fiction“, eins zu eins – außer, dass Prince die Spritze wieder rausgezogen hat, nachdem die Drogenbeinahetote wiederauferstanden war, wie Prince gegenüber Pallota präzisiert.
PS: Der neue Film von Linklater, „Me and Orson Welles“, läuft auch in München; aber dazu später mehr, irgendwann.
Harald Mühlbeyer