Grindhouse-Nachlese April 2010: „A Lizard in a Woman’s Skin“ von Lucio Fulci und „In the Folds of the Flesh“von Sergio Bergonzelli

Grindhouse-Doppelnacht in Mannheim, 17. April 2010: „A Lizard in a Woman’s Skin“ / Una lucertola con la pelle di donna” von Lucio Fulci und „In the Folds of the Flesh“ / „Nelle pieghe della carne” von Sergio Bergonzelli – ausgesucht, organisiert und mit einer Einführung versehen von Boris Becker – nein: nicht das Tennis-As!


Im Nachhinein gesehen enthält der Titel „A Lizard in a Woman’s Skin“ schon die Lösung dieses Giallo-Rätselfilms. Carol hat darin schlimme Träume von nackten Menschen allüberall, von der schönen Nachbarin Julia, von Liebe und Gewalt; sie hasst Julia und ihr Lotterleben, und allnächtlich lässt sie – im Traum – sich von ihr verführen… Ihr Psychodoc kann das schön erklären, wie sie zwischen der Lust des Es und dem Zwang des Über-Ich pendelt. Das hilft aber nicht, als sich einer ihrer Träume als wahr herausstellt: Sie träumt, die verhasste Julia ermordet zu haben, und tatsächlich: Julia wurde ermordet. Hat sie geschlafwandelt? Legt sie jemand rein? Oder ist alles gar nicht wahr? Und wer sind die beiden Hippies, die Carol ebenfalls in ihrem Traum gesehen hat? Ist ihr Mann der Täter; ihre Tochter; ihr Vater?

Regisseur Lucio Fulci entspinnt von hier aus ein Netzwerk an falschen Fährten, an psychologisch-pathologischer Motivik, sein Mordkomplott wird zum um sich wuchernden Konstrukt zwischen Gewalt und Rache, Eifersucht, Obsession und Neurose, Traum, Imagination, Halluzination, Lüge und Täuschung – er versuche, hat Boris Becker in seiner Einführung zum Film erklärt, mit Erfolg Dario Argento nachzuahmen, mit der durchgestylten, hochartifiziellen, aber spannungseffektiven Inszenierungsweise: Carols Traum/Trauma-Psychose wird in die Bilder hinübergeführt, in lange Gänge, große, leere Hallen, Wendeltreppen, Spiegelungen, bizarre Kameraeinstellungen…

Das hat auch was von Hitchcocks hochstilisierten Spannungsräumen, auch von den Themen her: Obsessive Angsthasslust gegenüber der frivolen Blonden, Psychologisch-Pathologisches, das sich nach außen kehrt, Tod und Tabu; und es gibt eine Verfolgungsjagd durch eine verwirrend labyrinthische katholische Kirche, von den Katakomben durch den leeren Gotteshaussaal hinein in die Orgel, in geheime Kammern hinter den Orgelpfeifen, bis hoch aufs Dach – inklusive einem Priester mit Gewehr…

Natürlich will Fulcis Film niemals Kunst sein, und natürlich ist er in vielerlei Hinsicht billiger gemacht als Hitchcocks durchgeplante, kunstvolle Thriller, der Effekt ist das Wichtige, der Reiz fürs Publikum, Nacktheit und Gewalt – Lucio Fulci wurde später durch Zombihorror berühmt, hat aber, das betont Becker, sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Er weiß also, was er tut, das ist nicht selbstverständlich in dem Segment, das Fulci bediente: Filme fürs sensationsgierige Publikum, die aktuelle gesellschaftliche Diskurse ausbeuten für effekthaschende Sex- und Crimegeschichten. Wobei Fulci hier – wissentlich oder nicht – auch einen Kommentar abgibt über das Unbehagen der High Class gegenüber den freidenkenden, sich auslebenden Hippies, indem er die Vorurteile gegenüber der Gegenkultur zu wahnhaften Obsessionen der Hauptfigur werden lässt, bei der Abstoßung und Anziehung eine fatale Verbindung eingehen. Wobei zugleich – auch das zeichnet die Grindhouse-Filme aus – eindeutige Deutungen unmöglich sind: Die Hippies sind dermaßen auf Acid, dass sie sich selbst alles mögliche zutrauen und von Liebe und Frieden nicht viel übrig bleibt; während der Oberklasse, der Carols Familie zugehört, unter der Oberfläche ebenfalls alle möglichen Verbrechen zugetraut werden dürfen.

Exploitation, Trash, Grindhouse: das bringt das Mannheimer Cinema Quadrat seit nunmehr zweieinhalb Jahren, angefangen hat es im Herbst 2007, nach den Post- und Meta-Grindhousefilmen von Tarantino und Rodriguez. Seither läuft hier allmonatlich in einem Doppelprogramm Obskures, simpel gemachtes Genrekino, Horror, Thriller, Kung Fu, Blaxploitation, Sexploitation… Alles Filme, die man sonst kaum in Deutschland zu sehen bekommt, es sei denn, man ist ein Sammler wie Boris Becker, der aus seinem privaten 8000-Filme-Archiv hauptsächlich Werke zeigt, die in Deutschland nicht so einfach erhältlich sind.

Was die Grindhouse-Nächte zu unvergesslichen Kinoerlebnissen macht mit Filmen, die mal auf sehr direkte, dann wieder auf einfallsreich verspielte Weise originelle Ideen anderer verwursten; in denen auch mal die großen Ambitionen des Regisseurs mit den produktionstechnischen Realitäten aufs Komischste zusammenkrachen; in denen dann wieder mit den Mitteln des Genrekinos nach den Sternen zu greifen versucht wird; in denen sich große Wahrheiten hinter plakativen Plattheiten verbergen; oder in denen sich schlicht der Spaß der Filmemacher auf den Zuschauer überträgt – der Film wird gedreht, egal welche Mittel da sind, egal, wie schlecht Schauspieler und Ausstattung sind, no matter what. Das ergibt höchst skurrile, einfallsreich durchgedrehte, völlig verrückte Werke, die in den versteckteren Ecken der Filmgeschichte darauf warten, gefunden zu werden. Spektakuläres und Spekulation, Reißerisches und Zerrissenes, Populäres und Popkulturelles dienen der Sehlust der Zuschauer, deren niederste Sinne angesprochen werden: Filme als Zeitgeisterbahnfahrten. Grindhouse-Filme nehmen billigend in Kauf, lächerlich zu wirken; mitunter ist eine mögliche unfreiwillige Komik wissentlich einkalkuliert; und ab und zu sind die Filme zugleich als Persiflagen ihrer selbst gestaltet. Und deshalb kann ihnen die Zeit nichts anhaben, ja: die Jahrzehnte seit ihrer Veröffentlichung fügen ihnen weitere Ebenen von Trash-Charme und Pop-Nostalgie hinzu.

Diesmal nun also Gialli, die italienische Variante des Sex-, Crime- und Psychokinos; wobei beide Filme dieses Abends, laut Becker, eher ungewöhnlich sind, eher am Rande stehen, weil es nicht um ein klassisches Whodunit um einen Täter in schwarzen Handschuhen geht.

Tatsächlich begibt sich der zweite Film des Abends noch tiefer in freudsche Abgründe als der erste: Der Titel „In the Folds of the Flesh“ bezieht sich auf ein zu Beginn eingeblendetes Freud-Zitat, wonach sich Traumata aus der Kindheit tief in einen hineinfressen. Genau das bebildert Regisseur Sergio Bergonzelli, geradezu obsessiv verfolgt der Film die Untaten, die sich aus früheren Untaten ergeben. Und er lässt sich dabei sichtlich – selbstverständlich sichtlich, denn verborgen, subtil oder nebenbei geschieht in solchen Filmen gar nichts –, er lässt sich also inspirieren von der Schwarzen Romantik: ein dunkler, burgartiger Turm ist der Schauplatz, die Hauptfigur Lucille mit blassem Gesicht, von dunklen Haaren umrahmt, schwarz gekleidet, die Geheimnisse einer mörderischen Familie – all das ist der Motivik der Gothic Novel entnommen, und ähnlich verworrene Familienverhältnisse wie in diesem Film finden sich mitunter auch bei E.T.A. Hoffmann.

Freilich hat Bergonzelli hier alles nochmal überdreht, wirft alles zusammen, so dass der Zuschauer zunächst recht verwirrt ist – wie sind die Verhältnisse nochmal: Das ist doch Inzest zwischen Colin und Falesse, oder sind die doch „nur“ Stiefgeschwister? Falesse jedenfalls ist gierige Nymphomanin, Colin total ein total vermurkster Künstlertyp, die Mutter hält alles bedeckt – so zum Beispiel das Verschwinden von Vater André, der mitunter Mister A. genannt wird, so dass auch hier das familiäre Bild sich verdunkelt. Es beginnt jedenfalls mit seinem abgeschlagenen Kopf, die Leiche wird von Lucille im Garten vergraben, am Fenster die starrenden Augen des jungen Colin: kein Zweifel, hier wird in seinem Gehirn die Saat des Grauens gepflanzt, die dreizehn Jahre später aufgehen wird… Dann nämlich wird kein männlicher Übernachtungsgast das Haus am nächsten Morgen wieder lebendig verlassen, dazu ist Falesse zu rasch mit dem Messer zur Hand, das sie in der sexuellen Erregung unterm Kopfkissen vorzieht, und Colin hat ja noch die Geier im Käfig im Garten, und im Schuppen befindet sich das Säurebad…

Bizarr? Kommt noch besser. In mehreren Volten am Ende wird eröffnet, dass keiner je das war, was er zu sein vorgab / zu sein meinte, und dass die Traumata eines jeden nur Schein waren, nur eingebildet, mit allerdings nicht weniger horrender Wirkung. Nur einer der Schocks aus der Vergangenheit war real, er hat Mutter (vielleicht auch nur Gouvernante) Lucille wahnsinnig gemacht, damals: als ihre ganze Familie in den deutschen Gaskammern umkam, während sie von den SS-Leuten vergewaltigt wurde. Hier buddelt der Film wirklich tief, tief in die Historie und tief in der Kiste des Exploitation-Krimskrams – Naziverbrechen, werden zu Volksbelustigung, zur hanebüchenen Motivation von Horror-Verbrechen, zum ultimativen psychosexuellen Kick. Tugendwächtern würde das moralinsauer aufstoßen – hier aber ist das derart spielerisch, in seiner pathetischen Dramatik so unernst eingebaut, dass der Tabubruch nur ein weiteres tieftönendes Brummen in der eklektizistischen Partitur des Filmes ist – das auch noch in die Psychopathologie der Handlungsgegenwart transponiert wird in einer unglaublichen Szene, im Mord an einem gewalttätigen Zeugen der familiären Untaten: der liegt in der Badewanne, und Zyklon B, handlich in Vitamintablettenform, macht ihm den Garaus. Nicht einfach so: sondern pünktlich zur vollen Stunde, wenn die Türflügel der Kuckucksuhr aufgehen und die tödlichen Pillen ins Badewasser stoßen, wo sie sich zu buntfarbenem Gas auflösen. Wie die Leiche dann beseitigt wird? Dazu bietet Colin die – O-Ton – „Endlösung“ im Gartenschuppen-Säurebecken an.


Harald Mühlbeyer


„A Lizard in a Woman’s Skin“ / "Una lucertola con la pelle di donna" - a.k.a. "Schizoid"
Italien/Spanien/Frankreich 1971.
Regie: Lucio Fulci.
Darsteller: Florinda Bolkan, Georges Rigaud, Stanley Baker.
98 Min.

„In the Folds of the Flesh“ / „Nelle pieghe della carne”
Italien/Spanien 1970.
Regie: Sergio Bergonzelli.
Darsteller: Eleonora Rossi Drago, Pier Angeli, Fernando Sancho.
88 Minuten