DVD: “All Tomorrow’s Parties” – Indie-Musikfest

“All Tomorrow’s Parties”, Großbritannien 2009, Regisseur: Jonathan Caouette.


“All Tomorrow’s Parties“ heißt ein Titel von Velvet Underground, dem Andy-Warhol-Bandprojekt – Warhol erkor in der Tat „All Tomorrow’s Parties“ zu seinem Lieblingssong. Aus der auf très chic, très kitsch und auf „brand yourself“ reduzierten Welt der Factory, aus einer Welt, die Kunst und Kultur im vielleicht passendsten Moment der Geschichte revolutioniert hat, und nicht zuletzt aus der Welt, wo Stars aus Kunst- und Musikgeschäft mit wenigen Ausnahmen noch nicht aus dem Kreis der Fans abgehoben hatten, ja, aus dieser Welt stammt der Name eines der profiliertesten Musikfestivals weltweit.

Angefangen hat alles 1999 unter dem Namen „Bowlie Weekender“ in einem Feriendorf in England, wo die Band Belle & Sebastian als Kuratoren ein Musikfestival organisierten. Von da an stand die Idee fest, und gleich im Jahr darauf fand zum ersten Mal unter der Leitung von Barry Hogan „All Tomorrow‘s Parties“ statt – seit 2002 nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den USA.

Das Programm – ein Indie-Manifest:
Musik ist kein Geschäft: Schluss mit den weltberühmten Bands als Headliners. Schluss mit den riesigen Bühnen, auf denen „Streichholz“-Bands vor einer riesigen Masse zappeln, während ihre Lieder vom Wind in die nächste Stadt getragen werden. Schluss mit den dreckigen Zelten. Schluss mit den Plastikbechern und mit Markenbier.
Musik verbindet. Sowohl die Bands als auch die Besucher wohnen in Ferienhäuser nebeneinander. Die Bands spielen auf kleinen Bühnen, hautnah. Performances gibt es teilweise in oder vor den Wohnungen der Bands, wo sich die Nachbarschaft gemütlich dazu versammeln kann. Jedes Jahr werden Bands und Künstler als Kuratoren ausgesucht, die ihre Lieblingskünstler zum Festival einladen. Seit 2007 dürfen die Fans mitkuratieren.

Zum zehnjährigen Jubiläum entstand „All Tomorrow’s Parties – Der Film“, ein einzigartiges Experiment, das den Geist der Veranstaltung völlig widerspiegelt. Regisseur Jonathan Caouette hat sich von Fans und Bands Filmmaterial zuschicken lassen. Dazu kamen die vom Festivalteam gedrehten Rollen. Über 600 Stunden Film in HD, DV, Super 8 oder mit dem Handy gefilmtes Material wurde innerhalb eines Jahres auf diese Weise gesammelt und zu einem Dokumentarfilm geschnitten.
Ein Mosaik aus Split-Screens enthüllt die Essenz von „All Tomorrow’s Parties“: eine ungeheuer bunte Mischung aus Menschen und Bildern, allein durch die Musik verbunden. Alltagsszenen und Interviews mit den Machern, Künstlern und Fans schaffen einen Rahmen um diese zersplitterte und doch einheitliche Welt des Festivals. Immer wieder zwischendurch Performance-Aufnahmen: eine kleine, jedoch delirierende Masse an Menschen steigert mit dem Bass ihre Vibrationen bis zum frenetischen Moment des Einsatzes eines Lieblingskünstlers oder des fieberhaft ersehntes Sounds, der alle zu einer Entität zusammenschmiedet, nur um sie gleich in Aufnahmen des Ferienorts, der verschiedenen Künstler, oder Fans, oder des Himmels, oder des Meeres aufzulösen. Dann steigt alles erneut, mal in aller Ruhe auf einer Wiese vor einem Ferienhaus, wo ein Künstler seine Gitarre mit Gesang begleitet, oder in einem Spielkasino, wo ein Ensemble mit Akkordeons, Zymbal und Trompete der Kulisse eine völlig neue Dimension verleiht, und es geht weiter bis zu großartigen Momenten des gemeinsamen Marschierens durch das Feriendorf mit der Lieblingsband, Bruchteile aus deren Repertoire mitschreiend.

Wer kommt denn alles zu diesem Festival? Voller Achtung vor Kunst und Künstler werden die Namen der gefilmten Bands erst am Ende ihrer Filmmomente eingeblendet, von Namen, von denen man irgendwo schon gehört hat, bis hin zu Namen, die man unter den persönlichen Ikonen aufbewahrt. „All Tomorrow’s Parties“ kennt keine Genres, keine Statussymbole, keine Vermarktungsstrategien. Kuratoren sind alle die mitmachen, alle Bands kommen irgendwann in die Lage, dazu aufgerufen zu werden, die Fans dürfen auch abstimmen, aber es geht weiter bis hin zu Künstlern wie Matt Groening – oder dieses Jahr in den USA: Dort wird Jim Jarmusch seine Lieblingsmusiker zu „All Tomorrow’s Parties“ zwischen dem 3. und 5. September einladen.

Die DVD ist mit einem 40 Seiten umfassenden Booklet in englischer Sprache ausgestattet, in dem die Entstehung des Films und des Festivals erklärt werden, die Plakate, jährliche Aufrufe und die teilnehmenden Künstler vorgestellt werden. Zusätzlich gibt es in den Extras 52 Minuten Performances ausgewählter Künstler, die Höhepunkte bis abstruse Momente des Festivals schildern.

Die große Fragen, die bei einer solchen Art von Veranstaltung unvermeidbar sind, werden im Film in einem Interview mit deutschen Besuchern gestellt: Wie sieht es mit Vermarktung von Künstlern aus? Wird so ein Festival sich in einer Welt der marktorientierten Veranstaltungen erhalten können? Kann man die etablierten Institutionen auf die Dauer umgehen? Soll man diese niederbrennen? Was soll aus der Musik werden? Eine Antwort darauf haben die Befragten nicht, und doch: die Problematik verstärkt sich weltweit, andauernd, denn das Internet und die Entwicklungen der letzten Zeit vor allem in der Musikbranche kündigen an: Musik als Geschäft ist bedroht. Bietet die Abkehr vom Kommerz eine Rettung für Künstler und Fans?


Ciprian David



„All Tomorrow’s Parties“, Großbritannien 2009,
Regisseur: Jonathan Caouette. Kamera: Lance Bangs, Jason Banker, Jonathan Caouette, Marc Halford, Vincent Moon, Marc Swadel. Produktion: Luke Morris.
Darsteller: (Mitwirkende): Animal Collective, Battles, Belle & Sebastian, Lightning Bolt, The Boredoms, John Cooper Clarke, Mark Coldham, David Cross, Dirty Three, George Eady, The Gossip, Grinderman, Grizzly Bear, The GZA, The Mars Volta, Mogwai, The Octopus Project, Portishead, Sun Ra, Jah Shaka, Shellac, Slint, Seasick Steve, The Stooges, Two Gallants, Yeah Yeah Yeahs, Sonic Youth, Claire Riordan
Extras:
Ungekürzte Live-Songs von The Gossip, Portishead, Iggy And The Stooges, Grinderman, Les Savy Fav, u. a.
Audio-Kommentar der Festival-Organisatoren Barry Hogan und Deborah Kee Higgins
40-seitiges Booklet (englisch)
Zugangscode für umfangreiches exklusives Online-Bonusmaterial

Anbieter: Rapid Eye Movies
Vertrieb: Rapid Eye Movies
Länge: 82 Minuten
Erscheinungsdatum: 16.04.2010


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