Kosslick sagt ab, und die Filmkritiker grämen sich
Für den 13. Oktober war in Berlin ein großes Symposium des Verbands der deutschen Filmkritik (VDFK) angekündigt. Wichtiges Thema: Das Verhältnis der Filmkritik zur Berlinale, dem größten deutschen Filmfestival, einem der größten der Welt. Was ist der Anspruch der Berlinale-Macher unter Leitung von Dieter Kosslick an das Festival? Was ist der Anspruch der Kritiker an die Berlinale-Filme? Wieso divergieren diese Meinungen so sehr, dass in jedem Jahr das Schimpfen über den Wettbewerb lauter wird? Unter welchen Zwängen stehen die Festivalmacher, wenn es um die Filmauswahl geht - politischer, finanzieller, produktionstechnischer Art, oder auch von den eigenen Kriterien her, die als Richtlinien für die präsentierten Filme gelten?
Dass die Berlinale ein Erfolg ist, ist unzweifelhaft: Das breitgestreute Programm, der hohe Zuschauerzuspruch, die Jugendförderung durch den Talent Campus oder der wichtige Europäische Filmmarkt, der für die Branche die Weichen für Produktion und Vertrieb vieler Filme stellt, sprechen für sich. Andererseits, von der Seite der Kritiker, wäre auch noch einiges zu tun - mehr jedenfalls, als neue Verbindungen zwischen Film und Essen zu knüpfen, wie sie der passionierte Gourmet Kosslick so gerne in den Mittelpunkt stellt (so durfte der "kulinarische Cineast" Kosslick fürs New Yorker Museum of Modern Art im August elf Filme mit Bezug zum Essen aussuchen). Die verschiedenen Positionen - zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, zwischen dem, was machbar ist, und dem, was wünschbar wäre - sollten in dem VDFK-Symposium in einem offenen Streitgespräch diskutiert werden. Kosslick hatte seine Teilnahme im Frühjahr zugesagt, auf ihn war die Veranstaltung zugeschnitten, ohne ihn würde sie keinen Sinn ergeben. Nun hat Kosslick abgesagt.
Ihm hat der "aggressive" Ankündigungstext nicht gepasst, der unter anderem Resümees verschiedener Kritiken über die Berlinale 2011 zitierte: „uninspiriert, desinteressiert und unberührt“ (FAZ), „reichlich fade“ (taz), „schwächelnd“ (Berliner Zeitung), „einer der schlechtesten Berlinale-Wettbewerbe überhaupt“ (Frankfurter Rundschau), „ein Offenbarungseid“ (Tagesspiegel). Der freilich andererseits die Positionen der Berlinale-Macher wie auch die Erfolge des Festivals wiedergibt, um zum Fazit zu kommen: "Dennoch bleibt die Berlinale der Pilgerort für deutsche Kritiker, genauso wie das Festival ohne Filmkritik undenkbar ist. Eine Hassliebe, die produktiv zu nutzen ist: Ein Dialog, und vielmehr noch ein offenes Streitgespräch scheint uns deswegen dringend nötig, und zwar jenseits des gerade aktuellen Programms."
Kosslick aber sagte ab. "Die VDFK-Ankündigung und die Vorgehensweise geben leider wenig Zuversicht für ein vorbehaltloses, offenes Gespärch. Der Text liest sich wie eine Einladung zum Tribunal." Und: "Nach diesem missglückten Kommunikationsstart sehe ich nicht, dass momentan die Voraussetzungen für einen offenen und konstruktiven Dialog gegeben sind." Immerhin: Nach einem Angebot des VDFK, in freier Redezeit das Podium ganz für sich zu haben, um seine Position darzustellen, hätte Kosslick fast wieder zugesagt; aber: "Euer ärgerlicher Ankündigungstext steht jedoch noch immer auf der VDFK-Webseite, dies wird und wurde nach wie vor wahrgenommen. Ich denke daher, dass sich die Vorzeichen für die Veranstaltung aktuell nicht geändert haben und ein konstruktiver Dialog am 13. Oktober nicht zustande kommen kann."
Kosslick weiß natürlich, dass er damit die Filmkritik gegen sich einnimmt. Kosslick weiß auch, dass die persönlichen Irritationen, die seine kurzfristige Absage verursachen, sich auch auf die kritische Rezeption der nächsten Berlinale durchschlagen können. Und er weiß, dass die Filmkritiker vermuten oder gar ahnen, wie egal ihm die Filmkritik ist. Und er weiß, dass die Filmkritiker wissen, dass die Zulassungsvoraussetzungen und Akkreditierungsmechanismen von Journalisten für sein Festival in seiner Hand liegen. Könnte also sein, dass der Trend, der sich in den letzten Jahren abgezeichnet hat, sich verschärft: Hin zu Beschränkungen bei der Akkreditierung für die Berlinale insgesamt, hin zu kleineren Pressekontingenten bei den Vorführungen - so dass viele nicht mehr in die Kinosäle eingelassen werden -, und vielleicht auch hin zu noch größerer Unfreundlichkeit der Berlinale-Mitarbeiter.
Wo doch eigentlich alle - Festivalbesucher, Journalisten, Berlinale-Macher - an einem Strang ziehen und gemeinsam versuchen könnten, die Berlinale weiter zu verbessern, was Filmauswahl wie auch Organisation angeht... Würde freilich voraussetzen, dass man sich gegenseitig versteht. Dass man miteinander spricht. Was Kosslick freilich anscheinend für nebensächlich hält. Schade.
Das Symposium ist offiziell (noch?) nicht als Ganzes abgesagt. Aber ohne Kosslick kann es nicht stattfinden.
Der Ankündigungstext des Symposiums und der Briefwechsel mit Dieter Kosslick finden sich auf www.vdfk.de.
Harald Mühlbeyer
Bild-Copyright: Berlinale