„Ist es kausal oder akausal?“ - Interview mit Christoph Schlingensief

Der gerne als enfant terrible titulierte Film-, Theater- und Performancekünstler Christoph Schlingensief war in diesem Jahr Mitglied der Berlinale-Jury. Nach seiner Krebserkrankung sieht er blass und schmal aus, doch durch ein neues Medikament haben sich die Metastasen zurückgebildet. Nur die unregelmäßige Nahrungsaufnahme während des Festivals schlaucht ihn. Harald Mühlbeyer sprach während der Berlinale mit Christoph Schlingensief.


Dass Sie in die Berlinale-Jury berufen wurden, war recht überraschend.


Das ist eine große Ehre. Ich habe ja hier einmal angefangen, 1986 mit meinem ersten Spielfilm MENU TOTAL, mit Helge Schneider damals noch. Der Film war ein Desaster, nach zehn Minuten ging Wim Wenders raus als erster von vielen, am Ende war noch 400 Leute da, 200 dafür, 200 dagegen. Es gab eine Schlägerei im Publikum, und ich saß oben, etwas angetrunken, mit Alfred Edel, der versuchte, die Diskussion zu leiten. Das klappte auch nicht. Mein Vater heulte und fand den Film furchtbar, meine Patentante fand ihn toll, Eva M. J. Schmid, die Filmkritikerin, fand ihn toll, Werner Nekes, der Experimentalfilmer, fand ihn faschistoid, und die Zeitungen schrieben zehn Zeilchen, ganz klein, „pubertäres Machwerk“, mit Kotzen, Kacken und irgendwas. Das war schlimm. Mittlerweile hat Enno Patalas in der FAZ eine Lobeshymne abgelassen: der Film ist also jetzt anerkannt. Aber damals war es hart, ich hab dann auch mit meiner Freundin Schluss gemacht, weil ich gedacht habe, jetzt muss man den absoluten Schlussstrich ziehen. Dann habe ich Tilda Swinton kennengelernt, wir waren einige Monate zusammen und haben EGOMANIA gedreht mit Udo Kier. Danach haben wir uns getrennt, aber wir mögen uns noch. Und jetzt sehen wir uns wieder in der Jury, ich mit meiner Verlobten und sie mit ihrem Sandro.

Achten Sie als Jurymitglied eigentlich vor allem auf die Regie, oder haben Sie sich andere Kriterien überlegt?

Ich gehe ganz unbefangen ran. Ich habe aber innerlich einen Anspruch und kann mich nicht in Filmen wiederfinden, wo ganz klar ist, dass die sich im Konzept schon mit zig Produzenten geeinigt haben. Ich betrachte das nicht von meinem Regiefach aus, sondern aus meinem eigenen Bedürfnis und meiner eigenen Lust heraus. Ich möchte eher überfordert werden, dass es mich packt und ich weiß nicht warum.

Sie arbeiten gerne – in ihren Film- wie in Ihren Theaterkunstarbeiten – mit Amateuren zusammen, erweitern auch gerne den Spielraum und sind damals zum Beispiel nach Kassel auf die documenta gegangen, wo Sie Ihr Publikum auch miteinbeziehen. Ist für Sie jeder Mensch ein Künstler, wie Joseph Beuys mal gesagt hat?


Ich arbeite gerne mit Individuen. Aber das mit dem Künstler ist ein Missverständnis, da sind ja auch Beuys’ Jünger auf dem Trip stecken geblieben, dass sie jetzt alle Künstler werden müssen. Die Jünger von Beuys haben ihn eigentlich platt gemacht. Der Gedanke ist ja an sich nicht falsch, aber ich habe dabei einfach nur die ganz praktische Methode für mich entwickelt, dass ich gerne mit Leuten arbeite, die pur sind und die in ein Bild kommen, das dann in dem Moment einfach ihr Bild ist. Da stehen sie dann und treffen jemand anderes, und das ist dann auch sein Bild. Dann haben sie schon mal damit zu kämpfen, weil sie ja eigentlich gerne alleine ihr Bild darstellen. Das ist dann sehr produktiv. Diese Leute, die alles darstellen können, diese ganzen Fernsehköpfe, das fängt ja jetzt auch an, absurd zu werden. Da ist dann der Kommissar im einen Sender, der im andern Film gerade verfolgt wird als Täter. Das ist alles eine Mehrfachbelichtung. Wir sehen eigentlich einen einzigen großer Film, tun aber so, als wären es mehrere Folgen in verschiedenen Sendern.
Was wir damals auf der documenta 1997 gemacht haben, in „48 Stunden Überleben für Deutschland“, ist, dass die Zuschauer am Ende zu Darstellern wurden, obwohl sie’s gar nicht wollten. Da war eine Gruppe von Japanern, denen wir immer zugerufen haben, gleich käme Helmut Berger, gleich geht’s los, er ist schon am Bahnhof angekommen… So haben wir die viereinhalb Stunden festgehalten, nur mit dieser Tatsache, dass bald Helmut Berger kommt. Und wenn sie dann gehen wollten, oder sich irgendwo hingesetzt haben, dann haben wir wieder gerufen: jetzt ist es soweit, dann kam Musik, die sind wieder aufgestanden und haben weiter gewartet. Im Fernsehen wird so was in 30 Sekunden als Gag abgehandelt, das war aber ein Prozess von vier, fünf Stunden, wo die noch ganz was anderes erlebt haben.

Was muss ein guter Film für Sie haben?


Total unterschiedlich. Ich hab jetzt eine Phase gehabt, da hab ich bei den einfachsten Liebesgeschichten im Fernsehen geheult, ich hab bei Dokumentationen über Tiere, die gequält werden, Heulkrämpfe gehabt. Ich bin gerade sehr weich und nah am Wasser gebaut, früher war ich ganz anders. Inzwischen ist es aber schon wieder besser geworden mit mir.
Ein guter Film ist für mich so was wie bei David Lynch. Wo ich ein paranoides System anschaue, und ich kann diesem System alles Mögliche abgewinnen, nur nicht die perfekte Interpretation. Das ist ja auch manchmal das Dilemma bei Kritiken, dass da immer ein Bemühen besteht, etwas Sinnvolles rauszusaugen. Ich finde es manchmal auch schön, wenn man bei einem Film, gerade beim Film, aber auch in der Bildenden Kunst, etwas Spirituelles entdeckt. Man muss das nicht immer totinterpretieren. Aber so sehen die Filme leider aus, dass sie alle interpretiert werden wollen. Sie wollen immer besonders genau das Thema erwischt haben, aber das ist ein grober Fehler. Das geht nicht wirklich an die Seele, die bleibt meist außen vor. Alfred Edel hat immer gesagt bei einem Drehbuch: „Ist es kausal oder akausal?“. Und wenn ich dann gesagt habe „akausal“, hat er gesagt: Dann ist es gut. Das war das Argument für einen guten Film.

Liegt das nun an den Filmen oder an den Kritikern, die die Filme überinterpretieren?

Ich glaube, dass wir selber auf diesem Schiff fahren. Wenn ich ein Drehbuch schreibe und will, dass das jemand fördert, schreib ich das garantiert anders. Die kulturelle Filmförderung damals war toll, weil sie Geld gab für sehr wirres Zeug manchmal, oder aufgrund von Kurzfilmen, die man zuvor gemacht hat, dann hat man Carte blanche gekriegt. Das war schon sehr gut. Aber da gab es dann einige, die haben nur noch ein Blatt hingeschickt: „Sie kennen mich, fördern Sie mich“, und das reicht dann auch nicht. Wir haben uns heute dahin erzogen, dass wir nicht mehr ästhetische Beweggründe haben, die Filme zu genießen. Oder auch zu hassen, das kann ja auch was Tolles sein.

Sie haben ja Anfang der 80er auch eine Trilogie zur Filmkritik gemacht, mit PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN, WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG und TUNGUSKA.


Ja, das war immer auch Thema von meiner eigenen Arbeit. Als ich zu Nekes kam, der ja so eine Art Mentor für mich war, wollte ich so richtig Spielfilme machen. Nekes hat aber immer Filme zerschnitten und dann neu zusammengeklebt, das waren dann nur noch Blitzer auf der Leinwand. Da konnte ich nichts mit anfangen, das war für mich Materialverschwendung. Ich habe dann nachher kapiert, was da noch drin ist, was da noch passiert. Das ist schwer beizubringen, wenn man das nur sieht, aber nicht erklärt bekommt. Da sind wir wieder bei dem Punkt Erklärungen, Interpretation, sinnvoll/nicht sinnvoll. Ich hab bei Nekes gemerkt: es muss nicht alles interpretiert werden. Man kann auch etwas als sinnvoll erachten, weil man es eben nicht kennt. Das ist meist sehr sinnvoll.


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