Freakstars 3000 - Christoph-Schlingensief-Edition #11

von Harald Mühlbeyer

Freakstars 3000

Deutschland 2003. Regie, Idee: Christoph Schlingensief. Kamera: Dirk Heuer und Meika Dresenkamp. Schnitt: Robert Kummer. Musik: Uwe Schenk. Produktion: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Royal Produktion und Filmgalerie 451.
Mit: Achim von Paczensky, Helga Stöwhase, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Werner Brecht, Horst Gelonneck, Axel Silber, Brigitte Kausch-Kuhlbrodt, Susanne Brederhöft, Irm Hermann, Christoph Schlingensief.
Länge: 75 Minuten.
Extras: Unveröffentlichte Szenen (30 Minuten), Biografie, Making of: Interview, Filmpremiere, Hofer Filmtage.
Sprachen: Deutsch, englische Untertitel
Code Free
PAL Farbe 4:3
Ton: Stereo
Anbieter: Filmgalerie 451.



Christoph Schlingensief bisher letzter Film „Freakstars 3000“ ist kein Spielfilm. Sondern eine filmisch ausgestaltete Dokumentation über ein Projekt Schlingensiefs an der Berliner Volksbühne. Und zugleich Teil dieses Projektes, das wahrhaft multimedial ist: eine Fernsehserie auf Viva und als Derivat ein Kinofilm, inszeniertes Theater und Beschäftigungstherapie für Behinderte. Diese mehrschienige Vermarktungsstrategie trifft genau aufs Ziel: Schlingensiefs ganz eigene Version eines TV-Castings, das statt eines deutschlandweiten Superstars den Superfreak finden soll. Selektion aus Behinderten: Dahinter scheint schon wieder Schlingensiefs Lieblingsthema, das Weiterleben nationalsozialistischer Umtriebe im bürgerlichen Gewand, auf.

Doch hauptsächlich ist Schlingensiefs Projekt eine Travestie auf Castingshows, die durch die einfache Substitution angehender hoffnungsvoller Superstars, die ja in die Elite des Prominentenhimmels gehoben werden wollen/sollen, durch die Ausgestoßenen, durch in Heimen untergebrachten Behinderten, funktioniert. Schlingensief setzt dem RTL-Superstar-Hype seine „Freakstars 3000“ entgegen. Der kalten Welt der Retortenmusik und des harten Wettbewerbs um einen Plattenvertrag, der zynischen Chuzpe, die Mechanismen künstlich geklonter Popmusik öffentlich im Fernsehen vorführen und durch multimedialen Hype zum Erfolg zu bringen, stellt Schlingensief das Casting in einem Behindertenheim gegenüber, in einem ebenfalls multimedialen Overkill. Nur mit umgekehrten Vorzeichen.

„Sehen Sie coole junge Menschen, die mit Talent und hundertprozentiger Hingabe ihren Traum von der großen Musikkarriere wahr machen“. Gemeint sind die Bewohner des Tiele-Winckler-Hauses in Berlin-Lichtenrade, „die so ganz im Vorbeisingen auf das große Problem der Nicht-Behinderten hinweisen.“ Eine Verkehrung der Umstände also: Statt Massenappeal von Bertelsmann und Springer, mit Fernsehen, Musik, „Bild“-Zeitung und Bohlens „Nichts als die Wahrheit“-Buch, der Blick auf die Minderheit, die in den Mittelpunkt gerückt wird und nun ihrerseits den Mainstream ausgrenzt. Alles Definitionssache.

Doch dabei belässt es Schlingensief nicht. Es wäre auch zu dünn, einfach den All-German-Superstars den Spiegel vorzuhalten, auf die RTL-Menschenverachtung mit verachteten Menschen zu reagieren. Eingeflochten in seinen Freakstars-Film werden auch Parodien anderer TV-Formate: Da ist „Freakmann“, der den Politikern des Landes wie Merkel oder Struck (ebenfalls von Behinderten in erstaunenswert authentischem Auftreten gespielt) auf den Leib rückt. Ähnlich im Presseclub, wo Schirrmacher- auf Uschi Glas- und Sigrid Löffler-Darsteller trifft (und ohne dass es auffallen würde spielt Brigitte Kausch eine Behinderte, die eine Nicht-Behinderte darstellt…); und immer wieder natürlich Werbung. Das heißt: Homeshopping für nützliche Haushaltsprodukte, von der Couch aus angepriesen, und Vorstellungen von CD-Compilationen berühmter Volksmusikinterpreten, die durch den Park des Behindertenheimes hampeln und deren Werke natürlich nicht im Handel erhältlich sind, sondern exklusiv per Anruf bestellt werden können, rufen Sie jetzt an!

Erstaunlich ist aber, wie Schlingensief auf einer ganz anderen, unerwarteten Ebene dem kalkulierten Erfolg der RTL-Superstar-Trommel entgegentritt. Hie die Maschinerie des TV-Events, die kalt berechnet auf eingeimpfte Hoffnungen der Kandidaten setzt und darauf, dass den Superstars keiner entkommen kann, Ehrgeiz und Ausbeutung, die zur Mainstream-Unterhaltung werden; und dort, bei Schlingensief: menschliche Wärme. Behinderte, die Freude daran haben, dass sie gefilmt werden, dass sie sich austoben dürfen, denen das Spiel Spaß macht. Und Schlingensief, der wirklich gerührt zu sein scheint: Sabrina, die es beim Casting in die zweite Runde geschafft hat, fängt an, vor übergroßer Freude zu weinen, und Schlingensief nimmt sie tröstend in den Arm und führt sie behutsam zur Pflegerin. Eine ausgesprochene Warmherzigkeit liegt in diesem Film, ein Charme, der von dem Spiel der Behinderten und von der Herzlichkeit Schlingensiefs ausgeht – das setzt den Film ab von Schlingensiefs harten Spielfilmen, aber auch vom RTL-Großkampf um die Quoten.

Und zu dieser Wärme gesellt sich die Tatsache, dass Schlingensiefs Projekt einer offensichtlich inszenierten Dramaturgie folgt. Schlingensief macht kein Hehl daraus, dass bei ihm sowieso zuerstmal alle Kandidaten in die zweite Runde kommen, dass dann aber doch ausgesiebt wird. Und dass dann die zum Zug kommen (und das heißt: zum großen Auftritt in der Volksbühne), die schon vorher mit Schlingensief in Theater- und Filmprojekten mitgewirkt haben: Kerstin Graßmann, die Merkelimitatorin und geoutete Nymphomanin, Mario Garzaner, der in „Die 120 Tage von Bottrop“ den Regisseur Sönke Buckmann gespielt hat, Achim von Paczensky, der unter anderem in Schlingensiefs „Talk 2000“-Talkshow als Heiner Müller aufgetreten ist.

Geht diese Absicht, die hinter dem Casting steckt, auf Kosten der abgewiesenen behinderten Aspiranten aus dem Tiele-Winckler-Haus? Werden die behinderten Sängerinnen und Sänger benachteiligt zugunsten von Schlingensief-Veteranen, weil sie von vornherein gar keine Chance haben auf den Auftritt, das Finale des Projekts?
Allerdings liegt die Herzlichkeit, mit der Schlingensief „seinen“ Behinderten begegnet, gar nicht im Widerspruch zu der vorgegebenen Dramaturgie seines Projektes. Denn letztere zielt vor allem auf den Inszenierungscharakter, der auch, freilich im Geheimen, offenbar RTLs „Deutschland sucht den Superstar“-Show anhaftet. Denn Schlingensief spricht offen aus, was bei RTL allenfalls heimlich vor sich geht. Waren nicht in der letzten „Superstar“-Staffel Vorwürfe laut geworden, dass die Live-Kamera auffällig häufig schon vor der Verkündung des TED-Ergebnisses den großen Verlierer / Gewinner zeigte, um sein enttäuschtes / glückliches Gesicht auch wirklich draufzuhaben? Und war nicht schon Stunden vor dem Finale und damit vor der Telefonabstimmung im RTL-Videotext der große Sieger verkündet worden? Alles Zufall, wiegelte RTL ab, ein Versehen eines kleinen Praktikanten, der eine Testseite reingestellt hat… Der große Skandal um Inszenierung und damit Täuschung der Öffentlichkeit ist weiteren „Superstar“-Staffeln vorbehalten, aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.


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