Tunguska - Christoph-Schlingensief-Edition #2
von Harald Mühlbeyer
Tunguska – Die Kisten sind da
Deutschland 1984. Regie, Buch: Christoph Schlingensief. Kamera: Dominikus Probst. Schnitt: Barbara Lamsfuß. Produktion: DEM Film, Oberhausen.
Mit: Mathias Colli (Rolf), Irene Fischer (Tina), Norbert Schliewe (Herr Norbert), Volker Bertzky (Tankwart), Christoph Schlingensief (Major Pater Hilf), Die Forscher: Alfred Edel (Roy Glas), Anna Fechter (Ireen Fitzler), Vladimir Konetzny (Lossowitsch).
Länge: 72 Minuten.
Extras: Interview, Presseschau, Kurzfilme: „Phantasus muss anders werden“ (1983, 9 Minuten), „What happened to Magdalena Jung“ (1983, 13 Minuten).
Sprache: Deutsch
Code Free
PAL Farbe 4:3
Ton: Dolby Digital 2.0
Anbieter: Filmgalerie 451.
Tunguska: Dort, mitten in Sibirien, ereignete sich 1908 eine gewaltige Explosion. Im Umkreis von etlichen hundert Kilometern war die Druckwelle zu spüren, der gewaltige Feuerschein in großer Höhe zu beobachten. Die Ursachen sind unklar: Ein Meteorit? Eine Erdgasexplosion? Der Absturz eines Ufos?
Schlingensief nimmt dieses Ereignis als Metapher, verpackt in eine Gutenachtgeschichte in seinem Film „Tunguska“: Ein tölpelhafter Tanzlehrer kann sich nicht richtig bewegen, stößt mit allem zusammen, bis nach einer gewaltigen Explosion seine Welt von oben nach unten, von innen nach außen gestülpt ist. In diesem Chaos ist er der einzige, der den blauen Bauklötzen, die die Betroffenen staunen, ausweichen kann. Eine kleine Parabelgeschichte: Im Wahnsinn der Welt ist der Verrückte der Normale.
„Tunguska“, Schlingensiefs erster Langfilm, ist eine Positionsbestimmung: Abseits vom Normalen, Konventionellen, losgelöst vom Erzählkino und doch damit verbunden. Eine Handlung ist erkennbar, doch sie ist in den Wahnsinn, auch in den Unsinn verschoben: Tina und Rolf, ein junges Ehepaar, sind ohne Benzin gestrandet in einer tristen Welt, dort geraten sie in die Fänge von Avantgarde-Forschern, die dem Zeitgeist nachspüren. „Ich bin Biologin für Wahrnehmungsobjekte und den damit verbundenen Phänomenen wie zum Beispiel das Über-Kreuz-Gehen, Reaktion durch eingeschränktes Gesichtsfeld und den damit verbundenen Skleroseerscheinungen beziehungsweise Einschränkungen der Körper- und insbesondere der Nackenmuskulatur“, erklärt Frau Ireen Fitzler aus dem Forschungsteam. Tatsächlich gebärden diese drei Typen – neben ihr noch Roy Glas und Lossowitsch – sich wie die Irren, die all ihr Handeln mit der Forschung begründen. Sie bedrängen und vereinnahmen Tina und Rolf, schreien, schmeicheln, gehen sie an, treiben und bremsen, scheinbar ohne System, ohne Plan: Sie sind Ausformungen von Schlingensief-Charakteren in allerfeinster Reinheit. Die „Normalen“ werden in die Passivität gezwungen, Tina und Rolf haben keine Chance gegen die Übermacht des Chaos, das sie anficht.
Hier steckt der Kern der schlingensiefschen Intention: Tina und Rolf, das sind metaphorische Substitutionen des Kinozuschauers, der gepackt wird von fremdartigen Gestalten und Handlungen. Hier setzt seine Hauptkritik am Kino, am Film an sich an: Wider das Erzählkino will er die Situation des Zuschauers bewusst machen, der dem Film ausgesetzt ist, ihm hilflos gegenübersitzt. Diesen arglosen Naivlingen, die in einer fremden Welt gefangen, das heißt: einem Film ausgeliefert sind, stellt Schlingensief – ein dialektischer Widerspruch – gerade Ausgeburten schlingensiefscher Phantasie gegenüber. Da sind die bedrohlichen Forscher, da ist Herr Norbert, der mit seiner Eule schmust, der mit der Gitarre ums Feuer tanzt, der Papa und Mama vermisst, da ist Major Pater Hilf, der falschen Symbolen eine reinigende Flamme entgegenhalten will. Kritik also am Kino, das den Zuschauer ausschließt, gleichzeitig Schlingensiefs Verrückte allegorisch als Extremvariante dieses Kinos: Eine Verzettelung der Metaphorik, die sich spiegelt in dem changieren von „Tunguska“ zwischen verschiedenen Genres: Liebes- und Horrorfilm, Action-, Berg-, Experimentalfilm und gleichzeitig deren Parodie.
Ein Spiel mit filmischen Formen: Schlingensief verschlingt seine Erzählstränge – scheinen in der ersten Viertelstunde nicht die Forscher einen Film anzuschauen, der die Geschichte von Tina und Rolf zum Inhalt hat? Dann aber treffen die scheinbar ontologisch getrennten Geschichten aufeinander, der Zuschauer erkennt, dass er der Falle einer falschen Fährte filmischen Verstehens aufgesessen war…
Zusätzlich noch wird auch das Medium Film thematisiert, der physikalische Träger von Handlung, Gedanken und Emotionen, der so verletzlich ist: Immer wieder brennt dieser Film namens „Tunguska“ scheinbar im Projektor durch, reißt, springt, ist ganz und gar verschabt, wird zu einem schwarz-weißen Flackern und geht schließlich auf in Oskar Fischingers Klassiker des experimentellen Films „Komposition in Blau“ (1934), ein Spiel von Formen und Farben zu klassischer Musik. Ein bewusst herbeigeführtes Herausreißen des Zuschauers aus der filmischen Illusion, indem dem Film selbst seine Fehlerhaftigkeit eingeschrieben wird.
„Tunguska“ ist der dritte Teil von Schlingensiefs „Trilogie zur Filmkritik: Film als Neurose“, der zudem die Kurzfilme „Phantasus muss anders werden“ und „What happened to Magdalena Jung“ angehören. In „Phantasus“ wird abstrakt die Situation von Zuschauer und Film veranschaulicht: Ein starrendes Baby, eine wollüstig stöhnende Frau, ein schreiender Schlingensief, eine Familie, die auf einer Bühne sich in Turnformationen hinstellt. „Magdalena Jung“ folgt eher einer Geschichte, Magdalena nämlich kann fliegen, gegen alle Naturgesetze, und dieses Fliegenkönnen wird analytisch seziert von einem Erzähler und von einer Art TV-Ansagerin. Der Film ist eine Übung in Ungeniertheit, einem Schlüsselwort, das immer wieder auftaucht; Ungeniertheit auch der filmischen Tricks, wenn ein fahrender Zug simuliert werden soll, indem Pappbäume am Fenster vorbeigezogen werden. Und die fliegende Magdalena hat ein dickes Seil um den Körper gebunden…
Mit seiner Trilogie lehnt sich der junge Christoph Schlingensief auf gegen das herkömmliche Kino. Zuvor war er Assistent bei Werner Nekes, der ihn in die Welt des formbestimmten Experimentalfilms eingeführt hat, als Kameraassistent bei Franz Seitz’ Millionenproduktion „Dr. Faustus“ (1982) hat er gesehen, welche Geldsummen das Erzählkino verschlingt. Dem setzt er sein 30.000 DM-„Tunguska“ entgegen, ein Tanz mit der Form und mit dem Kino an sich. Er will, und das ist ein Credo all seiner weiteren Filme, sich nicht auf filmische Theorien einlassen, will nicht, dass die Kritik nach der Aufführung den Film besiegt. Bewusst lässt er Interpretationen offen, lässt seine Filme schillern in Symbolen und Metaphern, die nach Belieben deutbar sind. Und antwortet mit drei verrückten Wissenschaftlern, die für ihre Forschungen Freiheiten beschränken, die der Meinung sind, dem Zeitgeist der Avantgarde auf der Spur zu sein. Genau dieses Verlangen, Phänomene zu bestimmen und zu kategorisieren, greift Schlingensief an, die konstante Theoriebildung, der sich dann der Film anzupassen hat. Doch wer wollte bestimmen, welche Theorie über die Explosion in Tunguska, über das Schauspiel von Chaos in der sibirischen Wüste, die richtige ist?
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