Das deutsche Kettensägen-Massaker - Christoph-Schlingensief-Edition #7

von Harald Mühlbeyer

Das deutsche Kettensägenmassaker – Die erste Stunde der Wiedervereinigung

Deutschland 1990. Regie, Buch, Produktion: Christoph Schlingensief. Kamera: Christoph Schlingensief, Voxi Bärenklau. Musik: Jacques Arr.
Darsteller: Karina Fallenstein (Clara), Susanne Bredehöft (ihr Mann / Margit), Brigitte Kausch (Brigitte), Alfred Edel (Alfred), Dietrich Kuhlbrodt (Dietrich), Volker Spengler (Hank), Artur Albrecht (Artur), Udo Kier (Jonny).
Länge: 60 Minuten.
Anbieter: Filmgalerie 451.
Extras: Interview, Kinotrailer
Untertitel: Englisch
FSK: Ab 16 Jahren
Code Free
PAL Farbe
4:3
Ton: lautes Mono


Am Anfang ist da das Archivmaterial vom Rausch der deutschen Wiedervereinigung, all die Granden der Bonner Republik stehen auf einem Podium, die wirklichen Heavies: Kohl, Brandt, Genscher, Lafontaine. Und Richard von Weizsäcker, der eine flammende Rede hält – und dann, abgewandt, aber noch immer ins Mikrophon ein „Jetzt muss die Nationalhymne kommen“ murmelt. Ein Satz, der das ganze Pathos, die ganze hochgeschichtliche Atmosphäre als gestellt, als falsch, als vollkommen künstlich entlarvt. Ein ganzes Volk im Taumel, Fahnen, das Brandenburger Tor, das Lied der Deutschen: Ein Fall für Schlingensief. Und Schlingensief greift ein.

Er arrangiert eine Zwangsheirat zwischen dem politischen Einheitsspektakel und Tobe Hoopers „The Texas Chain Saw Massacre“, dem Horror-Klassiker von 1974. Er erzählt von Clara, die in den Westen kommt und dort, wie so viele andere Ossis vor ihr, zu Wurst verarbeitet werden soll. Der Schauplatz ist ein verlassenes Industriegelände bei Duisburg: Der Verfall des Kapitalismus, der hier ins Extreme verzerrt wird, ist damit schon angedeutet. Ein Kapitalismus, der die Menschen durch den Wolf dreht, ein schlingender Moloch, für den der Einzelne nur Kanonenfutter ist.
Während bei Hooper normale Teenager mit dem unbegreiflichem Horror konfrontiert werden, mit mörderischem Wahnsinn, sind bei Schlingensief alle einheitlich verrückt: irre, rasende, delirierende Typen, die aufeinandertreffen: Nicht Normalität und Wahnsinn, sondern Wahnsinn und Wahnsinn. So hintergeht Schlingensief trotz Splatter-Effekte jeden Horror, jede Spannung, jede Dramaturgie. Er lässt seine Figuren (gespielt von den üblichen Verdächtigen) grölen und schreien und sich als Geistesgestörte gebärden; jeder Identifikation mit einem der Charaktere ist somit von vornherein der Wind aus den Segeln genommen.

Hoopers Hillbilly-Kannibalen haben bei Schlingensief mit Wahn und Blutrausch die ganze Welt infiziert. Und sie haben auch das Medium Film nicht ungeschoren gelassen.
Bewusst dilettantisch legt Schlingensief seine Kinematographie an, lässt alles um zwei Grad schlechter aussehen als nötig, lässt alles um fünf Grad irrsinniger werden als möglich. Und schafft damit nicht zuletzt durch die Verweigerung von konventioneller filmischer Form und Stringenz – wie sie ja gerade im spannungsheischenden Horrorthriller geradezu unumgänglich ist – die Parodie eines ganzen Filmgenres. Sequenzen aus dem „Texas Chain Saw Massacre“ stellt er in vollkommen verzerrter Weise nach, übernimmt einiges aus Hitchcocks „Psycho“ – und verwurstet alles zu einer seltsamen Sülze mit einer Menge Restestückchen.

Aber im Vordergrund steht natürlich der politische Einheitsprozess, dem Schlingensief hier filmisch den Garaus macht. Auf dem Dachboden hockt das Skelett vom Opa inkl. Stahlhelm, und Alfred Edel hält ihn á la Norman Bates lebendig, nicht nur in der Erinnerung, sondern auch, indem er ihn mit Fistelstimme Befehle erteilen lässt. Susanne Bredehöft ist eine Kampflesbe, die es auf Claras Ossi-Fleisch auf ganze andere Weise abgesehen hat als der Rest der Kannibalenbande. Claras Geliebter Artur, der schon eine Weile im Westen ist, ist bereits vom Softie zum geilen Hengst mutiert. Offene Grenzen bedeuten offene Moral, eine Vergewaltigung Claras unter Betonstelen wird nur durch Volker Spengler (in Regenmantel und Stahlhelm) verhindert, der ihm mit einem Stein den Schädel einschlägt. Spengler als Hank ist Leatherface nachempfunden, seine hirnlose Gewalttätigkeit ist die Frucht einer inzestuösen Liebe. Seine Blutsverwandten (und teilweise eben auch Eltern), die den Schlachthof betreiben, sind auf ihre wahnsinnige Art planvoller zu Gange, sie locken die Trabis in die Falle, treiben die Insassen vor die Kettensäge, in die Wurstküche. Und Udo Kier als Jonny taucht auch mal auf, zündet sich die Haare an und hackt sich die Hand ab, um sich mit dem blutigen Stumpf zu bekreuzigen. „Jonny brehennt, Jonny brehennt!“ – „Mensch, jetzt mach nicht so nen Scheiß.“ Wenn der Wahnsinn allgegenwärtig ist, wird er zur Normalität. Und jede Zurechnungsfähigkeit ist verloren im Chaos der Welt.
Einer Gesellschaft der Degenerierten, der Pervertierten setzt Schlingensief sein filmisches Denkmal, oder besser: Mahnmal. Ein Mahnmal der Wiedervereinigung, kurz nach dem 3. Oktober 1990 gedreht, schrill und laut – und von heute aus betrachtet durchaus wahr, denn Schlingensiefs blühende Landschaften bestehen aus fleischfressenden Pflanzen.

Doch es ist auch nicht einfach eine kritisch-persiflierende Parabel auf den Kapitalismus. Am Anfang in Leipzig bringt Clara ihren Mann um, der nach Hause kommt und geil ist, weil er vom neuen Westchef drei Mark Gehalt bekommt. Er pinkelt in die Wanne und will sie besteigen, und sie sticht ihn ab. Chauvinismus gibt es auch in der DDR, ebenso wie blutige Rache: Nicht der Westen macht aus dem Menschen einen Wolf unter Wölfen. Das ist vielmehr in seiner Natur grundsätzlich angelegt. Clara killt ihren Mann – nicht etwa einfach wegen dessen männlicher Gewalt, sondern auch, das wird sich später erweisen, weil im Westen ihr Liebhaber Artur auf sie wartet. Und dass es Schlingensief nicht um einfache Genderproblematik geht, zeigt sich schon darin, dass Claras Mann von einer Frau gespielt wird, von Susanne Bredehöft, die später in einer anderen Rolle als Margit mit Clara einen tödlichen Lesbenfick durchzieht.
Ein pervertierter Freiheitsbegriff durchzieht den Film, Claras Freiheit von der Ehe erficht sie mit dem Messer, sie fährt in den freien Westen, wo die Metzger warten. Dazwischen, an der ehemaligen Grenze, halten ein paar durchgeknallte Vopos (darunter eine ganz ausgeflippte Irm Hermann, eine weitere Fassbinder-Veteranin in Schlingensiefs Sammlung) die Schranken nieder: Zwar wissen sie, dass die Mauer gefallen ist, aber sie haben ja sonst nichts zu tun. Am Ende des Films singt eine zerstückelte Brigitte Kausch, in ihrem eigenen Gedärm liegend, „Die Gedanken sind frei“.

Im Grunde ist der Film, wie fast alles, was Schlingensief macht, Nonsens, der nicht als Witz erzählt wird. Gegen Ende wird der mehrmals zerschlagene und zerstückelte Artur sich die Make-Up-Fetzen vom Gesicht reißen und meckern: Ich mach nicht mehr mit! Ein solcher Bruch mit dem Film ist der offenste Gag im Film, ein Witz, den der Zuschauer als Witz erkennt. Aber andererseits: Brigitte laut schreiend ins Telefon: „Margit? Wir haben zu tun, mach deine Scheißarbeit alleine!“ Alfred, der neben ihr steht, auch laut: „Wer war’s?“ Brigitte, noch immer laut: „Margit! Sie soll ihre Scheißarbeit alleine machen!“ Derartige Dialoge über völlig fehllaufende Kommunikation gibt es einige im „Kettensägenmassaker“, übernommen vielleicht aus der Fernseh-Dutzendware, völlig sinnfrei, völlig überdreht. Nur, dass Schlingensief sie nicht pointiert vorsetzt, keine witzige Spannung zwischen den Film und den Zuschauer bringt, vielmehr den Wahnsinn direkt und unverstellt auf die Leinwand loslässt. „Wenn alles möglich ist, ist es unwichtig, ob etwas richtig oder falsch ist“, heißt es im Film, beziehungsweise abgewandelt: „In einer Zeit, in der alles wurscht ist, ist es egal, ob etwas gut oder schlecht ist.“
Im (interessanterweise mit Bibelverweisen gespickten) Interview, das auf der DVD dem Film beigegeben ist, vergleicht Schlingensief seinen Film mit einer Zwiebel. Hinter der schreienden Oberfläche fänden sich andere Bedeutungen, andere Ebenen, die man eine nach der anderen abschälen könne, bis am Ende die Angst als innerer Kern herauskomme.
Vielleicht hat Schlingensief recht mit seiner Zwiebelmetapher, und vielleicht ist sie richtiger, als er ahnt: Wenn man eine Zwiebel immer weiter schält, wenn man immer tiefer dringt: Dann muss man erstens immer mehr heulen; und zweitens findet man innen keinen Kern, es bleibt einfach nichts übrig außer Zwiebelschalen.
Und ich meine, dass Schlingensief mit seinem Kino genau in diese Leerstelle im Inneren der Zwiebel, des Kinos, der Gesellschaft vordringen will.


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