Die 120 Tage von Bottrop - Christoph-Schlingensief-Edition #10

von Harald Mühlbeyer

Die 120 Tage von Bottrop - Der letzte Neue Deutsche Film
D 1997. Regie: Christoph Schlingensief. Buch: Christoph Schlingensief, Oskar Roehler. Kamera: Christoph Schlingensief. Musik: Helge Schneider. Produktion: Christoph Schlingensief, Henning Nass.
Darsteller: Irm Hermann (Irm Hermann), Mario Garzaner (Sönke Buckmann), Volker Spengler (Produzent), Margit Carstensen (Margit Carstensen), Martin Wuttke (Christoph Schlingensief), Dietrich Kuhlbrodt (Kritiker), Irmgard Freifau von Berswordt-Wallrabe (Leni Riefenstahl), Oskar Roehler (Riefenstahls Assistent), Udo Kier (Udo Kier), Christoph Schlingensief (Christoph), Helmut Berger (Helmut Berger).
Anbieter: Filmgalerie 451
Länge: 60 Minuten
Extras: Interview mit Christoph Schlingensief, Presseschau
Sprache: Deutsch, englische Untertitel
FSK: ab 12 Jahren
Codefree
PAL/Farbe und S/W
Bildformat: 4:3
Tonformat: Dolby 2.0


In Oberhausen hat alles angefangen. Hier wurde 1960 Christoph Schlingensief geboren, und hier wurde auf den Kurzfilmtagen 1962 das Manifest verfasst, das den Neuen Deutschen Film begründete. 1997 war dann alles vorbei: Christoph Schlingensief trug den kinematografischen Aufbruch selbst zu Grabe – in „Die 120 Tage von Bottrop – Der letzte Neue Deutsche Film“.

Im Fernsehen läuft die Verleihung des deutschen Filmpreises 1996, Motto: Die Nacht der Komödianten. Katja Riemann zeigt ihr Kleidchen, Veronika Ferres hält eine Rede, Götz George ballt seine Faust, und im Publikum sitzt Manfred Kanther und findet sich gut. Eine masturbatorische Gala des deutschen Films, Selbstbeweihräucherung, die nach Eigenlob stinkt, angestrengter Glamour, um die Fassade des deutschen Films schön zu schminken. Schlingensief lässt, hineingeschnitten in die Fernsehaufzeichnung der Preisverleihung, einen behinderten Regisseur namens ausgerechnet Sönke Buckmann auftreten, der einen Preis erhält für „Die Supermänner beim Totmacher“, und der mit Fassbinder-Veteranen nun ein Remake von Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ drehen darf. Der letzte Neue Deutsche Film wird das, wie der Produzent, gespielt von Volker Spengler, verkündet. Der letzte, tatsächlich: Aus kommerziellem Interesse wird ein „heißer“ Regisseur engagiert, um einen Autorenfilm zu drehen. Schon diese Tatsache beschreibt den Ausverkauf der Kunst, aus dem auteur wird wieder der réalisateur.
Film als Antikunst

Schlingensief will Film als Antikunst etablieren; zumindest agitiert er gegen die Kunst, die sich ins Kommerzielle erstreckt, und setzt dem seine Ästhetik des Hässlichen, seine Kunstfertigkeit des Dilettantischen, seine Polemik der Provokation entgegen. Er stellt gegen die Selbstbespiegelung des deutschen Kinos sich selbst in den Mittelpunkt, mit inszenierten Skandalen und demonstrativ schlechtem Geschmack. Diese Haltung ist durchaus eitel, aber sicherlich auch ironisch: In seinen „120 Tagen“ lässt er Martin Wuttke als Christoph Schlingensief auftreten, während der echte Schlingensief in Hollywood zusammen mit Udo Kier versucht, Helmut Berger für das Projekt zu gewinnen – und in manchen Szenen ist Schlingensief, der Regisseur außerhalb der Spielhandlung, mit Anweisungen an seine Schauspieler zu hören.

Wuttke als Schlingensief ist komplett wahnsinnig – aber das ist im Grunde kein Kriterium, weil die Kategorie des Normalen ohnehin nichts zählt bei Schlingensief, und in den „120 Tagen“ schon gar nicht. Alles gerät zum Absurden: Wuttkes Schlingensief läuft als Messias herum, mit weißem Gewand, Stigmata und Dornenkrone. Cast und Crew warten auf den großen Star Helmut Berger, der vielleicht wie Godot nie auftauchen wird. Margit Carstensen, die wie ein gealtertes Schulmädchen durch die Dreharbeiten stolpert, fällt mehr und mehr dem Wahnsinn anheim, der um sie her gährt. Sie stürzt sich mit angeklebtem Fassbinderschnurrbart mehrmals aus dem Fenster wie Polanski in seinem „Der Mieter“(1976).
Am Telefon hat sie vom Tod von Rainer Werner Fassbinder erfahren, und plötzlich setzt eine Art Ehrenhommage ein. Bei einem Abendessen im pasoliniesken Set wird für ihn „Ich hatt einen Kameraden gespielt“, ein musikalisches Zitat aus Schlingensiefs „100 Jahre Adolf Hitler“. Und weil man gleich dabei ist, wird auch gleich für Fassbinder- (und Schlingensief-)Veteran Alfred Edel (gestorben 1993) mitgesungen. Einerseits also eine Art Klassentreffen: Irm Herrmann, Margit Carstensen und Volker Spengler treffen am Set des Films im Film aufeinander, „die letzten Überlebenden der Fassbinderzeit“, die inzwischen auch zu den Veteranen des schlingenschiefschen Kinos gehören. Sie spielen sich selbst, wie sie einen Pasolini-Film nachinszenieren als Hommage an Fassbinder. Das ist die andere Seite: Schlingensief zeigt, im Verbund mit Co-Autor Oskar Roehler, wie diese ehrende Wiederverfilmung in kommerziellen Erwägungen gründet – und gibt allem ironischerweise den dicken Anstrich schlingensiefscher Ästhetik, schlingensiefscher Dramaturgie, schlingensiefscher Groteske.

Im Grunde sind Schlingensiefs Filme Auseinandersetzungen mit dem Zusammenspiel zwischen Kunst und Wirklichkeit; und beide Ebenen versetzt er in seinen Filmen in einen anderen, überpegelten Zustand: Das ist eines von Schlingensiefs großen Themen, die strukturelle Funktionsweise von Film, die er dann wieder lustvoll zerstört. Seine Bezugnahmen sind dabei durchaus konkret: „Mutters Maske“ (1987) ist ein parodierendes Remake von Veit Harlans Melodram „Opfergang“ (1944), im „Deutschen Kettensägenmassaker“ (1990) findet das Blutgericht nicht in Texas, sondern in Deutschlands Westen statt, wo ahnungslose Ossis verwurstet werden. „Menu total“ (1987) verwendet Versatzstücke der Ikonographie verschiedener Genres, um eine wilde Familiengeschichte von Inzest, Kannibalismus, Rache und Krieg zu erzählen.

Überpegelte Wirklichkeit


„Die 120 Tage von Bottrop“ freilich gehen einen Schritt weiter als die anderen Schlingensief-Filme. Der Titel spielt an auf die Warner Movie World in Bottrop, den Vergnügungspark rund um den Film: Film wird hier zum bloßen Entertainment-Spektakel reduziert, eine simple Simulation von Hollywood-Glamour. Ganz explizit zeigt Schlingensief in seinem Film die Entstehung eines Filmes. Und vermeidet dabei zugleich jede Eindeutigkeit: Alles sieht aus wie ein Schlingensief-Film, doch in der Fiktion führt nicht Schlingensief, sondern Sönke Buckmann Regie, der behindert ist und in österreichisch-hitlerischem Sprachduktus seinen Unsinn von sich gibt. Das Filmemachen selbst wird immer wieder als militaristisch-faschistoider Prozess beschrieben. Das Casting ist ein Morgenappell nackter männlicher Komparsen, die herumkommandiert werden; und dann nimmt Volker Spengler einen der Schwänze in den Mund. Ebenso wie in Pasolinis an de Sade angelehnter Version des Faschismus führt auch Schlingensief den Konnex zwischen Totalitarismus und Sexualität vor – heruntergebrochen auf das Filmemachen. Die Kamera in seinem fiktiven Film führt Leni Riefenstahl, die Ästhetikerin des dritten Reiches – ihr Assistent, gespielt von Oskar Roehler, ist gekleidet im Habitus von Helge Schneider, der wiederum die Musik zum Film komponiert hat.

So heißt Film im Film bei Christoph Schlingensief nicht einfach Verschachtelung der Ebenen, sondern eine Verknüpfung aller möglichen Assoziationen. Film im Film heißt auch nicht einfach selbstreferentielle Spiegelung im Film, eine (meta)thematische Beschäftigung mit einem Film in einem anderen oder mit dem Wesen des Kinos. Vielmehr begreift er die Doppelung des Films als eine weitere Drehung des Strudels, den seine Filme erzeugen, ein Strudel weit hinunter in die rudimentären Grundlagen von Kino, von Kunst an sich, die ergründet, bloßgelegt, entstellt werden.

Bei Schlingensief, und hier vor allem im „Bottrop“-Film, sind die Ebenen untrennbar ineinander verbunden, verwoben, verschweißt. In seinen Filmen nimmt er verschiedene Elemente, fügt sie unter hohem Druck zusammen, bis sie verschmelzen: Eine filmische Kernfusion, die eine Menge ungerichteter Energie und allumfassende Zerstörungskraft freisetzt. Die „größte Baustelle Europas“ am Potsdamer Platz dient als Drehort für seinen Pasolini-Film im „Bottrop“-Film, eine passende, ironisch gebrauchte Metapher: Unfertig liegt alles zerstört da, Lärm und Ödnis; und irgendwann wird daraus etwas Neues entstehen, ausgerechnet ein Musicalpalast, ein Einkaufszentrum, zwei Kino-Multiplexe. Hat Schlingensief das geahnt? Hat er auch geahnt, dass Oskar Roehler knappe zehn Jahre nach „Bottrop“ mit ausgerechnet Eichinger drehen und dass „Elementarteilchen“ im Berlinale-Wettbewerb eben am Potsdamer Platz uraufgeführt würde – der kaum mehr ist als ein Remake (oder vielleicht eine Fortschreibung) des vorherigen „Agnes und seine Brüder“ –also ebenfalls ein Ausverkauf der Kunst? So absurd, bizarr und grotesk überzeichnet Schlingensiefs Filme sind: Immer wieder werden sie doch von der Wirklichkeit eingeholt. Vielleicht also ist die Welt tatsächlich so, wie Schlingensief sie in seinen Filmen darstellt, und seine Kunst stellt sie nur da, überhöht, aber wahrheitsgemäß.


Dieser Artikel ist auch erschienen in der letzten Printausgabe von Screenshot - Texte zum Film mit dem Schwerpunktthema "Film im Film". Die Zeitung kann bestellt werden unter redaktion(a)screenshot-online.com.

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