Ecce homo – Schlingensief ist tot
Irgendwie habe ich geahnt, dass Christoph Schlingensief in diesen Tagen sterben wird. Nein, nicht einfach nur, weil er an Krebs erkrankt war, das ist ja nun schon seit Jahren bekannt. Sondern weil ich jetzt erst, letzte Woche, begonnen habe, sein Erkrankungs-Tagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ zu lesen (und als ich am Sonntag von seinem Tod erfuhr, war ich auf den letzten Seiten angelangt). Das ist nun doch schon ein schlingensiefscher Moment: Er stirbt, während ich sein Buch lese, ein Buch, in dem er immer wieder bohrend nach dem Urgrund seines Krebses sucht, immer wieder metaphysisch-spirituelle Verbindungen beschreibt, die für ihn manchmal durchaus real sind: Verbindungen zum sterbenden Vater, zu Gott, Jesus und Maria, zu Richard Wagner. Gibt es solche übersinnlichen Fähigkeiten auch zwischen dem Buch auf meinem Sofa und Schlingensiefs Krankheitsverlauf? Habe ich vielleicht mit der Lektüre unbewusst deshalb so lange gezögert, damit er weiterleben kann? Und diesen Pakt mit Gott, Schicksal oder vielleicht auch Schlingensiefs Astral-Ich (oder was weiß ich was) dann doch gebrochen? Bin ich Schuld an seinem Tod?
In „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ ist ein Schlüsselbegriff die Freiheit. Von ihr ausgehend dekliniert Schlingensief Leiden und Tod, Religion und Liebe durch, sein eigenes Schaffen wie das Bemühen anderer für ihn. Freiheit: das ist ihm ganz wichtig, und zugleich bringt er den Begriff nicht auf einen Punkt, will es nicht, kann es vielleicht auch nicht, weil immer wieder das Dialektische, Paradoxe von Leben und Tod in die Quere kommt. Diese Verschriftlichung seines Leidensweges ist voller Widersprüche, der Widersprüche im Empfinden wie im Denken: ohne Probleme – und ohne dass es problematisch werden – stehen da von Tag zu Tag, von Passionsstation zu Passionsstation gegensätzliche Meinungen und Emotionen gegenüber, unvereinbar. Und daneben, darüber eine stetige Wärme, eine Liebe, die sich gerade in der Suche nach Liebe ausdrückt, eine seltsame Harmonie. Wie sie sonst in seinem Werk selten zu finden ist, am deutlichsten wohl in „Freakstars 3000“, einer Castingshow-Persiflage nicht mit Supertalenten, sondern mit Behinderten. Mit denen er ganz lieb, überaus herzlich und voll Innigkeit umgeht.
Dabei sind seine sonstigen Filme vor allem Angriffe. Angriffe auf die Verhältnisse, Angriffe auf die Zuschauer. Angriffe, die sich weniger in ihren Inhalten, in ihrem Dargestellten ausdrücken: Kacken und Ficken, Töten und Vergewaltigen sind ja an sich nicht unbedingt anstößig in ihrer Abstößigkeit (sondern das Beste zum Beispiel an einem Historienschinken wie Jo Baiers „Henri 4“, und in unterschiedlichem Maße auch in US-Mainstream-Filmen von Komödien um Apfelkuchen bis zu (demnächst) Sly Stallones „The Expendables“ zu finden). Es ist die Lautstärke bei Schlingensief, die verstört, und zwar nicht der reine Geräuschpegel, den man mit der Fernbedienung runterschrauben kann. Auch wenn man ganz leise schaltet, ist alles Krach: die Figuren schreien sich permanent an, in ganz disparaten Tonlagen, wie die Verrückten, mit unglaublicher Aggressivität, so dass beim „Deutschen Kettensägenmassaker“ oder beim „Terror 2000“ oder bei „United Trash“ der Splatter eben nicht nur auf dem Bildschirm, auf der Leinwand stattfindet, sondern aus den Lautsprechern auf den Zuschauer eindringt. Unterstützt wird diese Attacke durch den schnellen, hitzigen Filmschnitt, den Schlingensief unter dem Namen Thekla von Mühlheim oftmals selbst verbrach: eine Montage, die die Bilder, die Handlungen verhackstückt und absichtsvoll de-arrangiert.
Auseinanderzerren und Zerlegen, und zwar nicht mit Chirurgenwerkzeug, sondern mit der Kettensäge: wahrscheinlich wollte er das mit seinen Filmen durchführen, nicht um der Zerstörung willen, sondern, um das Innere freizulegen. Und zugleich nahm er Bilder, Motive, Diskursversatzstücke aus der Realität, schichtete sie übereinander, bis zumindest einige unter der Last zerbrachen, zermatschte sie auch mitunter zu einem grauen Brei, legte sie als nichtpassende Puzzlestücke aneinander, zeigte die Brüche und Widersprüche, die in ihnen steckten, indem er sie zerbrach und ihnen genau dadurch – negativ mal negativ – widersprach.
Der Angriff der Kunst auf den Zuschauer, das Überspringen der Barriere, das er mit einem erweiterten Theaterbegriff zelebrierte und das er, so gut es geht, auch bei seinen Filmen versuchte, wurde oft als Provokation ausgelegt. Dabei war es nur ein Bemühen um Unmittelbarkeit, um Erleben, um Wahrhaftigkeit: der Zuschauer sollte involviert sein, sollte Reaktion zeigen auf das, was er sieht. Sollte sich auseinandersetzen mit dem, was ihm vorgesetzt wurde – mit den Filmen und in den Filmen, in die allerhand reingestopft wurde, in denen es schlicht um alles ging. Oder um nichts.
Was in seinem Kopf umherspukte, bannte er auf Leinwand – später auf die Bühne, ins Fernsehen, auf Kunstperformances, in Bücher, in Monologe: sein künstlerisches Leben – und das heißt nichts anderes als sein gesamtes Leben – war ein Ausbrechen, ein Aussprechen, eine Auseinandersetzung weniger mit der Welt als mit den Bildern, die wir uns von der Welt machen, besser: die uns über die Welt vorgesetzt werden. Die Medien-, Bilder-, Motiv-, Genre- und Mythengeschichte nahm er wörtlich als Geschichte, als Gutenachtgeschichte, als Märchen – in denen ja auch ein Kanon von symbolisch verschlüsselten Motiven immer neu arrangiert ist, auch ausgetauscht oder kopiert werden kann. Nur, dass Märchen einen Sinn haben, eine Moral, damit eine Klarheit von Aussage und Verständnis, der sich Schlingensief immer verweigerte.
Weil es sie in seiner Welt – sprich: in unserer Welt – nicht gibt und nicht geben kann. Tief drinnen, in all dem vielfältigen Gemetzel, die seine Filme darstellen, wenn sie Schneisen schlagen durch das Denken, wenn sie sich wie wahnsinnig gebärden, weil sie Wahnsinniges darstellen, wenn in ihnen wieder Mal alles ineinander, übereinander, umeinanderstürzt: tief drinnen liegt so etwas wie eine Sehnsucht nach Humanismus, nach moralischen Werten. Die werden in seinen Filmen nie negiert, nämlich deshalb, weil es sie in ihnen nie gegeben hat, nie gibt; in dieser Abwesenheit, in dieser Leerstelle im Inneren liegt der Kern der Filme; ein abwesender Kern, wo um ihn herum alles, alles, alles da ist.
Was aber alles vielleicht auch ganz anders ist; denn Schlingensief, der Darsteller, Inszenesetzer und Performer von Widersprüchen, ist zugleich ein Meister des Blödsinns, des ausgemachten Quatsches, nicht nur in seinen Zusammenarbeiten mit Helge Schneider. Weshalb bei ihm niemals klar ist, was er ernst meint; wenn er etwa in seinen Filmen seine Figuren aphorismusähnliche Sätze in die Welt brüllen lässt, oder wenn er in Interviews seine Sicht der Dinge erklärt, wenn konkrete Personen der Zeitgeschichte persifliert werden und dann wieder alles drunter und drüber geht. Das ist vielleicht alles ein großer Witz, absichtsvoll so dargebracht, dass ihn nicht alle kapieren; eine große Komödie, die er da spielt (nicht umsonst hat Schlingensief auf der Berlinale 2010 den italienischen Stummfilm „L’Inferno“ von 1911 vorgeführt und weitausholend kommentiert, natürlich nach Dantes „Göttlicher Komödie“). Grenzen gibt es bei Schlingensief nicht, auch nicht zwischen Witz und Nicht-Witz. Das ist vielleicht das einzig Greifbare an Schlingensiefs Œuvre, dass es nicht greifbar ist, nicht begreifbar und damit auch nicht angreifbar (und jede Negativkritik fällt auf den Kritiker zurück: denn es ist von vornherein klar, dass (beispielsweise) Schlingensiefs Filme nie für die gemacht wurden, die sie in ihrer Unbegreiflichkeit nicht verstanden).
Als Schlingensief zum ersten Mal in mein Bewusstsein trat, 1998 ungefähr, als er mit seiner Partei Chance 2000 aufgetreten ist, war er mir zunächst höchst unsympathisch. Und zwar genau, weil er so freundlich und zuvorkommend, so hilfsbereit und sozial rübergekommen ist, und zugleich mit dieser Kunstpartei/Parteien-Kunst ein seltsames, widersprüchliches Gestrüpp an Floskeln, ernstem Anliegen, Parodie und Programm darbot: das passte für mich nicht zusammen, das war mir nicht geheuer, es schien mir gar zu zynisch (welch Missverständnis!) – man muss meine Jugend bedenken, ich war damals Erstwähler.
Später hab ich ihn dann besser verstanden; als er eine Aktion startete, Helmut Kohls Ferienhaus am Wolfgangsee zu überschwemmen, und alle sechs Millionen Arbeitslose Deutschlands dazu aufrief, gleichzeitig im See schwimmen zu gehen, um den Wasserspiegel ansteigen zu lassen. Wobei mir die anschließende Aktion der APPD, der Allgemeinen Pogo-Partei Deutschlands, noch besser gefallen hat: die Schlingensief dadurch „unterstützten“, indem sie ins Wasser pissten. Eine schlingensiefeske Aktion, aufgesetzt auf eine Schlingensief-Aktion – besser geht es nicht mehr.
Harald Mühlbeyer
PS: Wie sehr Schlingensief dem Menschen zugewandt war, zeigt sich in seinen Filmen nicht. Aber in dem großen Traum, den er hegte, in dem Plan, mitten in Afrika, in Burkina Faso, ein Operndorf zu bauen, mit Schule, Krankenhaus, allem, was zu einer funktionierenden Gemeinschaft, in der jeder kulturell tätig werden kann, dazugehört. Informationen – recht ungeordnet, wie es eben ist auf Schlingensiefs Webseiten und in seiner Kunst – finden Sie unter www.festspielhaus-afrika.com; man kann das Projekt, das vielleicht so etwas wie die Avantgarde der Entwicklungshilfe ist, auch durch Spenden unterstützen.
PPS: Dass vielleicht ich durch meine Lektüre Schuld bin an Schlingensiefs Tod, durch merkwürdige feinstoffliche Verbindungen, macht mich betroffen. Dass mit Schlingensief ein wirklicher Mensch (im Sinne der diogenesischen Suche danach) verstorben ist, macht mich traurig. Ein bisschen freue ich mich aber auch (soviel Eitelkeit ist wohl gestattet), dass Fritz Göttler in seinem Nachruf in der Süddeutschen Schlingensief-Zitate aus meinem Interview verwendet hat, das letztes Jahr auf diesen Seiten erschienen ist; wenn auch ohne Quellenangabe.
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Besprechungen aller Schlingensieffilme sowie das Interview, das auch in München gelesen wird, finden Sie hier:
Ist es kausal oder akausal? Interview mit Christoph Schlingensief.
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