Krimi-Kunst: „The Man From London”

von Christian Moises

Frankreich, Ungarn, Deutschland 2007. Regie: Béla Tarr, Ágnes Hranitzky. Buch: Béla Tarr, László Krasznahorkai (nach einer Vorlage von Georges Simenon). Kamera: Fred Kelemen. Darsteller: Tilda Swinton, Miroslav Krobot, Janos Derzsi, u.a.
Verleih: Basis.
Laufzeit: 132 Minuten.


Die Ankunft eines Schiffes. Zwielichtige Figuren, ins Dunkel der Nacht gehüllt. Die Übergabe eines Koffers unbekannten Inhalts, vorbei an den wachsamen Augen der Zollbeamten. Ein Mann, der den Koffer aufnimmt, ein anderer, der ihm folgt. Ein Gerangel, ein Kampf, kaum sichtbar, am Ende des Kais. Einer der beiden fällt ins Wasser, mit ihm der Koffer. Ein Rangierarbeiter, der dies alles zufällig beobachtet, nimmt den Koffer an sich – und mit ihm eine offenbar nicht geringe Summe an britischen Pfundnoten unbekannter Herkunft.

Dieses Geschehen, das so oder ähnlich bereits in unzähligen Filmen erzählt wurde und den Auftakt zu einem verwicklungsreichen, mitunter actionlastigen Kriminalfilm oder gar Thriller abgeben könnte, bildet hier die zwölfminütige, ungeschnittene Exposition zu einem audiovisuellen Ereignis, wie es (viele werden wohl sagen: zum Glück!) nur selten im Kino zu sehen ist und sich zudem von Beginn an jeder Genrezuschreibung widersetzt.

Nach „Satanstago“ (1994), diesem gewaltigen, siebenstündigen, dunkel schimmernden Zentralgestirn des europäischen Autorenfilms der 1990er Jahre, und den „Werckmeisterschen Harmonien“ (2000) – beide nach literarischen Vorlagen seines Landsmanns László Krasznahorkai entstanden – hat sich der Ungar Bela Tarr nun überraschenderweise eines Stoffes von Georges Simenon angenommen. Angesiedelt in einer eher trostlos erscheinenden, nicht näher gekennzeichneten Hafenstadt, verweisen lediglich die (erkennbar nachsynchronisierten) Stimmen der Figuren auf den Schauplatz der Vorlage: Dieppe an der französischen Nordküste.

Ruft man sich Tarrs Statement in Erinnerung, dass spätestens seit dem Alten Testament im Grunde dieselben Geschichten immer und immer wieder erzählt wurden, verwundert es kaum, dass ihm herzlich wenig an einer herkömmlichen Spannungsdramaturgie oder gar verblüffenden „plot twists“ gelegen ist. Vielmehr entpuppt sich „Man from London“ – für Tarrianer nicht unerwartet – als eine elaborierte Studie über die (filmischen) Kategorien Raum und Zeit, über die Abhängigkeit der räumlichen Erfahrung von der Zeit und umgekehrt, bei der en passant der Rekurs auf Einstellungsgrößen und ähnliches filmtheoretisches Vokabular nahezu ad absurdum geführt wird. Die (im Grunde ziemlich dünne) Geschichte bildet nur eine Art Leitfaden, den Ausgangspunkt für eine Reise, deren Ziel zunächst offen, im Grunde auch unerheblich bleibt. Von weit größerer Bedeutung scheint der „Weg“, die ästhetische Erfahrung, die unterwegs gemacht wird: die Erkundung des Raumes, das spürbare Vergehen von Zeit, Gesichter, Geräusche, Klänge, Musik (erneut komponiert von Mihály Vig).

Ähnlich verhält es sich mit den Figuren. Obwohl ihnen die Kamera immer wieder erstaunlich nahe kommt, sie verfolgt, umkreist, erfolgt keine (psychologische) Annäherung, bleibt im Inneren verborgen, was nicht an die Oberfläche gelangt, sich im Affekt oder in ungestümer Geste Bahn bricht. Auch die Figuren werden zu (Studien-)Objekten, zu Körpern, die Raum beanspruchen, andere Körper verdecken, den Blick verstellen oder Fixpunkte für den Blick der Kamera bilden, welche zuweilen unvermittelt in Bewegung gerät und den Blick auf bislang im Off Verborgenes freigibt. Eine dieser Blickverlagerungen lässt wie magisch Tilda Swinton, die einstige Muse von Schlingensief und Jarman, im Bildkader erscheinen, die als einziger Star neben den größtenteils altgedienten Tarr-Mimen agiert.

So gelingen Tarr, seiner Lebensgefährtin, Co-Regisseurin und Cutterin Ágnes Hranitzky und Fred Kelemen an der Kamera (bewegte) Bildkompositionen von berückender Präzision, schillernde, dem Dunkel der Nacht abgerungene Chiaroscuro-Tableaus. Und doch bleibt das Gefühl, dass diese virtuose gestaltete Oberfläche nur selten aufreißt, den Blick in die Tiefe freigibt. Dass im Allgemein-Menschlichen verhaftet bleibt, was in „Satanstango“ oder „Werckmeister“ in den Bereich des Universellen vorstieß. Dass die Bilder nur selten die metaphysische Kraft dieser beiden Filme erreichen, Inhalt (Geschichte) und Form nicht ganz zusammen gehen wollen. Aber: es bleibt dennoch ein Bela Tarr-Film, außergewöhnlicher und wertvoller als der Großteil dessen, was derzeit sonst über die Leinwände flimmert – und auf jeden Fall ein Film, der auf der Leinwand gesehen werden sollte, da allein dort die Qualitäten des wohl bald vom digitalen Schein verdrängten Zelluloids voll zur Geltung kommen.

Eine weitere Kritik zu "The Man from London" finden Sie hier.