Die unerträgliche Schwere des Seins – Béla Tarrs „Der Mann aus London“
von Markus Reuter
Der Mann aus London (A Londoni férfi, Ungarn/Frankreich/Deutschland 2007)
Buch und Regie: Béla Tarr. Co-Regie und Schnitt: Ágnes Hranitzky. Co-Autor: László Krasznahorkai, frei nach Georges Simenons Roman „L’Homme de Londres“. Kamera: Fred Kelemen. Musik: Mihály Víg.
Darsteller: Miroslav Krobot (Maloin), Tilda Swinton (Mrs. Maloin), Erika Bók (Henriette), János Derzsi (Brown), Ági Szirtes (Mrs. Brown), István Lénárt (Morrison)
Länge: 132 Minuten
Start: 12. November 2009
Dieser Film ist Kunst. Darüber sind sich scheinbar alle Kritiker einig, deshalb soll das auch hier direkt zu Anfang gesagt sein. Doch was ist damit gemeint? Sicherlich vor allem stilistische Besonderheiten des Films wie die teilweise extrem langen Plansequenzen mit einer sehr beweglichen Kamera, der sparsame Umgang mit Dialogen, die Verweigerung einer üblichen Spannungsdramaturgie (und dass bei der Verfilmung eines Kriminalromans), nicht zuletzt wohl auch die Tatsache, dass der Film in schwarz/weiß gedreht ist. Es ist ein Kino des Minimalismus, das nicht auf große Effekte setzt und dennoch nach dem Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen sucht. Wenn damit jetzt aber gemeint sein sollte, dass „Der Mann aus London“ aufgrund eines ausgeprägten Kunstwollens nichts über das Leben zu sagen hätte, kann dieser Meinung nur widersprochen werden. Große Kunst beschäftigt sich immer mit dem Menschen in seiner Umwelt, mit unserem Sein auf dieser Erde. Im gleichen Sinn ist auch der neue Film von Béla Tarr nicht l’art pour l’art. Tarr interessiert sich vielmehr für die Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen in ihren Lebenszusammenhängen. Seine ersten Filme von „Family Nest“ (1979) bis „Almanac of Fall“ (1985) waren noch stark sozialrealistisch, fast dokumentarisch. Das Interesse am Menschen hat Tarr in seinen folgenden Filmen nie verloren.
Das menschliche Leben wird für Tarr von Tristesse, Einsamkeit und Monotonie dominiert.
In „Der Mann aus London“ wird die Monotonie der Hauptfigur Maloin jedoch eines Nachts durchbrochen, als das Außergewöhnliche ins Gewöhnliche einbricht. Wie jeden Abend sitzt er in seinem Aufsichtsturm am Hafen und sorgt dafür, dass die Gleise für die abfahrenden Züge richtig gestellt sind. Diesen Abend jedoch beobachtet er aus der Ferne seines Standorts einen Mord. Das Opfer wird samt einem Koffer ins Meer geworfen, der Täter flüchtet. Nach kurzer Überlegung setzt sich Maloin in Bewegung und fischt den Koffer aus dem Wasser. Er ist randvoll mit englischen Banknoten gefüllt. Das Geld ist für Maloin Versuchung und Versprechen zugleich. Für ihn bietet es die Möglichkeit, aus seiner trostlosen Situation zu fliehen. Endlich kann er seine Tochter Henriette von ihrer Arbeit befreien, bei der sie ausgenutzt wird. Er kann ihr sogar einen teuren Pelz kaufen. Das zaubert Henriette ein Lächeln aufs Gesicht, welches das einzige Lächeln des gesamten Films bleiben wird. Fröhlichkeit sucht man bei den Menschen im Film vergeblich. Höchstens kann man an ihnen eine gewisse Sehnsucht nach dem anderen, dem schönen und guten Leben, erkennen. Träume und Wünsche der Menschen bleiben bei Béla Tarr letztlich unerfüllt, Schwermut und Trübsinn prägen die Stimmung seiner Filme.
Kann das gefundene Geld also alle Wunden heilen? Maloin hat diese Hoffnung, sie bleibt aber letztlich eine Illusion. Denn im Krimi wie im Leben gibt es immer jemanden, der seine 60.000 Pfund vermissen wird und zurück haben will. Schließlich ist nicht nur Brown, der Mann aus London, hinter dem Geld her; auch ein zwielichtiger Inspektor Morrison kommt aus der großen Stadt in das kleine Dorf und macht sich auf die Suche nach Täter und Geld, weil er von einem Theaterbesitzer namens Mitchell dazu aufgefordert wurde. Mitchell geht es dabei nur um sein Geld. Wenn er es zurück erhält, sieht er von einer weiteren Bestrafung des Diebs und Mörders ab. Der Film zeigt eine Welt, in der die Beziehungen zwischen den Menschen sachlich und neutral über Geld geregelt werden und Gefühle von Gerechtigkeit, Schuld und Vergebung keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Leuten wie Maloin ist ihr Leiden an diesem Dilemma aber noch anzumerken.
Der Film bestehe nur zu 10 Prozent aus der Geschichte und zu 90 Prozent aus Atmosphäre, schreibt David Bordwell. So dauert alleine die Anfangssequenz 12 Minuten und die Exposition nimmt ein Viertel des Films in Anspruch. Die Krimi-Handlung bildet nur die Oberfläche des Films, der in seiner Tiefe durch Rhythmus, Stimmung und Atmosphäre bestimmt ist. Viele Erklärungen gibt es hier nicht, alles bleibt im Mysteriös-Unbestimmten. Für Béla Tarr können wir aber überhaupt nur über die Filmbilder einen Blick auf dieses Unbegriffliche und Unbegreifbare erhaschen, was sich Leben nennt. Er hätte den Roman von Georges Simenon deshalb zunächst ins Leben übersetzt und dann in den Film. Das Wesen des Films sind bewegte Bilder, aufgelöst in Zeit und Raum. Das Wesentliche in „Der Mann aus London“ findet demnach seinen Ausdruck in den Bildern, deren einzigartige Schönheit man sich nicht auf der Kinoleinwand entgehen lassen sollte. Dafür werden Filme gemacht.
Wenn der Film nun von der Einsamkeit der Menschen und der Distanz zwischen ihnen handelt, dann wird das Thema noch durch eine Randnotiz aus der Produktion verstärkt. Gedreht wurde auf englisch, tschechisch, ungarisch und französisch, alle Darsteller sprachen die Dialoge in ihrer Landessprache. Die Schauspieler wussten zwar, was ihr Gegenüber in der jeweiligen Szene ungefähr sagt, konnten ihn aber nicht wirklich verstehen. Die Dialoge wurden für den Originalfilm anschließend synchronisiert, wobei die Synchronität der Lippenbewegungen mit den gesprochenen Worten häufig nicht hundertprozentig übereinstimmen. Das unterstreicht die teilweise surreale Stimmung des Films, der überall nicht einfach der Kunst oder dem Leben verhaftet bleibt, nicht dem Traum oder der so genannten Realität. „Der Mann aus London“ bleibt im „Dazwischen“ und vielleicht kann man sagen, dass wir vielleicht gerade in dieser Differenz etwas über unser Inneres erfahren können und darüber, was es heißt, ein Mensch in dieser Welt zu sein – das ist Kunst.
Eine weitere Kritik zu "The Man from London" finden Sie hier.