Das Internationale Filmfestival in Karlsbad

East of the West

Text: Markus Reuter
(Fotos: Film Servis Festival Karlovy Vary)


Bei der 44. Ausgabe des Festivals sahen vom 3. bis 11. Juli 2009 über 131.000 Zuschauer 232 Filme. Im offiziellen Wettbewerb gewann am Ende Andreas Dresen für seinen neuen Film WHISKY MIT WODKA den Preis für die beste Regie und setzt damit den Erfolg von WOLKE 9 fort.
Das Festival in Karlsbad versteht sich traditionell als filmische Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa. Als 1994 Jiří Bartoška die Präsidentschaft und Eva Zaoralová die künstlerische Leitung des Festivals übernahmen, verliehen sie dieser Vermittlerrolle mit der Sektion East of the west einen deutlichen Ausdruck. In dieser Reihe werden Produktionen aus osteuropäischen Ländern gezeigt, die der deutsche Kinogänger ansonsten meist nur auf den spezialisierten Filmfestivals goEast in Wiesbaden oder dem FilmFestival in Cottbus sehen kann. Mit dem ungarischen LOST TIMES (ZTRACENÉ ČASY) lief einer der stärksten Filme des gesamten Festivals dieses Jahr im Wettbewerb von East of the west.

Vor der Internationalen Premiere von LOST TIMES verriet Regisseur Áron Mátyássy schüchtern, in diesem Moment „ängstlich und glücklich zugleich“ zu sein. In dieser Gefühlsaussprache kommt in seiner Persönlichkeit bereits eine Sensibilität zum Vorschein, die auch seinen Film auszeichnet. Nachdem die Eltern Ivan früh mit seiner autistischen Schwester Eszter allein gelassen haben, führen die beiden in einem kleinen Dorf an der ungarisch-ukrainischen Grenze ein relativ ereignisloses Dasein. Ein bisschen störend sind höchstens die Landvermesser, die wegen des Baus einer Straße durch die umliegende Natur streifen. Das Leben der Geschwister ändert sich jedoch radikal, als Eszter eines Tages von Unbekannten vergewaltigt wird. Mit diesem Akt der Gewalt gegen die Unschuld scheint für den netten Kerl Ivan die Liebe aus der Welt zu schwinden: die Schwester lässt sich nicht mehr von ihm berühren, seine Freundin verlässt das Dorf für ein Studium, der Traum von einer eigenen Tankstelle scheitert an korrupten Geschäftemachern aus der Gegend, welche diese Einnahmequelle nach Fertigstellung der Straße für sich beanspruchen.

An der Oberfläche des Films entwickelt sich ab dem Moment der Vergewaltigung eine Kriminalgeschichte, bei der es um die Aufklärung des Verbrechens geht. In der Tiefe ist Mátyássy nicht an einer ausgefeilten Spannungsdramaturgie, sondern an den Problemen der Menschen in ihrer Umwelt interessiert. Themen des Films sind die Perspektivlosigkeit und das meistens unterschwellige, manchmal jedoch zum Ausbruch kommende Gewaltpotential der Menschen in dem kleinen Dorf. Für einen Debütfilm legt Mátyássy eine erstaunliche ästhetische Reife an den Tag. Neben der melancholischen Musik ragen vor allem die Kameraarbeit und der Schnitt heraus. Das Spielen mit Schärfeebenen, die ungewöhnlichen Kadrierungen des Bildausschnitts und das intuitive Gespür für den richtigen Wechsel der Einstellungsgrößen von der Totalen bis hin zur Detail-Aufnahme machen den Film zu einem künstlerischen Ereignis, wobei die Kamera in ständiger Unruhe ist, als könne sie sich die ganze Zeit über nicht an das geschehene Verbrechen gewöhnen. Die Einstellungen selbst sind zumeist kurz und teilweise mit jump cuts durchschnitten, wodurch die Schauspieler die Szenen häufig nicht ausspielen können, die Gefühle in ihrer Andeutung jedoch deutlich hervortreten. LOST TIMES erinnert mit der allerersten Einstellung von Bäumen aus einer extremen Untersicht nicht nur ästhetisch an die Filme Terrence Malicks, auch das Motiv der verlorenen Unschuld des Menschen findet in der Vergewaltigung Eszters einen Ausdruck.
Vergleichbar in Inhalt und Form ist der Film dabei mit weiteren außergewöhnlichen Werken der letzten Zeit: mit SHOTGUN STORIES von Jeff Nichols und mit BURROWING (MAN TÄNKER SITT) von Henrik Hellström und Fredrik Wenzel. Die beiden Filme aus den USA und Schweden kreisen um ähnliche Mensch- und Gesellschaftsanalysen wie Lost Times aus Ungarn.

Der polnische Film SCRATCH (RYSA) lief ebenfalls im East of the west-Wettbewerb. Regisseur Michał Rosa behandelt hier in einer intimen Charakterstudie die noch nicht aufgearbeitete politische Vergangenheit des Landes. Joanna und Jan leben seit vierzig Jahren glücklich zusammen, als es zum Titel gebenden Riss in ihrer Beziehung kommt. Zum Geburtstag erhält Joanna auf einer Videokassette die Aufzeichnung einer Fernsehsendung, worin Jan der Arbeit bei der ehemaligen Geheimpolizei beschuldigt wird. Trotz Jans Beteuerungen seiner Unschuld, entfernt sich seine Frau nicht nur immer weiter von ihm, sondern in krankhafter weise von der Normalität des Lebens insgesamt. Wie Joanna bleibt der Zuschauer dabei in ständiger Ungewissheit über Jans tatsächliche Vergangenheit. Der Film erhielt eine Spezielle Erwähnung der East of the west-Jury.

Der serbische DEVIL’S TOWN (DJAVOLJA) handelt laut Regisseur Vladimir Paskaljević von Menschen, die von elementaren Bedürfnissen, Trieben und Frustrationen getrieben werden. Ebenso düster fällt dann die Darbietung des Alltags in einer serbischen Stadt aus, wenn sie auch immer wieder komisch gebrochen wird. Trotz der in ihnen angelegten Liebenswürdigkeit bleiben einem die Charaktere jedoch gleichgültig, zudem kann vor allem die Kameraarbeit und Ausleuchtung des Films nicht überzeugen. Retten kann den Film dann auch nicht mehr, dass der Regisseur vielleicht nur mit der realistischen Darstellung des heutigen Serbiens spielt. Auf einer Metaebene will ein Protagonist nämlich ebenfalls einen Film mit dem Titel DEVIL’S TOWN drehen, der von bösen Serben handeln soll. Der Grund hierfür: eine solche Darstellung würde westliche Geldgeber anziehen.

LOW LIGHTS (ARTIMOS ŠVIESOS) ist ein weiterer schwächerer Film der Sektion. Ein Bild von der Verlorenheit des Menschen in der hastigen Welt der Moderne will er zeigen, für diesen Anspruch gibt sich die lithauisch-deutsche Koproduktion aber viel zu hip, cool und spaßig. Die Bilder wirken wie gesucht und nicht wie gefunden und damit genauso konstruiert wie die Geschichte über drei Menschen, die bei einer Autofahrt auf nächtlicher Straße aus ihrem grauen Alltag ausbrechen wollen. Mitgefühl entwickelt man für keine der Figuren, was wohl eher an Drehbuch und Dialogen als an den Leistungen der Schauspieler liegt. Nur ein Beispiel für die Künstlichkeit des Films: ein gelber Wagen fährt an eine blau beleuchtete Tankstelle, in der eine grün angezogene Frau mit knallrotem Lippenstift wartet. Wenn Sie den Film sehen, wissen Sie welche Szene ich meine…

In Andreas Dresens WHISKY MIT WODKA spielt Henry Hübchen den alternden Filmstar Otto Kullberg, der nach einigen Rückschlägen im Leben ein kleines Alkoholproblem hat. Seine Leistung am Set muss er dennoch bringen. Genau dass trauen ihm die Produzenten seines neuen Films aber nicht mehr zu und überzeugen daher den Regisseur Martin Telleck, gespielt von Sylvester Groth, den Film gleich zweimal zu drehen: zum einen mit Otto in der Hauptrolle und zum anderen mit dem jüngeren Kollegen Arno Runge (Markus Hering). Diese Entscheidung führt zwangsläufig zu Konfrontationen zwischen allen Beteiligten des Films im Film. Das Alter spielt wieder eine zentrale Rolle in WHISKY MIT WODKA, ebenso die Liebe (wenn auch ohne die expliziten Nacktszenen von WOLKE 9). Das eigentliche Thema des Films ist aber der Zwang zum Funktionieren in der heutigen (Arbeits-)Welt. Aussetzer werden nicht toleriert, Menschen werden bei nicht gebrachter Leistung einfach ausgetauscht – wie es Otto hier auf absurde Weise passiert.

In seiner zweiten Zusammenarbeit mit Drehbuchautorenlegende Wolfgang Kohlhaase nach SOMMER VORM BALKON hat Dresen eine sozialkritische Komödie mit ernsten Untertönen gedreht. Dieses mal mit vielen selbstironischen Seitenhieben auf das Filmgeschäft, wenn er zum Beispiel die Promiskuität der Filmcrew im Trailerpark, die Abhängigkeiten von Filmförderung und deren Auswirkung auf den Film oder die Verhandlung zwischen Produzent und Regisseur über den jeweiligen Kunstanspruch schildert. Bei der Preisverleihung zeigte sich Dresen über den Gewinn des Kristallglobus überrascht: „I didn’t expect to get anything when we came here, because it was a comedy… from Germany, you know.“

Im Wettbewerbsbeitrag ANGEL AT SEA (UN ANGE À LA MER) erzählt Regisseur Frédéric Dumont aus der Sicht des zwölfjährigen Louis, wie er zusammen mit Bruder, Mutter und dem manisch depressiven Vater in einer Kleinstadt Südmarokkos lebt. Eines Tages ruft der Vater Louis zu sich und verrät ihm ein Geheimnis: „I’m going to die. I`ll kill myself tonight.“ Nachdem der Vater das Geheimnis in dieser Nacht nicht in die Tat umsetzt, lässt ihn Louis ab diesem Moment nicht mehr aus den Augen als könne er ihn auf diese Weise vor Unheil beschützen. Die Situation verschlimmert sich zunehmend, denn der Vater versteckt sich immer häufiger im dunklen Arbeitszimmer des Hauses, kapselt sich von der Außenwelt ab, driftet mehr und mehr von den Familienangehörigen weg. Nur Louis glaubt noch an eine Verbesserung seines Zustands. Für ihn geht mit den Launen des Vaters letztlich jedoch das Grundvertrauen in die Welt verloren. In Erinnerung bleibt hier vor allem eine Szene, in welcher der Vater Louis zunächst dabei hilft, im Garten eine der vielen umherstreifenden Katzen mit einer Kiste einzufangen. Als der Vater nach der gelungenen Aktion freudestrahlend aus der Dunkelheit seines Zimmers in die Helligkeit der Marokkanischen Sonne gelaufen kommt und sich dessen Freude auf Louis überträgt, schlägt die Szenerie kurz darauf in blanken Horror um: „We’ll drown it! We’ll drown it!“ schreit der Vater wild gestikulierend und führt die Ankündigung auch kurzerhand aus. Aus Glück wird Angst, die sich später in einem Alptraum von Louis niederschlagen wird. Verzweiflung und Trostlosigkeit liegen auf dem Grunde dieser Geschichte. Würde sie nicht durch die Musik, die Darstellung von Träumen und das immer wieder zitierte Gedicht „Réversibilité“ von Baudelaire mystifiziert, könnte man fast meinen, sich in der Wüste von 29 Palms und nicht in Marokko aufzuhalten – und sich damit in einem der nihilistischen Filme von Frédéric Dumonts französischen Namensvetter Bruno. Neben den Unterschieden im Stil, wird in manchen Momenten von Angel at sea auch ein Mitgefühl für die Protagonisten und damit eine gewisse Sehnsucht nach einer Verbesserung des Zustands von Vater und Welt spürbar. ANGEL AT SEA gewann den Hauptpreis als bester Film. Für die Darstellung des Vaters erhielt Olivier Gourmet zudem die Auszeichnung für den besten Darsteller, die er sich mit Paul Giamatti teilte.

Das Spielfilmdebüt COLD SOULS von Sophie Barthes bietet Giamatti eine Paraderolle, in der er sich dann auch tatsächlich selbst spielt, nämlich den melancholischen Schauspieler Paul Giamiatti, der während der Proben für Tschechows „Onkel Wanja“ eine existenzielle Krise erleidet. Erleichterung verspricht ihm eine Anzeige, die für das Extrahieren der Seele vom Körper wirbt. Neben dieser fantastischen Grundidee und David Strathairn als „mad scientist“ kann der Film vor allem mit Giamattis grandiosem Satz „What’s my soul doing in St. Petersburg?“ aufwarten. Ansonsten hält der Film dem Vergleich mit dem ähnlich kuriosen ETERNAL SUNSHINE OF A SPOTLESS MIND leider nicht stand. Dafür fehlt ihm bei vielerlei Gerede und einer recht konventionellen Dramaturgie vor allem der Schwung, wie ihn die meisten Filme Woody Allens – an die der Film ebenfalls häufig erinnert – zum Beispiel trotz vieler Dialoge aufweisen.

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