„Tideland“: Magisch und schön

Terry Gilliam über seinen jüngsten Film „Tideland“, über Depressionen und die Sixties

von Harald Mühlbeyer

Dieses Interview ist auch Teil des ersten deutschsprachigen Buches über Terry Gilliam:
Harald Mühlbeyer: „Perception is a Strange Thing“. Die Filme von Terry Gilliam. Schüren Verlag, Marburg 2010. 240 Seiten, 24,90 Euro.
Darin bespricht Screenshot-Redakteur Mühlbeyer alle Gilliam-Filme – von Python bis Parnassus. Das Buch erscheint zum Kinostart von „Das Kabinett des Dr. Parnassus“.
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“Tideland“ ist die kleine Schwester zu den „Brothers Grimm“.
Nach seinem phänomenalen Abgesang auf die Goldene Zeit der Sechziger in „Fear and Loathing in Las Vegas“ arbeitete Terry Gilliam an verschiedenen neuen Filmprojekten – und scheiterte fortwährend; am bekanntesten ist sicherlich der Untergang seines Don Quixote-Projektes im Herbst 2000, das nach einer Woche Dreharbeiten aus widrigsten Umständen hat abgebrochen werden müssen. Also – mehr oder weniger, um überhaupt zu arbeiten – übernahm Gilliam die Regie bei dem Weinstein Bros.-Produktion „The Brothers Grimm“, Dreharbeiten im Sommer 2003. Ein Alptraum für den individualistischen, widerspenstigen Regisseur, ließen ihm doch die grimmigen Weinstein-Brüder kaum Zeit, das (ziemlich schlechte) Drehbuch zu überarbeiten, verweigerten ihm seine Wunsch-Hauptdarstellerin und feuerten nach drei Drehwochen den Kameramann. Auch während der Postproduktion gab es Streit; und so wandte sich Gilliam kurzerhand seinem „Tideland“-Film zu, einem der Prä-Grimm-Projekte, für das Produzent Jeremy Thomas nun endlich die Finanzierung stemmen konnte als britisch-kanadische Co-Produktion.

Das war ein Novum in Gilliams Geschichte als Filmemacher: Dass er an zwei Filmen gleichzeitig arbeitete, die dann auch innerhalb eines Monats im Frühherbst 2005 ihre Uraufführungen erlebten. Dabei entpuppte sich „Brothers Grimm“ als ein Hybride, der irgendwo zwischen formelhaftem Hollywood-Blockbuster und Gilliam-Vision steckenblieb. Und der folglich an der Kinokasse unterging. Während „Tideland“, ohne Hollywood-Geld realisiert, jahrelang auf einen Verleih in Großbritannien und den USA warten musste und in Deutschland – welch Armutszeugnis – überhaupt nicht ins Kino kam. Nun endlich, über zwei Jahre nach der Premiere, erscheint „Tideland“ auch in Deutschland auf DVD.

Immerhin ist die Doppel-DVD von Concorde Home Entertainment angemessen für diesen eigenwilligen (und schon deshalb großen) Film: Sie enthält unter anderem einen dialogischen Audiokommentar von Gilliam und Co-Autor Tony Grisoni und ein Making of von Vincenzo Natali („Cube“, 1997), dazu viele informative Interviews - und eine Synchronisation, die nicht misslungen ist.

Diese stiefmütterliche Direct-to-DVD-Behandlung des Films liegt möglicherweise daran, dass „Tideland“ den Zuschauer fordert. Man ist gezwungen, sich auf den Film einzulassen – und damit auf die Perspektive der zehnjährigen Jeliza-Rose, die in desolanten Verhältnissen bei drogensüchtigen Eltern aufgewachsen und die auf sich selbst angewiesen ist, seitdem ihr Vater im Sessel vor sich hin verwest. Sie streift durch das hohe Gras rund um ein halbzerfallenes Farmhaus und versucht, die Welt zu verstehen, ihr einen Sinn zu unterlegen aus all dem Stückwerk, das ihr bisher geboten wurde von den heruntergekommenen Eltern und einem verblödenden TV-Konsum. Sie unterhält sich mit ihren verratzten Barbiepuppenköpfen, liest „Alice im Wunderland“ und trifft auf die Nachbarn, der unheimlichen Leichenpräparatorin Dell und den lobotomisierten Kindskopf Dickens, der sich als Kapitän im Kampf gegen einen bösen Hai sieht. Mitten in den herbstlichen Feldern von Texas…

Keine leichte Kost, und sicherlich nicht popcorngeeignet. Denn der Film lässt sich ganz auf die Erlebniswelt von Jeliza-Rose ein, übernimmt mehr und mehr ihre Sichtweise der Welt, um dann wieder kurze Blicke auf die wahre Realität der Verhältnisse zuzulassen. Ein Spagat, bei dem man sich bewusst mitspreizen muss. Und selbstverständlich ist dieses willige Sich-Fallen-Lassen für den Zuschauer leichter in einem Kinosaal, in der gemeinschaftlichen Filmlektüre vor großer Leinwand, als zuhause im Sessel mit DVD auf Bildschirm.
Doch nur wenige können sich glücklich schätzen, „Tideland“ im Kino gesehen zu haben – beim Filmfest München 2006, auf der eDIT Frankfurt 2006, beim Wiesbadener Exground 2006.

In München, im Juli 06, hatte unser Redakteur Harald Mühlbeyer die Möglichkeit, Terry Gilliam zu interviewen. Bei ca. 35° Celsius abends um halb 11 hatte Screenshot eine halbe Stunde Zeit – viel zu wenig, aber Gilliam ist Mitte 60 und muss auch mal ins Bett…



Screenshot: Sie haben sich bei „The Brothers Grimm“ und „Fear and Loathing in Las Vegas“ als Dress Pattern Maker bezeichnet. Ist das eine wirkliches theoretisches Konzept, einen Film nach einem vagen Schnittmusterplan zu drehen, oder nur ein Witz, wenn Sie keinen Drehbuch-Credit bekommen?
Terry Gilliam: Das beruht auf Dingen, die bei „Fear and Loathing“ und wieder bei „Grimm“ passiert sind, für die sowohl Miramax als auch die Writer’s Guild verantwortlich sind. Wir, Tony Grisoni und ich, haben keinen Autoren-Credit bekommen, deshalb nannten wir uns Dress Pattern Maker, als ich „Grimm“ veröffentlichte. Ich sagte, wir machen keine Filme mehr nach Drehbuch, sondern nach einem Schnittmuster. Die Writer’s Guild wollte uns aber sogar verbieten, uns Dress Pattern Makers zu nennen, sie wollte uns jeden Drehbuchcredit verweigern. Diese ganze Organisation ist mit ihren Regeln so lächerlich. Ganz ans Ende von „Grimm“ wollte ich einen Credit setzen „In Memory of Tony Grisoni“, aber die Writer’s Guild ließ uns selbst das nicht tun. Denn das hätte angedeutet, dass er etwas von „Brothers Grimm“ geschrieben hat.

Zu Anfang der Grimm-Produktion waren bei imdb noch Gilliam und Grisoni als Drehbuchautoren gelistet, aber die Namen sind dann verschwunden.
Es war so: Miramax, bzw. Dimension, was die gleiche Firma ist, haben unsere Namen vom Drehbuch genommen. Auf dem Drehbuch standen drei Namen: Ehren Kruger, Tony Grisoni und meiner. Aber als sie das Drehbuch bei der Writer’s Guild einreichten, haben sie Tonys und meinen Namen gestrichen und nur Ehren stehen lassen, weil Ehren der Lieblingsautor von Bob Weinstein ist. Wenn das Script bei der Writers Guild ankommt, kommt der offizielle Moment. Und für einen Credit hätten Tony und ich zwei Drittel des Drehbuchs schreiben müssen. Also habe ich gesagt, dass ich als Regisseur keine Nennung brauche, dann hätte es für Tony gereicht, die Hälfte geschrieben zu haben. Aber Tony war so wütend darüber, dass er seinen Credit auch ablehnte. Weil sich die Writer’s Guild nicht für die Wahrheit interessiert. Also hat Ehren den vollen Drehbuchcredit bekommen. Wer eine Einzelnennung hat, erhält auch mehr Geld, also hat Ehren nichts gesagt. Ich finde das alles einfach obszön.

Wenn man sich die Literatur über Terry Gilliam ansieht, scheint es, als gäbe es bei Ihren Filmen immer nur Probleme. Liegt das an Ihnen, oder ist es immer der böse Produzent?
Nein, das liegt hauptsächlich daran, dass ich faul bin. Deshalb führe ich kein Tagebuch, und so lasse in Journalisten ans Set, während ich den Film drehe. Denn mein Gedächtnis ist schrecklich, und ich vergesse hinterher immer alles – das ist auch der Grund, warum ich weiter Filme mache: Ich vergesse, wie so ein Dreh abläuft. Ich gebe den Journalisten freie Hand, ich stecke mir ein Mikrophon an und lasse sie machen. Ich zensiere nicht, was sie machen, sie haben also die Möglichkeit, wahrheitsgetreu über den Dreh des Films zu berichten. Und deshalb sieht es so aus, als hätte ich immer Probleme. Das stimmt zwar, aber jeder Filmemacher hat Probleme. Das ist nichts Einmaliges. Ich denke, einmalig ist bei mir nur, dass jemand die Probleme aufschreibt. Wenn man heute normalerweise ein Making of oder ein Behind the Scenes sieht, ist es eine PR-Aktion des Studios, glückliche Menschen erklären, wie wunderbar der Film war. In „Lost in la Mancha“ bin ich am Anfang glücklich und enthusiastisch, und dann irgendwann werde ich immer bitterer... Dieser Film zum Beispiel zeigt mich, wie ich wirklich bin. Meine Frau findet, dass ich immer so bin: unglücklich, deprimiert. Das stimmt auch, wenn ich auch in der Öffentlichkeit immer lache und den Fröhlichen spiele.

Gestern bei der Diskussion beschwerten Sie sich über Journalisten, die Sie fragten, für welches Publikum Sie den Film „Tideland“ gemacht haben. Ich muss sagen, ich verstehe diese Frage auf gewisse Weise: Bei der Pressevorführung sind vier oder fünf Journalisten hinausgegangen.
Oh, das ist sehr gut, nur vier oder fünf! Ich hätte mehr erwartet!

Das Kino war ziemlich klein.

Oh, es hätten sogar mehr sein dürfen! Und wenn Sie sagen: Was ist Ihr Publikum – ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ein Publikum ist. Was ich kenne, sind individuelle Menschen. Es ist ganz einfach: Dieser Film hat nichts zu tun mit deinem Alter, sondern mit deiner Einstellung. Und es scheint mir, dass Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind, es mit dem Film leichter haben. Wer mit sich selbst weniger im Einklang ist, für den wird der Film schwieriger sein. Das ist es. Wenn ich zurück in London bin, werde ich versuchen, Vorführungen für Jüngere zu organisieren, für 11, 12, 13-Jährige, um zu sehen, wie sie den Film aufnehmen. Ich weiß, wie 14jährige reagieren, sie mögen ihn wirklich, weil sie sich mit ihm identifizieren. Die Mädchen zumindest, bei Jungen weiß ich es nicht.

Es ist einer Ihrer verstörendsten Filme, denke ich.
Ja, stimmt, denn er behandelt Themen, die ständig in den Medien vorkommen. Bei uns geht es um Tod und um Sex und um Pädophilie. Nein, nicht wirklich um Pädophilie, aber viele Menschen wollen darüber reden, obwohl es im Film gar nicht darum geht. Ihre Reaktion bei einer Szene zwischen Jeliza-Rose und Dickens, wenn sie sich küssen, bringt bei ihnen die Idee von Pädophilie auf, denn Dickens ist körperlich ein Erwachsener, mental aber ist er ein Kind.

Es ist eher Nekrophilie im Film.
Oh, da ist eine Menge Nekrophilie im Film, ja. Es geht um mentale Beschädigungen und um sehr traurige Menschen. Und Jeliza-Rose ist im Grunde die Unschuldige, die da hindurchtreibt. Sie ist auch die mit der meisten Energie, mit dem meisten Leben. Ihre Eltern sind komplett kaputt, Dell ist eine sehr traurige Figur, Dickens ist sehr geschädigt, aber er teilt auch ihren Enthusiasmus und ihre Fähigkeit, sich bestimmte Dinge vorzustellen. Aber seine Einbildungskraft ist enttäuschend für sie. Wenn er von seinem Unterseeboot erzählt und von Seefahrten, dann geht sie richtig mit, aber wenn sie dann sein U-Boot betritt: Uh, was ist das für Müll! Wie furchtbar! Aber sogar dadurch hört sie nicht auf, träumen zu wollen.

Das Drehbuch hat eine ungewöhnliche Struktur. Es folgt ganz der unkontrollierten Vorstellungskraft des Kindes.

Ich weiß. Viele mögen den Film nicht, weil er keine Struktur hat, die sie verstehen können. Für viele ist das schwierig, weil wir so vorprogrammiert sind für bestimmte Strukturen. Wir sind an sie gewöhnt. Und das war es, was ich an dem Roman gemocht habe: Ich habe nicht gewusst, wo er hinwill, ich musste immer weiterlesen. Kann ich also das Interesse der Leute aufrechterhalten und sie dazu bringen, beim Film zu bleiben, obwohl die Struktur so ungewöhnlich ist? Filmstrukturen haben sich Popsongs angeglichen, damdadamdadam, Mittelteil, damdadamdadam. Wir kennen das, und wir fühlen uns wohl dabei. Beim Film ist es genauso: Wir kennen die Struktur, und wir mögen das. Aber ich sage: Fuck it. Diese Struktur ist, was sie ist.

Es ist ganz Anti-„Brothers Grimm“. Dort haben wir die strenge Dreiakt-Struktur.
Ja, da haben wir eine sehr normale Struktur. Dam, dam, dam. Dieser ist anders, und ich denke, das ist gut. Und die einzige Frage für mich war beim Dreh und beim Schnitt: Können wir das Interesse des Publikums aufrechterhalten, auch wenn die Struktur ganz anders ist als was man sonst gesehen hat. Man kann sich nicht auf die Struktur verlassen, aber kann das Publikum bei den Charakteren bleiben? Sind sie genug an den Figuren interessiert, können sie sich genug damit identifizieren, um die ungewöhnliche Struktur auszuhalten?

Die Charaktere sind ebenfalls sehr bizarr.

Ja, natürlich. Wenn Sie also fragen: Wer ist das Publikum – ich weiß es nicht. Meine alberne Antwort ist immer: Der Film ist für Leute, die ihn mögen, und nicht für Leute, die ihn nicht mögen. Das ist das Publikum. Manche Leute überraschen mich aber, wenn jemand, von dem ich es nicht erwartet hätte, den Film mag. Ich denke, es ist wie eine andere Sprache, und ob man sie erlernen will oder nicht. Weil der Film ein Low-Budget-Film ist, muss ich nicht so viel Geld machen, um die Gewinnschwelle zu erreichen. Für mich ist ein erfolgreicher Film einer, der kein Geld verliert. Wenn er einen Dollar Gewinn macht, ist es ein großer Erfolg.

Die Bilder in „Tideland“ sind auch anders als in Ihren anderen Filmen. Sie sind nicht vollgestopft, sondern weit und ausgedehnt, sie verstärken die Einsamkeit von Jeliza-Rose.

Ja, das hat Spaß gemacht. Es war neu für mich, deshalb wollte ich es so machen. Da ist ein Atmen in diesem Film, die Außenaufnahmen lassen einen Aufatmen: Ah, das ist wunderbar! Es ist frei, es ist groß, wir können atmen und rennen. Innen, im Haus aber verrottet und verfällt alles, es ist gefährlich da, man weiß nicht, was vor sich geht.

Außen ist aber auch alles tot: kahle Bäume, braunes, dürres Gras.
Sie sind depressiver als ich es bin.

Ich weiß nicht, ich bin nicht wirklich deprimiert.
OK, das Gras scheint tot zu sein, aber es ist Herbst, es ist also nicht tot, sondern kommt wieder. Das ist die Natur außen, sie stirbt und ersteht wieder. Im Haus ist es nicht so klar, alles verfällt, aber wir wissen nicht, ob es jemals wieder zum Leben zurückkehrt.

Da gibt es diesen Begriff des Hamster-Faktors, dieses kleinen, versteckten, symbolischen Details in einem Gilliam-Film. Gibt es so etwas in Tideland?
Nicht so sehr. Die Details sind eher einfach die Kleinigkeiten, die die wirkliche Welt ausmachen. Es ist alles recht offen, es gibt viel weniger Hintergrund, denn der ist einfach die Welt. Es gibt nicht so viele versteckten Überraschungen. Aber ich kann sagen: Wenn man den Film ein zweites Mal sieht, ist er trotzdem anders. Viele, mit denen ich geredet habe und die den Film zweimal gesehen haben, haben ihn das zweite Mal anders gesehen. Denn man kann dann mehr entspannen. Beim ersten Ansehen waren sie sehr nervös, weil wir sie einen Weg führen, von dem sie denken, dass alles sehr schlimm wird. Aber das wird es nicht. Zumindest nicht auf die Weise, die man erwartet. Beim zweiten Mal ist man also entspannter. Ein Journalist in Paris, der aus Lyon kam, sagte mir, dass er das erste Mal, als er den Film sah, ihn nicht mochte. Er war angeekelt und verstört. Aber er mochte meine anderen Filme und sagte sich: Ich muss „Tideland“ nochmal sehen. Und beim zweiten Mal bemerkte er, dass er sehr sanft ist, zärtlich und liebevoll. Und er hat den Film geliebt, hält ihn für wunderbar. Das ist auch bei anderen passiert, mit denen ich gesprochen habe, dass das zweite Mal die Sicht auf den Film verändert hat. Beim ersten Mal fühlt man sich oft unbehaglich und unsicher, man sagt: Ich will nicht dahin, wohin du mich führst. Aber wenn man das erste mal überlebt hat, sieht man ihn beim zweiten Mal, wie er ist.

Das Ende des Films ist etwas ambivalent. Da ist ein katastrophales Unglück und da ist etwas wie der Kern einer neuen Familie, vielleicht, aber sogar die Glühwürmchen bedeuten für beide Übriggebliebenen etwas ganz Verschiedenes. Es ist wie ein großes, ironisches Missverständnis.
Über das Ende hat jeder seine eigene Meinung, wie es zu deuten ist. Ich werde meine nicht sagen. Bei der Vorführung gestern hat mich eine Frau gefragt, warum da ein Unglück ist, warum da Menschen sterben müssen, damit Jeliza-Rose überleben kann. Well, that’s life, folks. Menschen sterben in großer Anzahl, andere überleben. Japaner verstehen das viel besser, dieses apokalyptische Ende, an dem die Erde stirbt und wiedererneuert wird. Dort versteht man diese Erneuerung viel besser.

Wie der Herbst in der Natur.

Genau, alles ist Herbst. Es muss Winter werden vor dem Frühling. Das Unglück ist der Winter. Aber viele sehen es nicht so, sie fühlen sich gestört, wenn all die Menschen sterben müssen. Sehen Sie sich „12 Monkeys“ an, da sterben fünf Milliarden Menschen, aber die Welt geht weiter, und die Menschheit überlebt. So ist es immer. Im Ersten Weltkrieg starben 14 Millionen Menschen, und dann kam die Grippe-Pandemie und 18 Millionen starben. Das vergessen wir oft, dass es viel Tod gibt. Jeder hängt nur am Leben, an jedem Stückchen Leben.

Wobei es in „12 Monkeys“ eine Kreisbewegung ist, der Zuschauer weiß, wo man wieder herauskommt, und immer so weiter.
Ja, Sie haben Recht.

Während es in „Tideland“ weitergeht, und man weiß nicht, wohin es mit Jeliza-Rose geht. Wird sie verrückt, oder lebt sie „normal“ weiter.

Ja, vielleicht waren diese wenigen Tage die interessantesten ihres Lebens. Vielleicht wird sie ein normales, bürgerliches Leben führen und immer an diese Tage zurückdenken, als das Leben außergewöhnlich war. Ich weiß es nicht. Als wir den Film gedreht haben, hatten wir einen Witz darüber. Denn beim Dreh hat man viel Zeit, die man nur mit Warten verbringt, und man denkt sich dann Theorien aus, was im Film wirklich vor sich geht. Und unsere Theorie war: Jeliza-Rose ist ein Serienkiller. Sie tötet ihre Mutter, tötet ihren Vater, tötet Dickens und vielleicht ist die freundliche Frau am Ende ihr nächstes Opfer.

Hier sind wir bei einem Gedanken von mir. Denn natürlich steckt „Psycho“ in „Tideland“ drin, aber da steckt auch „Texas Chainsaw Massacre“ drin, denke ich.
Ich habe nie an „Texas Chainsaw Massacre“ gedacht. Viele Menschen sehen das, aber ich hasse „Texas Chainsaw Massacre“. Ich liebe „Psycho“. An „Texas Chainsaw Massacre“ habe ich überhaupt nicht gedacht.

Aber Dell und die Leiche des Vaters, in die sie ihr Messer stößt…
Das ist etwas anderes. Das ist die Tätigkeit einer Mumifizierung. Und es geht um ihre Liebe für diese Menschen, sie will sie nicht loslassen. Und das ist ganz anders als in „Texas Chainsaw Massacre“. Das Messer in der Leiche: Das ist einfach nur ein Körper hier. Sie will ihn konservieren, aber andererseits ist es nur ein toter Mann.

Für mich macht sie eine Art Witz für Jeliza-Rose, wenn sie mit großer Gebärde das Messer in die Leiche stößt.
Ja, richtig. Dell ist eine sehr seltsame Person, aber nicht bösartig. Sie ist traurig, sie will die Dinge festhalten. Und sie fühlt sich unbehaglich mit anderen Menschen, mit der Gesellschaft. Sie will es einfach machen für Jeliza-Rose: Hey, es ist nur ein Körper! Das ist der Gedanke, ein Witz fast. Sicher, sie ist verrückt, aber nicht verrückt und gefährlich, sondern verrückt und traurig, weil sie einmal geliebt wurde.
Das ist eine Seite des Films, mit dem ich bewusst spiele. Ich nehme diese Dinge, von denen ich weiß, dass sie die Leute verstören und an andere Dinge erinnern, aber ich versuche zugleich sie zum Nachdenken zu bringen. Es hat zu tun mit „Psycho“, mit der Beziehung zwischen Anthony Perkins und seiner Mutter. Das ist sehr traurig, er will an dem festhalten, was er liebt. „Chainsaw Massacre“ hat nichts damit zu tun, da geht es um Misanthropie und Brutalität. Ich hasse diesen Film. Ich habe vielleicht ähnliche Bilder, aber sie haben vollständig andere Bedeutungen. Und es ist interessant, ob die Menschen die wirkliche Bedeutung erkennen oder nur die oberflächliche Ähnlichkeit mit etwas anderem.

Ich habe ebenfalls an Polanskis „Ekel“ gedacht.

Nein, daran habe ich nicht gedacht.

Dort ist die Frau, die verrückt wird, weil sie allein ist, und gleichzeitig vergammelt etwas, ausgerechnet ein Kaninchenbraten. Das ist wie Jeliza-Rose und ihr toter Vater.
Ja, natürlich, das steckt drin, aber ich habe nie daran gedacht. Was interessant ist: All das habe gar nicht ich geschrieben, es steckt im Roman von Mitch Cullin, ich habe nur das Buch gelesen und gemerkt, dass es in mir nachhallt. Und meine direkte Reaktion war: Machen wir den Film, denn er wird einige verrückt machen und anderen eine gute Zeit bescheren. Auf dem kanadischen Poster sagt David Cronenberg „ein poetischer Horrorfilm“. Wir behandeln also Elemente des Horrorfilms, aber nicht in derselben Weise. Wir nehmen also etwas, was den Leuten bekannt ist, und machen es mit einer bestimmten Denkhaltung zu etwas anderem.

Aber natürlich haben Sie die Anspielungen auf „Alice im Wunderland“ verstärkt, ich glaube, im Buch gab es keine so expliziten Verweise. Und damit, finde ich, schließt sich ein Kreis zu „Jabberwocky“.

Finden Sie? Ich glaube nicht, dass es da irgendwelche Verbindungen gibt.

Naja, ich denke mir viele Theorien aus. Und ich denke: In „Jabberwocky“ prallen zwei Märchen aufeinander, und in „Tideland“ zwei verschiedene Fantasiewelten von Jeliza-Rose und Dickens, die dann nicht zum Happy End, sondern zur Katastrophe führen.
Ich denke, „Jabberwocky“ ist ein viel klareres Zusammentreffen zweier Märchen. Und daran habe ich bei „Tideland“ gar nicht gedacht. Hier spiele ich mit der vorgefassten Meinung der Zuschauer, die glauben zu wissen, wohin der Film führt. Aber weil es um Fantasiewelten geht, mögen Kinder den Film. Wenn Jeliza-Rose am Ende in diese Katastrophe hineingeht und sich umschaut, und dann ergibt plötzlich alles einen Sinn: Das hat Dickens vollbracht, er ist ein Held, und wir werden glücklich bis ans Ende unserer Tage leben! Aber natürlich ist es nicht so. Das ist der ultimative Moment, wenn ihre Vorstellung ihr nicht hilft. Menschen sterben und sind tot, und sie kommt an, ganz unschuldig, und hält es für eine große Erfolgsgeschichte. Aber das ist es nicht, und sie ist verloren in diesem Moment. Und nun weiß sie nicht mehr, woran sie sich festhalten soll, nichts ergibt mehr einen Sinn. Ihre Fantasie hat versagt. Da ist die ganze Realität um sie, der Tod und das Sterben, und sie merkt: Ist Dickens auch tot? Das einzige, was ihr am Ende bleibt, ist die nette Frau und ihre Freunde, die Glühwürmchen. Es gibt immer noch Hoffnung für ihre Einbildungskraft. Ich weiß nicht, wohin es danach führt, das ist für das Publikum offen zu entscheiden. Es endet wie „2001“ im Gegensatz zu „Close Encounters“.

Ich dachte ein wenig, dass der Vater, von Jeff Bridges gespielt, eine Art schlechtestmögliche Weiterentwicklung von Dr. Gonzo oder Raoul Duke ist.
Möglich. Als wir den Film gedreht haben, haben wir vor allem an den Dude aus Big Lebowsky gedacht. The Dude, zehn Jahre später. The Dude is dad, and the Dude is dead. Nein, es ging nicht speziell um „Fear and Loathing“. Aber sicher geht es um jemanden, der wie Hunter ein großer Rock’n’Roller war, und dann geht es verloren, er wird alt und bitter und drogensüchtig. Aber keine direkte Verbindung in meinem Konzept.

Ist das Ihre Haltung über die Nachwirkungen der 60er?
Ja, wir waren ein Teil davon, also haben all diese Dinge etwas damit zu tun. Die 60er waren toll, weil alles von selbst in alle Richtungen explodiert ist. Alles war voller Optimismus und Hoffnung und dem Gefühl, dass wir die Welt verändern würden. Und wir haben sie verändert, ein wenig zumindest. Aber nicht so sehr, wie es sich jeder erträumt hätte. Dann setzte die Depression ein, nach J.F. Kennedy, Robert Kennedy, Martin Luther King: Was passiert jetzt? Jeder stirbt. In den 80ern ging es dann nur noch um Ich, Ich, Ich.
„Fear and Loathing“ wurde in den 70ern geschrieben, aber schon da waren die 60er und ihr Geist Vergangenheit. Ich habe Amerika 1967 verlassen. Gegen Ende der 60er war es schon vorbei. Als ich dann das erste Mal „Fear and Loathing“ gelesen habe, habe ich alles vollauf verstanden: Der Verlust eines Traumes. Und es ist nie wirklich besser geworden. Damals haben wir alle, die dabei waren, gedacht, dass alles wunderbar wird – was ziemlich naiv war. Aber wir waren alle jung. Und es war aufregend. Es gab auch viel Verlust durch Drogen, viele sind daran gestorben, was schade war. Ich mag Drogen überhaupt nicht, ich beschönige sie nicht. Ich verurteile sie aber auch nicht. „Fear and Loathing“ handelt nicht von Drogen, auch wenn viele das meinen. Es geht um verzweifeltes Verhalten, wenn die ganze Welt zusammenfällt, und man nicht weiß, was man tun soll.

Eine Flucht vor der Realität, wie bei Jeliza-Rose. Aber es sind unterschiedliche Auffassungen von Drogen in „Fear and Loathing“ und „Tideland“.
Ja, genau. Aber Jeliza-Rose läuft nicht vor der Realität davon. Sie ist ein Kind, die die Welt zu verstehen versucht.

Sie vereinfacht die Wirklichkeit.
Die Welt wird um sie herum gebildet, es ist wie in einem Hagel. Alles Mögliche geschieht um sie herum, und sie reagiert auf unterschiedliche Weise. Wie in der Szene, wenn sie Dell begegnet. Dell ist ein schwarzer Riese, die Hexe von Wizard of Oz, der Dschinni von Aladin. Jeliza Rose ist ganz „Wow, Wahnsinn“, und der Wind bläst so sehr, und dann merkt sie: Es ist doch bloß eine Frau.

Und dann wird Dell zum verrückten Hutmacher aus „Alice im Wunderland“: sie zitiert wörtlich aus Carrolls Buch.
Dell verändert sich in dieser Szene, weil Jeliza-Rose herauszufinden versucht, wer diese Frau ist. Sie ist erschreckend und wunderbar und normal und langweilig und bedrückend. Es ist also ihr Akt des Ergründens, wer Dell ist. Und ich habe es so gedreht, um Jeliza-Roses Reaktionen zu betonen auf das, was passiert. Die Kamera verändert Dell dauernd, verändert ihre Form und ihre Größe.

Ist ihre Herangehensweise ans Filmemachen heute anders als in der Zeit von „Jabberwocky“ oder „Time Bandits“? Ihre Filme sind düsterer, depressiver, „Tideland“ oder auch „Fear and Loathing“, wo es hinunter in die Hölle geht.
Ich werde älter.

Sie sollten einen Film pro Jahr machen wie Woody Allen, dem das Drehen gegen seine Depressionen hilft.
Wenn mir das Geld zur Verfügung stehen würde, Filme machen zu können wann und wie ich will, wäre ich weniger deprimiert, und niemand müsste sich „Tideland“ ansehen. Je weniger ich die lustigen Filme machen kann, die ich vorhabe, desto mehr komme ich zu den düsteren Filmen. Wenn ich also die einen nicht machen kann: Passt auf!
Aber „Tideland“ finde ich nicht depressiv. Ich finde es magisch und schön. Es hat ein Ende, das einen unsicher zurücklässt, wie man es finden und darauf reagieren soll. Eher Frauen als Männer scheinen sich auf den Film einzulassen. Bei einem Festival in England kam eine Frau aus der Vorstellung, und sie strahlte, sie hat ihn einfach geliebt. Manche kommen so heraus und finden ihn einfach ganz wunderbar.
Ich habe ein paar Filme gemacht, viel Geld verdient, aber jedes Projekt ist wie ein Neuanfang. Als hätte ich zuvor nie etwas gemacht. Es ist verrückt. Ich verbringe mehr Zeit damit, ein Projekt zum Laufen zu bringen, als es dann durchzuführen. Ich bin 65 Jahre alt, ich kann mit 66, in ein paar Monaten, sterben. Wie viele Filme kann ich noch drehen? Die Filme, die ich wirklich machen will, sind sehr teuer, die einzige Möglichkeit, sie zu machen, ist, einen Top-Schauspieler zu haben. Das Projekt, an dem ich gerade arbeite – es ist noch nicht spruchreif –, haben drei A-List-Actors abgelehnt, alles Freunde, aus unterschiedlichen Gründen, sie können es nicht machen, weil sie an etwas anderes gebunden sind. Jetzt muss ich neue Stars finden.


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