Filmfest München: Außer Rand und Band
Am Filmfest-Freitag hab ich mich unkenntlich verkleidet in eine echte Galaveranstaltung geschlichen, zur Verleihung des CineMerit Awards an Michael Haneke (dass ich aber mit angeklebtem Bart die Bühne erklommen und ebendiesen Preis entgegengenommen hätte, ist ein Gerücht, das so nicht bestätigt werden kann). Eine Menge schöner, reicher und berühmter Menschen waren da, dazwischen ich, und auf der Bühne ging– wie Festivalleiter Andreas Ströhl behauptete – eine Preisverleihung vonstatten, bei der auch Preise verliehen werden. Arri und Zeiss und Audi verkündeten die tiefe Verbundenheit ihrer hochqualifizierten Produkte mit dem Filmfest, Susanne Lothar schämte sich, weil sie overdressed war, OB Christian Ude grüßte die Underdresseden und hielt auch sonst die weitaus unterhaltsamste Rede: über für Lateiner unverständliche Anglizismen (Cine Merit ist nicht gleich sine merit) und über den Münchenbezug von Haneke, dessen Eltern immerhin erkannt haben, wie gut man in den städtischen Kliniken der Landeshauptstadt gebären kann; auch wenn Haneke seither hartnäckig im Wiener Raum lebt.
Zum Rahmenprogramm einer Gala gehört auch ein Film. Und dass Haneke für sein jüngstes Werk gerade die Goldene Palme von Cannes erhalten hat, zeigt tatsächlich, dass die Münchner ein zumeist gutes Händchen bei der Filmauswahl haben - bei der Organisation der Vorführungen allerdings weniger. Denn „Das weiße Band“ lief nur auf dieser nichtöffentlichen Gala und dann noch in einer einzigen Vorführung für das Publikum – nicht einmal eine Pressevorführung wurde angeboten, und das für einen Film nach dem Gewinn eines der höchsten Preise, die überhaupt vergeben werden können. Ähnlich hat man es schon mit Michael Manns „Public Enemies“ gehalten, auf den die Filmfestmacher in ihren Pressemitteilungen ebenfalls unendlich stolz waren – und den sie dann nur einer handvoll Zuschauern zeigten, denen eben, die rechtzeitig Karten für die eine Vorführung gekauft haben. Ein Pressekontingent oder gar eine Pressevorführung waren niemals auch nur angedacht.
Das Filmfest München macht also immerhin gerne Filmvorführungen für Filme mit großem Publikumsinteresse, hält aber alles im exklusiven Zirkel; für einen Abend gehörte ich dazu und sah mit dem „Weißen Band“ den besten Hanekefilm seit Jahren. Eine Rückkehr des Regisseurs ins deutschsprachige Kino ist dieser Film, der die Geschichten eines Dorfes innerhalb eines Jahres vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigt. Der Hintergrund des Lebens und des Alltags auf dem Dorf ist dabei ganz realistisch gezeichnet, mit vielen Kindern, viel Arbeit, Armut, Einfachheit, mit Gottesglauben, mit dem Baron, der der eigentliche Herr des Landstrichs ist. Und dabei inszeniert Haneke in künstlerisch arrangierten Bildkonstellationen, in stilisierten Cadragen, die eine Spannung ergeben mit der Natürlichkeit und der exakten Darbietung des Lebens in den 1910er Jahren. Erzählt wird der ganze Film vom jungen Dorfschullehrer, der den allwissenden Blick des Chronisten mitbringt und in der literarischen Hochsprache der Zeit Bericht erstattet. Berichte von unerhörten Vorfällen: vom Reitunfall des Dorfarztes, der über ein heimtückisch gespanntes Drahtseil fällt, das dann wieder verschwindet. Von der Folterung eines der Söhne des Barons; von den Quälereien, die der behinderte Sohn der Hebamme erleiden musste. Untaten, deren Verantwortlicher nie gefunden wurde.
Zugleich erzählt Haneke von der legitimierten, anerkannten Gewalt, die das Leben prägte – auch das tut er in überspitzter Form, wenn er den Zuschauer frontal mit (für heutige Verhältnisse) Unerhörtem konfrontiert. Der Pfarrer mit seinen ritualisierten Strafaktionen für seine Kinder, denen er ganz automatisch Schuldbewusstsein für ihre vielen, vielen Sünden einpflanzt; der jähzornige Baron; der Arzt, dieser geile Bock, der vor nichts haltmacht, was einigermaßen ein Loch hat zum Reinstecken; der Gutsverwalter, der seinen Sohn mal halbtot tritt. Festgelegte Hierarchien erzeugen autoritäre Strukturen, die sich in gesellschaftlich akzeptierter Gewalt ausdrücken – und die Haneke einfach nur zeigt, ohne sie zu erklären, deutlich zu kommentieren oder gar zu kritisieren. Genau das macht seinen Film (im Grunde sein gesamtes Œuvre) so beklemmend, so verstörend; und es ist die einzige Möglichkeit, um ohne Plattheiten, ohne mit falschem rückblickendem Moralisieren davon zu erzählen, wie die kleinen Gewalttaten in der dörflichen Gemeinschaft in Verbindung stehen mit den großen, weltgeschichtlichen des 20. Jahrhunderts. Man muss in „Das weiße Band“ zwischen den Zeilen lesen, vielleicht auch im in Sütterlin geschriebenen Untertitel des Films: Eine deutsche Kindergeschichte. Und selbst dann wird nie alles aufgelöst, was der Film anreißt. Doch Sinn ergibt es eben doch.
Harald Mühlbeyer