Sidney Lumet ist tot
Er war einer der Großmeister, die das US-Kino vom Fernsehen her kommend aufmischten - und es noch vor den New-New-Hollywood-Rebellen prägte (diesen gar den Weg bereiteten) und es zu einem anspruchsvollen "Kunstkino" machten, ohne dabei jenes packende Erzählen aufzugeben, das bis dahin und heute noch weltweit in seinen Bann schlägt.
Sidney Lumet ist heute im Alter von 86 Jahren in Manhattan gestorben. Nicht alle seiner über fünfzig Filme waren Gold - aber was zählt das schon, angesichts ewig aktueller und wichtiger Klassiker (darunter Bitterböses, Scharfzüngiges, Kalt-Tragisches) wie:
- Twelve Angry Men / Die zwölf Geschworenen
- The Fugitive Kind / Der Mann in der Schlangenhaut
- The Pawnbroker / Der Pfandleiher
- Serpico
- Dog Day Afternoon / Hundstage
- Network
- Family Business / Ehrbare Ganoven
Aber auch weniger bekannte, noch heute tief unter die Haut gehende Werke finden sich, wie Fail Safe (Angriffsziel Moskau), The Offence (Sein Leben in meiner Gewalt) oder zuletzt Before the Devil Knows You're Dead (Tödliche Entscheidung).
Er hat sie alle gehabt, die großen Schauspieler, oft mehrfach, Anouk Aimée, Henry Fonda und William Holden, Richard Burton und Omar Sharif, Al Pacino und Marlon Brando, Dustin Hoffman und Faye Dunnaway, Albert Finney, Paul Newman, Sean Connery, Anne Bancroft, Charlotte Rampling, Gene Hackman, Susan Sarandon und Jeff Bridges, Richard Gere, Sharon Stone und Don Johnson und Philip Seymour Hoffman. Im Zweifelsfall steckte er einen ganzen Batzen gleich zusammen, in einen Zug, für einen Mord im Orientexpress. Ingrid Bergman bekam dabei einen Nebendarsteller-Oscar. Lumet selbst war fünfmal von der Academy nominiert und ging immer leeer aus - "nur" einen für das Lebenswerk gab es, 2005.
Immer sind seine Filme Schauspielerfilme, doch auch wie er die Kamera lebendig sein ließ, sich verkannten, selbst Darsteller sein ließ, zum Beispiel in The Pawnbroker oder dem Kammerspiel Fail Safe, der vielleicht gerade auch seiner Reduktion und Lakonik wegen erschreckendsten, verstörendsten Vision von der Atomkriegsapokalypse, das war dynamisch und atemberaubend, vor allem in ihrer damaligen Zeit.
Wortkarg sind sie manchmal, Lumets Filme, man denke an den maulfaulen jüdischen Pfandleiher (Rod Steiger) in The Pawnbroker, den die Bilder der Vergangenheit anfallen wie die bösen Hunde der Nazi-Lager. Oder der Beginn von Serpico. Freilich: Von dem Drehbuchratgeber-Gebot, man solle möglichst wenig die Figuren reden lassen, schließlich sei der Film ein visuelles Medium, davon hat Lumet nichts gehalten, und die mitunter langen Dialoge gaben ihm Recht: auch redende Menschen können uns im Kino fesseln, packen.
Aber von Twelve Angry Men bis Before the Devil Knows You're Dead war da auch immer ein gewisser Argwohn angesichts der Worte, ob Small Talk oder Liebesschwur, Kollegengespräch oder Erpresserbotschaft. Immer war da etwas Vorgebliches, Performatives, Rituelles. Auch: etwas Verzweifeltes. Die um ein Menschenleben debattierenden Geschworenen und die Anwälte vor Gericht in The Verdict und Find Me Guilty. Der hysterische Fernseh-Wahnsinn rund um den TV-Prediger, dessen Abrechnung mit der neuen Medienwelt von so problemlos ausgeschlachtet wird wie Linksterroristen sorgfältig die Vertragsrechte für ihren Anschlag der Woche für die Kameras sichern (in Network). Die Decodierarbeit in dem Psychoanalyse-Drama Equus oder die Lügengeschichten der Kollektivmörder im Orientexpress. Die Bomberpiloten in Fail Safe, die sich nicht mehr von ihrem Angriffsziel durch Beschwörungen abbringen lassen dürfen, und ein beherrschter US-Präsident, der sachlich über das nukleare Ausradieren New York mit seinem russischen Gegenpart verhandelt und entscheidet - als Kompensation für Moskau - um einen globalen totalen Atomkrieg abzuwenden, den ohnehin nie einer gewollt hat, auch der Computer nicht, der lediglich seiner eigenen Sprachlogik folgt...
Kommunikation war in den Filmen Lumets immer eine Notwendigkeit, um miteinander und mit sich selbst auszukommen, aber sobald sie den Mund aufmachten, musste man Lumets Figuren ganz genau zuschauen, um zu sehen, was sie wirklich meinten und nicht-sagten. So betrachtet waren es stets Schauspielerfilme, die Filme Sidney Lumets, aber sie dienten immer ihrer Story, waren in diese sorgfältig und fest eingebunden. (Entsprechend war Lumet immer eher ein Mike Nichols, gar ein kleiner Kubrick als ein Scorsese, ein Altman).
Es behauptet sich oft und leicht, aber es stimmt: Mit Sidney Lumet ist einer der ganz großen Regisseure des Kinos gestorben und - nach u.a. Sidney Pollack - vielleicht der Letzte einer erzählerisch und ästhetisch ganz besonderen Generation, die ihr Können einem Medien-, Filmkunst- und Kulturwandel als Handwerk abgetrotzt und zur Kunst weiterentwickelt hat, eine Generation die immer noch den Ton zwar nicht mehr an- aber (unhörbar eindringlich wie bei einer menschlichen Hundepfeife) vorgibt.
Bernd Zywietz