Das Zerreißen des Korsetts - Anne Fontaines „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“
von Elisabeth Maurer
Regie: Anne Fontaine. Drehbuch: Anne Fontaine, Camille Fontaine. Kamera: Christophe Beaucarne. Musik:Alexandre Desplat. Produzenten: Caroline Benjo, Carole Scotta, Philippe Carcassonne, Simon Arnal.
Darsteller: Audrey Tautou, Benoît Poelvoorde, Alessandro Nivola, Marie Gillain.
Verleih: Warner Bros.
Laufzeit: 110 min
Start: 13.8.2009
„Coco Chanel“ zeigt nur ganz zum Schluß eine Modenschau in Paris und Coco in einem ihrer berühmten Kostüme. Erzählt wird die Zeit vor ihrem Leben in Paris. Dennoch ist es ein Film über ihren Stil, seine Bedeutung.
Der Anfang zeigt die kleine Gabrielle Chanel, wie ihr Vater sie und ihre Schwester in einem Waisenhaus abgibt und sich danach nie wieder blicken läßt, obwohl Gabrielle immer darauf hofft. Ihre Herkunft zwingt sie zur Einfachheit, dies wird ihr schon im Waisenhaus klar. Dort leben neben den Waisen auch Mädchen in Pension, die Eltern haben und aus wohlhabenden Familien stammen. Diese tragen schöne rote Mäntel, wohingegen Gabrielle ein einfaches schwarzes Waisenkleid anhat. Als sie als junge Erwachsene ihren Lohn als Näherin durch Varietéauftritte gemeinsam mit ihrer Schwester aufbessert, dienen ihre Kleider auch als Abgrenzung zu den freizügigen, geschmacklosen Prostituierten, die sich in den schäbigen Nachtlokalen aufhalten.
An einem der Abende reist sie dem wohlhabenden Offizier Etienne Balsan in sein Schloß nahe Paris nach, nicht aus Liebe, sondern einfach aus dem starrsinnigen Wunsch heraus, ein besseres Leben zu führen. Sie darf dann auch in seinem Haus bleiben, doch trennt sie ihr Stand von den hochgestellten Freunden Etiennes, der sie niemals zu feinen Gesellschaften mitnimmt und sie zwingt sich zu verstecken, wenn er Gäste hat. Etienne ist es auch, der ihr zu seiner Belustigung den Spitznamen Coco gibt, den sie nie mehr loswerden wird. Aber durch ihre Ungewöhnlichkeit, vor allem ihrem Kleidungsstil, gelingt es Coco das Interesse seiner vergnügungssüchtigen Freunde auf sich zu ziehen. Sie beginnt ihre aufgezwungene Schlichtheit und Farblosigkeit in eine Tugend zu verwandeln.
Sie verachtet die Dekadenz, Koketterie, Oberflächlichkeit und Heuchelei der reichen Gesellschaft, deren einziges Ziel das kopflose Vergnügung zu sein scheint. Und Coco wird immer klarer, daß sie selbst als Amüsement für Etiennes Freunde herhalten muß. Einzig der Engländer Boy scheint echtes Interesse an ihr zu haben. Auf einem Maskenball, bei dem er als Pirat verkleidet ist, stellt er sich ihr als Captain Rackham vor. Dieser Pirat ist vor allem dafür bekannt, daß sich auf seinem Schiff die beiden einzigen Piratinnen der westlichen Welt befanden, deren Existenz bewiesen ist. Mary Read und Anne Bonny lehnten sich im 18. Jahrhundert gegen alle Konventionen auf, zogen als Männer verkleidet in den Krieg und erwiesen sich als sehr fähige Piraten. Wie diese Frauen kleidet sich Coco in Männerkleidung. Zwar gibt sie sich nicht als Mann aus, doch macht sie durch ihren Stil klar, daß sie nicht weniger kann, weniger Rechte hat, weniger ist als ein Mann.
In einer Szene springt Coco furchtlos auf ein Pferd, obwohl sie nicht reiten kann, dann galoppiert sie im Männersitz davon und reißt sich das einengende Korsett auf. Den Starrsinn und die zunehmende Befreiung ihrer Rolle drückt Audrey Tautou vor allem durch einen entschlossenen, durchdringenden Blick aus. Die Kleider, die Coco zunächst für sich schneidert und am Ende als Kollektion entwirft, fügen den Frauen nichts hinzu, versuchen nicht sie zu verbessern, verzieren, verformen, sie pressen sie nicht in eine bestimmte Vorstellung, engen sie nicht ein, machen sie nicht zu einem Schmuckstück für den Mann, Ausdruck seines Vermögens und seiner Großzügigkeit. Im Gegensatz zu der Mode der Zeit betonen ihre Kleider nur die Natürlichkeit, die Ursprünglichkeit der Frau, auch ihre Beweglichkeit und Unabhängigkeit. Coco macht klar, daß die Frauen ebenso wie die Männer klare Linien, einfache Muster und Schnitte tragen können.
Coco fasst den Mut, ihre eigene Mode nicht nur für sich, sondern für alle Frauen zu entwerfen. Beim Nähen ist sie einmal zu sehen, wie sie über einem roten Stück Stoff sitzt. Damit kann sie nichts anfangen. Diese Farbe steht für die Dekadenz, den Snobismus und auch die Frauenverachtung der höheren Gesellschaft. Doch gesellt sich zu den schon seit dem Waisenhaus vorherrschenden Farben ihrer Garderobe, Schwarz und Weiß, nun ein helles Rosa hinzu. Coco lehnt Weiblichkeit nicht ab, ihre Vision ist eine Wandlung des Frauenbildes. Der Wandel in den Geschlechterrollen manifestiert sich in dem Modestil, auf der anderen Seite ist es aber gerade auch die neue Kleidung, die die Revolution, das Umdenken hervorbringt. Somit zeigt „Coco Chanel“ den Kampf für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und den Gesellschaftsschichten, die Ursprünge der modernen Mode und der modernen Frau.
Der Film endet mit der Vorführung von Cocos Modellen auf einem Laufsteg voll mit Spiegeln, die die Frauen vervielfachen. Die Frau wird nicht mehr nur einseitig gesehen, nichts wird mehr versteckt, sondern sie darf alle ihre Facetten zeigen und Möglichkeiten ausschöpfen. Nach dem Kinobesuch kann beim Umsehen auf der Straße bei vielem gedacht werden, daß hier Cocos Einfluß erkennbar sein könnte. Und, daß heute vielleicht oft zu nachsichtig und unbewußt mit dem eigenen Stil und der Ausdruckskraft der Kleider umgegangen wird.