Besser spät als nie…

Nachgereichtes vom Max Ophüls Preis 2011

Ja, jetzt ist es eigentlich schon eine Weile vorbei, das Filmfestival Max Ophüls Preis 2011, die Berlinale steht schon wieder an – doch so ganz fertig waren wir mit dem Nachwuchs in Saarbrücken nicht. Viele Filme, eigentlich die meisten, haben wir gar nicht vorgestellt. Aber klar, die mussten im Kopf reifen, sich setzen. Und besser spät als nie war denn ohnehin ein heimliches thematisches Motto, das man öfters antraf auf dem „MOP“, genauer: in seinen Beiträgen.

Wären wir böse, könnten wir darunter auch des CDU-Ministerpräsidenten Müllers Abschied fassen. Dass fiel aber eher in die Sparte „unheimliche Aktualität“ des MOP, denn ehe der (Saar-) Landesfürst seinen Abschied für das Amt des Verfassungsrichters bekanntgab, meinte er noch im Grußwort des Festivalkatalogs, 2011 würden in ihren Arbeiten „die jungen Nachwuchsfilmer das Private, Familie und Freude sowie soziale Aspekte unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt“ stellen. Was insofern Quatsch war, als hier in Sachen Privates, Familiäres, Gesellschaftliches nichts mehr und nicht weniger in den Mittelpunkt stand als es auch sonst der Fall war. Aber irgendwas mussten dem Müller ja seine Presselemuren in den Mund dichten bzw. neben sein Grinsebild ins Programmheft texten, und durch Zufall, Geheimwissen oder orakelige Hellsicht haben sie dem Sichzurückzieher Müller damit aus dem Herzen fabuliert, so wollen wir mal munkeln.



Mehr noch so spooky Koinzidenz bot allein schon mit seinem unglückseligen Titel DER MANN DER ÜBER AUTOS SPRANG (D 2010) Nick Baker Montey. Als Drehbuchautor und Regisseur wird sich mehr noch als das deutsche TV-Publikum an den Kopf gegriffen haben, als „Wetten, dass…?“-Stuntman Samuel Koch im Dezember schwer verunglückte, während er eben das versuchte: über Autos spirngen. Und auch bei Baker geht es darum, dass es nicht geht – bzw.: dass es schief geht. Im Film ist es Julian (Robert Stadlober), der meinte, die Schwerkraft überwinden zu können, zu müssen. Sprach’s dereinst, sprang – und das Unglück ist geschehen. Sein bester Freund, der das Auto fuhr, kam ums Leben, Julian wurde verletzt, leicht, zumindest äußerlich. Innerlich hat es den blonden Jüngling schlimmer erwischt; die Schuld quält ihn – und der Film beginnt, wie sich Julian aus einer psychischen Anstalt davon macht. Seines Freundes Vaters ist schwerkrank, Julian macht sich auf zu einem Marsch quer durch Deutschland, ihn damit heilen. Spiritueller Gang, ich bin dann mal weg. Unterwegs schließt sich dem Verträumten, Entrückten, Versponnenen eine Ärztin an (Jessica Schwarz), eine Hausfrau (Anna Schudt), die ihre Familie auf dem Weg in die Ferien verloren hat sowie, kurzzeitig, der Polizist (Martin Feifel) der Julian wieder einfangen will. Toll ist das ganze gefilmt, naturromantisch stimmungsvoll und zugleich bodenständig-deutsch, doch warum DER MANN DER ÜBER AUTOS SPRANG gleichberechtigt mit Verena S. Freytags ABGEBRANNT (D 2010) den Drehbuchpreis zugesprochen bekam, bleibt schleierhaft. Lange, erklärte Baker bei der Prämierung, hätte man am Drehbuch rumgedoktert, doch sein Film wirkt eher, als wäre man über die zweite Fassung leider nicht hinausgekommen. Halbgar sind die Figuren, was man auch den Darstellern anmerkt: Jessica Schwarz spielt routiniert Jessica Schwarz, Stadlober den Ätherischen, jeder rettet sich in die Standards, die er mitgebracht hat, und von Glück kann man sprechen, dass der kräftige Feifel die Last des Klischee-Bullen zu schultern weiß, der bemüht taff raucht, lose Reden führt, Büchsenbier säuft und doch einen weichen Kern hat: der Polizist, der es sich mit Frau? Freundin? versaut hat, der er nun die Mailbox zuphilosophiert über sich selbst, seinen Charakter.

Die Figuren und ihre Verhältnisse erscheinen merkwürdig unfertig in DER MANN DER ÜBER AUTOS SPRANG, das Mystische des Gehens bleibt unerklärt, schlimmer auch: unverständlich, unerspürt, ebenso das, was Julian für seine Begleiter bedeutet und ihnen gibt. Unausgegoren, eckig, sperrig, allerdings auf keine befriedigende, spannende Art, auch wenn dadurch einige gelungene, leicht surreale Momente zustande kommen (so wenn die zwei Frauen mit Julian den schlafenden Polizisten in seinem Auto mitten im Nirgendwo finden), die jedoch in Gänze betrachtet eher wie glückliche Zufälle wirken, über die hinaus man nichts aus dem Kino mitnimmt – außer einer dann doch: leicht entrückten, betörenden Stimmung, die im Tageslicht dann umso ärgerlich verpufft.

Aber wir waren beim Besser-spät-als-nie, und das gilt besonders für den alten Bäcker Werner Grabosch in POLNISCHE OSTERN, wunderbar griesgrämig verkörpert von Henry Hübchen, dem in Saarbrücken auch die Retro gewidmet war. Graboschs Tochter ist gestorben, die kleine Enkelin Mathilda (Paraschiva Dragus) lebt bei ihm, doch da taucht Schwiegersohn Tadeusz (Adrian Topol) auf, will (und darf! Das Jugendamt hat’s erlaubt!) „Matti“ mitnehmen. Soweit, so schlimm, doch, noch dicker: Tadeusz ist Pole, lebt in Polen, nimmt dahin das Mädchen mit! Werner kann nichts machen (außer zetern), also: fährt er hinterher, quartiert sich ein bei der angeheirateten Sippe und dokumentiert grummelig und auftrumpfend mit einer Videokamera, wie verkommen die Zustände da „drüben“ sind. Wo man, jeder weiß es, korrupt ist, stets Autos klaut oder sonstwie kriminell ist (besonders der Schwiegersohn), und der Katholizismus, ja, der feiert fröhliche Urstände – Mathilda droht, im zum Opfer zu fallen: Nottaufe, die Kommunion steht an! Doch natürlich erweicht sich nach und nach des Grantlers (und Atheisten) Herz, wozu auch die altersfesche Mama (Grazyna Szapolowska – denken Sie sich bitte den Strich durchs „l“ und dergleichen bitte dazu) beiträgt.



Regisseur und Ko-Autor Jakob Ziemnicki, selbst gebürtiger Pole und als Kind nach Deutschland ausgewandert worden, hat mit POLNISCH OSTERN ein famos besetzte Familienkomödie um den Culture-Clash Ost-West gedreht, die sich vor allem dem unbekümmerten spirituellen Glauben der Polen annimmt, wofür man gar im quasi heiligsten Wallfahrtsort Czestochowa drehen durfte. Doch auch mit anderen Klischees und Stereotypen hantiert der Film, der sie einerseits kaputt macht, um sie hinterher dann doch wieder lustvoll zu erfüllen. Wobei man sich nie sicher sein kann, was jetzt nur Ulk ist, Vorurteil oder Realsatire: In einer Szene wird Werner in seinem alten Mercedes von der Polizei gestoppt. 400 Zlotys soll er zahlen (weil er zu langsam gefahren ist) – oder: gemeinsam mit dem Priester, den der Beamte gleich mit dabei hat, beten. Und 400 Zloty sind dem Werner dann doch arges Geld… Albern, übertrieben? Gibt’s wirklich, die Polizeipriester, so Ziemnicke auf Nachfrage von Screenshot – allein schon, um die Beamten vor der Korruption zu bewahren und auf Raser und sonstige Verkehrssünder über das Apell an Seelenheil und Gottesglaube zu einzuwirken. Schön, als Sozius auf dem Motorrad fahren sie allerdings nicht mit…

Zugegeben, so wirklich originell ist die Story von POLNISCHE OSTERN über die Erziehung des alten Fremdenfeindes nicht, aber liebenswert umgesetzt und vor allem mit einem doch leicht anderen, realen Blick (in einer klugen Kamerasprache für die ganz eigene Figurenstory) auf das Alltagsleben der unbekannten östlichen Nachbarn erzählt, der selbst ein bisschen staunt. Henry Hübchen mit Schiebermütze und Popelinejacke spielt überdies selbst zwar bereits eine herkömmliche, gar leicht abgegriffene Witzfigur – doch wie er stänkernd mit seiner Videokamera eifrig aufklärerisch und „entlarvend“ herumhantiert, ist schon ein Genuss für sich.

Erzogen wird zu guter Letzt auch Benno (Fabian Krüger) in Peter Luisis skurril-charmanten, durch das Schwiizerdütsche noch mal so lustigen Film DER SANDMANN (CH 2011). Eine hübsche Vorzeige-Freundin, einen gemütlichen Job im Briefmarkenladen (wo er sich schon mal einen Kunden übers Ohr haut und die seltene Marke gleich unterschlägt), eine fesche Erscheinung – der eitel-selbstbewusste Geck hat kein Problem. Außer die Café-Besitzerin, die ihren Laden genau unter seiner Wohnung hat und nächtens für ihre Solokarriereproben nutzt. Sandra (Frölein Da Capo – eigentlich Irene Brügger, die mit dem, was sie hinreißend im Film vorführt, berühmt geworden ist) heißt die Dame, und so schön freimütig fies wie Egozentriker Benno mit ihr umspringt, hat man lange keine Frau geschmäht gesehen. (Auf das Schweizerdeutsch habe ich schon verwiesen, es sollte gerade in dem Zusammenhang aber nochmals und besonders erwähnt werden.) Allerdings gesellt sich zu dem Problem mit der so nett schmollenden Sandra für Benno bald noch ein zweite Problem hinzu: Sand. Erst im Bett, dann im Laden – zunächst wundert sich Benno, schließlich ist er entsetzt. Denn er ist, der diesen Sand verliert, der der Sand ist. Der Arzt kann nicht helfen, der obskure pseudoosteuropäische 0190-Wahrsager im Nachtprogramm ebenso wenig. „Du rieselst!“, merkt‘s schließlich auch der Chef – „Ich riesel nicht!“ beteuert Benno, was dann so weitergeht („Das ist nur eine Phase!“) und nur einer der vielen ulkigen Dialoge in diesem Film ergibt.




Aber was ein rechter Sandmann ist…: Benno stellt fest, dass sein Sand einschläfernde (und traumerotische) Wirkung hat, womit er erstmal gehörig Schindluder treibt. Bis er schließlich merkt, dass er sein Leben gehörig ändern muss (und sich darin selbst einiges eingestehen muss), wenn noch etwas von ihm übrig bleiben soll. Und dazu gehört natürlich auch: Sandra. Was dann in einer der schönsten dahin geflüsterten Liebeserklärungsbeleidigungstirade mündet, die man sich denken mag.

Auch wenn’s zum Ende etwas kompliziert wird (z.B. mit der Psycho- und Traumfunktionslogik) und auch hier der große Story die konventionelle, konservative des Bestrafens und Zurechtstutzens eines Ekels mit Esprit ist: DER SANDMANN knirscht nicht, klumpt nicht, staubt nicht, ist witzig, leicht, elegant und trotzdem: liebenswert bizarr – also: genussvoll körnig. Ein Film, der einem im Schlechte, vor allem aber im Guten wohlig zwischen den Fingern hindurchrinnt. Was an den genüsslichen Darstellern liegt, an Luisis charmantem Buch und einer originellen (auch aus der Not beim Dreh geborenen) Kamera(un)schärfearbeit, die dem Film das notwendig Träumerische verleiht. Den Zuschauerpreis gab es für all das – und wie man munkelt daraufhin schon erstes Verleih-Interesse. Recht so.



Das Motto „Besser spät als nie“ stößt an die Grenzen – zumindest die des Zynismus – wenn es um Christine Reponds SILBERWALD (CH 2010) geht. Obwohl manche Zuschauer, vom Programmheft verführt, lange warten mussten, bis es „losging“. Ein Missverständnis. Denn die Geschichte um den 15-jährigen Sascha (Saladin Deller), der in einem so kleinen wie nichtssagenden, sprich alltäglichen, nicht mal idyllischen, sondern hundsgewöhnlichen Dorf im Emmental lebt, lebt gerade vom Auf-der-Stelle-treten, dem Herumhängen, Nichts-tun und Nichts-zu-tun-Wissen. Darum geht es. Die Schule ist um für Sascha, doch während die Freunde irgendwelche, vor allem meist herkömmliche Lebens- und Berufswege einschlagen, gammelt Sascha in den Tag, knattert mit Mopet herum, ist sich selbst zu viel und zu wenig – was ist, was er will: ein Achselzucken. Grau, trüb und schleppend gestaltet der Film sich, wird dabei aber nicht langweilig, gerät gar packend in seiner enervierenden Ruhe; eine fesselnde, gefesselte Tristesse wie sie Fassbinders WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? (BRD 1970) so wundersam zelebrierte. SILBERWALD ähnelt darin ein wenig an die neueren lakonischen Filme, ist wie einer von Köhler, von Hausner, den „Berlinern“, aber weniger stilistisch darin, ästhetisch, denn die Starre, das Müde und zugleich verzweifelte Verhaftet- und Verfangen-Sein ist das der Figur. Die alleinerziehende Mutter setzt Sascha zu, redet ihm ins Gewissen: Eine Lehre soll er machen. Wie alle anderen. Die dabei auch nicht glücklich werden.

Dann, endlich, und so verheißt es die Inhaltsangabe, entdecken Sascha und seine Freunde im Wald nächtens eine Ferienhütte, in der Neonazis feiern. Alle drei Buben gehen anders damit um, mit dem gehässigen Interesse, mit der Einladung der Glatzen. Sascha ist fasziniert. Irgendwann schert er sich auch den Kopf, dabei bleibt es nicht – aber als es losgeht, hört der Film auf. Er hat gesagt und gezeigt, was er wollte.

SILBERWALD, prämiert mit dem Interfilmpreis, ist kein Film über eine Radikalisierungskarriere, sondern besser, wichtiger, eine Beispiel für den Weg dahin, eine fundamentale Story, die entsprechend früher einsetzt. Schmerzhaft eindringlich zeigt Repond, die auch das Buch geschrieben hat, zusammen mit der frösteligen, aber unverkünstelten Kamera von Michael Leuthner das Fatale hinter der Langweile und Zukunftslosigkeit, der Wut und der Angst, die sich darin und dahinter aufstaut, und die gerade mit all den politischen Sozialparolen und politischen Wohlmeinerei schlicht nicht zu adressieren ist, weil die völlig vorbeigehen an dem Dilemma, sich in eine identitäre, berufliche, emotionale Bewegungs- und Ausweglosigkeit zu verrennen. Dass es Skinheads sind, Ausländerhasser, ist nahezu egal, denn SILBERWALD beschreibt eine Leimfalle, bei der es nicht um Weltsicht, sondern um ein ganz einsames, individuelles und nicht teilbares Weltgefühl geht. Die Nazi bieten vielleicht ein falsches Lebensmodell, aber immerhin: ein lebendiges, eines, das nach Anderssein, nach Ausbruch, nach Alternative schmeckt.

Oft mag man diesem Sascha in den Hintern treten, damit er selbigen hochbekommt, aber ein bisschen Angst schwingt dabei selbst mit, weil man doch ahnt, spürt – oder in der Weisheit und genauen Beobachtungsgabe des Films vorgestellt bekommt – wie leicht es ist, den Weg und sich selbst zu verlieren in die Passivität, innere Leere und seelische Katatonie mangels Perspektive – und mangels einem vielleicht gar nötigen existenziellen Selbstbetrug hinsichtlich Beruf, Lebensführung und -sinn. Ob jugendlicher Rechtsradikalismus, Hartz IV-Depression oder extremistischer Islamismus: SILBERWALD inspiziert die Dynamik eines monströsen alltäglichen, individuellen wie gesellschaftlichen Stillstands mit einem darauffolgenden Abdriften und geht dabei still, heimlich ans Eingemachte. Bedrückend und gut.

Bernd Zywietz