BERLINALE 2011: PINA


Nur zwei Filme gesehen heute – muss auch mal reichen. Obzwar ich mir LES CONTES DE LA NUIT / TALES OF THE NIGHT gerne angeschaut hätte: ein 3D-Scherenschnittfilm. Klingt so absurd wie die Existenz des Billigplagiats von PARANORMAL ACTIVITIES, soll aber wunderschön und faszinierend gewesen sein. Doch ausgeschlafen wollt ich, weswegen ich mich gegen halb elf aus dem Haus macht und siehe da: nicht nur, dass es schneite, sondern das Filmgewerbe war fast vor die (Vorübergangs-) Haustür gekommen. Wenn der Berg eben nicht zum Propheten… Nein, tatsächlich standen Reflektoren und Scheinwerfer vor dem CD- und Plattenladen in der Zossenstraße. Der Film habe noch keinen (oder nur einen Arbeits-) Titel, beschied mir der freundliche junge Set-Runner. Und wer ist der Regisseur?, fragte ich, worauf er antwortet: Pssst! Weil sie gerade drehten, mit Ton und so. Aber auch danach wusste er nicht, was er mir erzählen dürfte, so ließ ich ihn in Ruhe seine Tagewerk verrichten, fuhr zum Potsdamer Platz und sah:

PINA von Wim Wenders. Und auf einen Nenner gebracht ist der Film schlicht: Wow! Schon lange hatte Wenders einen Kinoprojekt mit und über Philippine "Pina" Bausch bzw. ihrem Tanztheater Wuppertal geplant, bislang aber nicht den richtigen Ansatz gefunden – bis schließlich die neue 3D-Technik es erlaubte, das Räumliche von Körpern und ihrer Choreografie angemessen zu erfassen. Dann ist Pina Bausch 2009 überraschend gestorben. Ohne sie entstand nun PINA in einjähriger Arbeit als eine Hommage an die Tänzerin und Direktorin, eine Ehrung, Verbeugung, fast eine Anbetung. Kein Film über Pina Bausch (in Sachen Information ist in PINA nichts zu holen), sondern „mit“ ihr, für sie, über das, was sie kreierte.



Manche Wenderismen suchen den Film heim, Firlefanz, wie die wenige Originalaufnahmen von ihr, die als Film im Film projiziert sind auf eine Leinwand - immer noch eine mediale Schichtung bedeutet das. Ihre Schauspieler sitzen vor graurissiger Kulisse, schweigen, schauen in die Kamera oder dran vorbei, während ihre Stimme aus dem Off kurze Erinnerungsstücke zu Pina und der Arbeit mit ihr liefern. Viele waren ergriffen, auf der Leinwand, davor, auf der Pressekonferenz im Hyatt nach der Vorführung, doch irgendwann ist es – bei aller Genialität und Größe der Person – eben auch mal gut mit der Ehrfurcht und Hagiografie dieser Frau, die über allem schwebt. ABER: Die Ehrerbietung ist ohnehin Trauerarbeit und -stück und überdies berechtigt bzw. angebracht - eigentlich stört die Erinnerungshuberei nur, weil der Film ansonsten in einem ganz anderen, so großartigem Vermächtnis schwelgt, einem, das einen mit Haut und Haaren betört, packt und fasziniert, so dass man davon nicht genug bekommen will. Denn was an Tanzsequenzen, zusammengestellt aus verschiedenen Stücken, PINA bietet, ist schlicht atemberaubend. Doch es ist nicht nur das Glanzwerk der Tänzer, der Choreografie und Kulisse, die Faszination von Körpern, Raum und Bewegungen, durchaus auch humorig; nicht nur auf der Bühne, auch in einer Wuppertaler Schwebebahn, auf einer Verkehrsinsel. Nein, PINA ist nicht nur Pina.



Zwar beteuert Wenders immer wieder, dass er dem, was Pina konzipiert, erdacht und geschaffen hat, so treu und ehrfurchtsvoll zurückhalten, wahrhaftig wie möglich begegnet ist. Einzig das Licht auf der Bühne sei für die Aufnahmen höher gedreht worden. Doch tatsächlich hat Wenders selbst und sein ganz eigener Blick gehörigen Anteil an diesem staunenswerten Wunderwerk des Kinos, einfach weil er die Sprache des Tanztheaters mit der des Films ergänzt, bereichert und multipliziert hat und so etwas Neues und Eigenes geschaffen hat. Die Montage kommt hinzu, die dezente, aber wichtige Kamerabewegung selbst, unterschiedliche Einstellungsgrößen. Und natürlich: die dritte Dimension der Stereoskopie, die hier den besten Beweis liefern dürfte, dass 3D tatsächlich die Zukunft des Kinos bedeuten kann, nicht für alles, hier aber auf jeden Fall. Sogar die kleinen Schwächen haben ihre ihren ästhetischen Mehr- und Eigenwert: Draußen, vor den Scheiben der Schwebebahn wirken die Straßenzüge flächig wie gemalte Kulissen und eröffnen doch Räume, durch die sich der Zuschauer hindurchbewegt. Dann wieder eine Wahnsinnsspielerei: Die Kulisse des „Café Müller“-Stücks als Setzkasten, in dem Wegbegleiter von Pina die Künstler - Tänzer, Darsteller, "Körpermaler" – beobachten, wie die gerate tanzen (spielen, "malen").

Diese Räumlichkeit ist keine, die für eine irgendwie natürliche mimentische Wiedergabe oder Wahrnehmung steht, auch wenn sie tatsächlich die Tiefe, Örtlichkeit, Dynamik und Nähe veranschaulicht, ach was – spürbar und erlebbar macht. PINA ist Kunst über Kunst und dabei multimedial und pan-, pluri-, metadimensional (auch der Ton und die phantastische Musik, die mehr ist als nur Ergänzung). PINA ist kein Film, sondern ein Ereignis - etwas, das man erfahren muss, in das man eintauchen, sich wegtragen lassen muss, dabei ruhig auch mal auf die Entzifferung der Sprache des Bewegungen und ihres Zusammenspiels verzichten kann (oder die bei aller Ironie traditionellen Geschlechterrollenzuschreibungen, die die gesamten Arrangements und Figuren durchziehen als allzu überkommen und vor allem eintönig betrachten, aber auch einfach mal hinnehmen sollte).

Auch wenn das Wenders sicher vehement abstreiten würde und es dem respektlos dem Tanztheater gegenüber erscheinen mag: Eine Originalvorführung für den Zuschauer mit fester Perspektive und Distanz beizuwohnen, kann dagegen nur schwächeln und höchstens mit etwas benjamin’sches Auratisches dagegensetzen.

Die übliche Filmkritik jedenfalls, die nur mit Worten hantieren kann – und nein, vortanzen tue ich Ihnen diesen Text nicht, sorry – muss hier die Waffen strecken.

Den zweiten Film heute war der irische THE GUARD. Angesichts des Solitärs PINA sei darüber ein andermal geschrieben.



PINA ist auf der Berlinale noch an folgenden Terminen zu sehen:

Mo 14.02. um 14:30 Urania
Mo 14.02. um 22:00 Urania
Fr 18.02. um 17:30 Urania


Bernd Zywietz