Auf DVD: „Precious – Das Leben ist kostbar“ – Emanzipation durch Bildung

„Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire“. USA 2009, Regie: Lee Daniels

Beim Sundance Filmfestival 2009 gewann PRECIOUS den Jury- und den Publikumspreis. Weitere Preise folgten. Höhepunkte waren der Golden Globe sowie der Oscar für Mo’Nique als beste Nebendarstellerin und ein weiterer Oscar für das beste adaptierte Drehbuch. Neben den Amerikanern, die den Film euphorisch feierten, gab es auch jene, die ihn wütend verrissen. Die schwersten Vorwürfe erhoben afroamerikanische Kritiker, die in PRECIOUS eine Anhäufung von negativen und erniedrigenden Klischees über schwarze Amerikaner sahen. In Deutschland wäre der Film beinahe nicht in den Kinos gestartet. Kein Verleih wollte ein Sozialdrama zeigen.

Die Filmheldin, die 16-jährige Claireece Jones, genannt Precious, ist extrem übergewichtig, schwarz und Analphabetin. Sie wächst in Harlem auf, jenem Stadtteil, der zum Zeitpunkt der Filmhandlung, 1987, zu den heruntergekommensten afroamerikanischen Vierteln New Yorks gehörte. Weil sie zum zweiten Mal schwanger ist, wird Precious von der Schule verwiesen.

Zuhause auf dem Sofa vor dem Fernseher wartet Precious’ nicht ganz so fettleibige Mutter Mary, gespielt von der Entertainerin Mo’Nique. Sie interessiert sich für die schulische Laufbahn ihrer Tochter nicht im geringsten. Wichtig ist ihr nur der Scheck von der Fürsorge und dass ihre Tochter den Haushalt nach ihren Wünschen schmeißt. Wie eine Sklavenhalterin scheucht sie Precious durch die armseligen vier Wände. Precious’ Zuhause gleicht einer Hölle. Tagtäglich muss sie extreme Erniedrigungen und körperliche Gewalt durch die Mutter und seit ihrem dritten Lebensjahr den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater ertragen. Ihr Rufname – er bedeutet wertvoll, kostbar, heiß geliebt – klingt angesichts dessen wie beißender Spott. Den Momenten akuter Demütigung und Gewalt entzieht sich Precious, indem sie in Tagträume flüchtet. In ihnen ist sie ein von den Massen umjubelter, begehrter Star.

Inszeniert Regisseur Lee Daniels (Produzent von MONSTER’S BALL und THE WOODSMAN) manche Szenen wie ein Gespräch mit der Schuldirektorin Mrs. Lichtenstein zurückhaltend, fast dokumentarisch, so wechselt er in den Sequenzen häuslicher Gewalt die Bildästhetik. Dramatische Low-key-Ausleuchtung, bei gleichzeitig hoher Farbsättigung, Detailaufnahmen und Zeitlupen heben die Szenen deutlich aus der übrigen Erzählung heraus. Mittels geschickter Montage wird in Rückblenden die Vergewaltigung durch den Vater andeutungsweise eingeflochten und verknüpft mit Precious Teenagerfantasie. Anschließend nimmt Daniels die Auseinandersetzung in der dunklen Wohnung in Harlem wieder auf.

Während die abstoßenden Bilder die Vergewaltigung „nur“ andeuten, ist die Sprache extrem obszön und verletzend. Daniels gelingt in diesen Szenen sowohl eine Sogwirkung, der sich das Publikum bei aller Mühe um innere Distanz nur schwer entziehen kann, gleichzeitig macht die farbige Inszenierung der Tagträume das Elend – ebenso wie für die Heldin – auch für den Zuschauer erträglicher.

Mit einer Fahrstuhlfahrt nach oben in den 11. Stock, in dem das alternative Schulprojekt Each One Teach One untergebracht ist, beginnt für Precious ein Aufwärtstrend. Sie begegnet der einfühlsamen, engagierten Lehrerin Ms. Rain. Mit ihrer Schönheit, Eleganz und ihrem Liebreiz verkörpert die Lehrerin, gespielt von Paula Patton, die gute Fee in dieser Geschichte. Ms. Rain lehrt ihren Schülerinnen lesen und schreiben, und sie ermuntert die Mädchen, an sich selbst zu glauben und ihre Persönlichkeit auszudrücken. Die zweite „gute Fee“, die sich Precious’ Schicksals ernsthaft annimmt und ihr aufmerksam zuhört, ist die Sozialarbeiterin Mrs. Weiss, überzeugend einfühlsam von der Popsängerin Mariah Carey gespielt.

War Precious’ ganzes Selbstbild und ihr im Voice-over zu hörender innerer Monolog aus Selbstbeschimpfungen vom Vokabular ihrer Mutter geprägt, so entwickelt Precious schreibend ihre eigene Stimme und entdeckt sich als eigenständige Persönlichkeit. Mit dem Feedback von Ms. Rain entwickelt Precious ihre eigene Sichtweise auf die Ereignisse. Hatte sie anfangs der Direktorin Mrs. Lichtenstein auf die Frage, wieso sie schwanger sei, noch lapidar geantwortet: „Ich hatte Sex“, wird sie schließlich der Sozialarbeiterin, ihrer Lehrerin und ihren Mitschülerinnen die andere Wahrheit offenbaren, nämlich, dass ihr Vater ihr die Kinder „gemacht hat“.

In der Romanvorlage „Push“ von Sapphire erzählt die Protagonistin ihre Geschichte in inneren Monologen. Dabei steigert sich mit zunehmender Emanzipation der Heldin deren sprachliches Ausdrucksvermögen hinsichtlich grammatikalischer und intellektueller Komplexität. Abgesehen von der Titelsequenz, wo in den in Handschrift gestalteten Credits einzelne Buchstaben fehlen, greift der Film dies in Precious’ Voice-over Monologen nur selten auf. Bevor Sapphire ihren ersten Roman 1996 vorlegte, hatte sie von den frühen 80ern bis in die frühen 90er Jahre selbst in Harlem gelebt und Kindern und Erwachsenen Lesen und Schreiben beigebracht. „Push“ wurde mehrfach ausgezeichnet und von US-Talkerin und PRECIOUS-Mitproduzentin Operah Winfrey regelrecht gefeiert. In den USA wurde der Roman zum Bestseller.

Daniels Film erzählt Precious’ Flucht und ihre Emanzipation dramaturgisch dicht in ausgewählten Bildern. Obwohl mit schweren Schicksalsschlägen in diesem Film ebenso wie in der literarischen Vorlage nicht gespart wird, wohnt Precious’ Emanzipation eine Leichtigkeit inne. Reinen Herzens, mit klarem Urteilsvermögen und übervoll an Mutterliebe will sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen, sie schützen und fördern.

Der Plot erspart der Hauptfigur langwierige quälende Selbstvorwürfe und Selbstzweifel, wie sie sich die Opfer von Missbrauch und Inzest häufig machen. Precious besitzt eine innere Makellosigkeit, eine ungebrochene Unschuld, wie sie sonst nur Helden im Märchen besitzen. Dagegen wirkt ihre Mutter Mary umso grausamer. Wie Mary zu dem wurde, was sie ist, lässt der Film offen. Wenn sie am Ende bei Mrs. Weiss sitzt, den Missbrauch ihrer Tochter schildert und sich dabei selbst beweint, begreift der Zuschauer die zerstörerische Dynamik, in der Täter sich für Opfer halten und ihre Opfer zu Tätern erklären.

Getragen von großartigen Schauspielerleistungen und einem gut geschriebenen Drehbuch erzählt PRECIOUS von der Wirkung der Bildung und der Notwendigkeit engagierter Helfer. Regisseur Lee Daniels ist ein ebenso kluges wie unterhaltsames Sozialdrama gelungen. Dass es teilweise etwas plakativ daher kommt, sei im angesichts der wichtigen Botschaft und wegen seines Mutes, den er bei der Inszenierung bewiesen hat, verziehen.

Karin Tilch


„Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire“.
USA 2009, Regie Lee Daniels. Drehbuch: Geoffrey Fletcher nach dem Roman „Push“ von Sapphire. Kamera: Andrew Dunn. Musik: Mario Grigorov. Schnitt: Joe Klotz. Produktion: Lee Daniels, Sarah Siegel-Magness, Gary Magness. Ausführende Produktion: Operah Winfrey, Tyler Perry, Lisa Cortés, Tom Heller.
Darsteller: Gabourey Sidibe, Mo’Nique, Paula Patton, Mariah Carey, Lenny Kravitz
Vertrieb: Prokino
Laufzeit: 109 min
Veröffentlichung am: 16.09.2010

Extras (ca. 50 min): Audiokommentar mit Regisseur Lee Daniels, Gabbys Probeaufnahmen, unveröffentlichte Szene, Interview mit Lenny Kravitz, Operah und Tyler: Herzblut für Precious, Szenen vom Dreh, Film trifft Roman: Lee Daniels und die Romanautorin Sapphire


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