„Meet me in Montauk…“ oder: die Welt als Traum und Tüftelei --- Die Musikvideos und Filme Michel Gondrys
Von Cord Krüger
Erstmals veröffentlicht in Screenshot #26/2005 – als wir noch eine Zeitschrift waren…
Die Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben; die Wirklichkeit steuert nur eine geringfügige Grundlage bei, auf der die Phantasie weiter schafft und neue Muster webt: ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen.
Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, treten wieder zusammen.
August Strindberg, 1902
Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, gehen in Luft auf, verdichten sich, zerfließen, treten wieder zusammen.
August Strindberg, 1902
Was der schwedische Dramatiker und Essayist August Strindberg seinem Theaterstück „Ein Traumspiel“ voranstellt, lässt sich – wie Botho Strauß in dem Essay „Zeit ohne Vorboten“ einstmals mit bekannt polterigem Beiklang konstatierte – bereits als Essenz des modernen Musikvideos verstehen. Seit Strindberg, so der große Dichter aus der Uckermark, habe sich allenthalben die „Beschussquote durch Reize“ erhöht. Tatsächlich verhandelt das Musikvideo Traumzustände und andere Äußerungen des Unbewussten, allein: das verdrängende und verarbeitende Subjekt dieser „dreamlike visuals“ (Marsha Kinder) bleibt verborgen. Wer träumt da eigentlich?
Zumindest im Falle des Franzosen Michel Gondry lässt sich der Urgrund seiner Musikvideos leicht identifizieren: Hier träumt der Chef! Allerlei Versponnenes findet so seinen Weg zu MTV und Co, ein nicht selten surreales, zumeist faszinierendes Konglomerat aus Erträumtem, Erlebtem oder Erdachtem. Auf dem Weg von der Idee zum Video kommen Gondry nur selten Über-Ich oder sonstige innere Bedenkenträger in die Quere, und weil sich seine Arbeiten in einem so flüchtigen Medium wie dem Musikfernsehen dem Betrachter in die Erinnerung graben und so der Bilderflut des all zu schnell versendeten trotzen, gilt Gondry quasi als Autorenfilmer des Musikvideos.
Sein Œuvre umfasst bis heute über 40 Arbeiten für Musiker, zahlreiche Werbespots (darunter „Drugstore“ („Levi’s“, 1994), den noch immer meistausgezeichneten Werbeclip der Geschichte), eine handvoll uriger Kurz- und zwei Spielfilme, „Human Nature“ (F/USA 2001) sowie „Eternal Sunshine of the Spotless Mind, aka „Vergiss mein nicht!“ (USA 2004). Geboren am 8. Mai 1963 in Versailles verbrachte der kleine Michel seine Kindheit in eben jenem Pariser Vorort. Weil sich das Wohnhaus seiner Familie auf der Grenze zwischen Stadt und Wald befand, war er stets unsicher, was davon die natürliche und was die unnatürliche Umgebung des Menschen sei – eine für sein späteres Werk nicht unerhebliche Frage. Bei den Gondrys lag die Tüftelei in der Familie (Michels Großvater erfand einen Vorläufer des Synthesizers, die „Clavioline“), und so tat sich schon der kleine Michel in Sachen Kreativität und Geschick hervor, bastelte Sets und Szenerien aus Legosteinen, Scherenschnitt-Figuren und fabrizierte erste Trickfilme. Nach dem Besuch einer Pariser Kunsthochschule schloss er sich Mitte der 1980er Jahre der Elektropop-Formation Oui Oui an, wobei seine Berufung eher in den Musikvideos denn im Schlagzeugspiel lag.
„Dreamlike Visuals“
Diese erste Gehversuche waren reine Animationsfilme – vergleichbar den Gutenachtgeschichten des Sandmännchens –, und ihre bewusst in Kauf genommene handwerkliche Unvollkommenheit zeigte, dass Gondry sich keineswegs von den Themen und Mitteln seiner Tüfteleien aus Kindertagen zu emanzipieren gedachte. Von „La Ville“ (Oui Oui, 1987) bis „Ma Maison“ (Oui Oui, 1990) nutzt Gondry nichts, was sich dem Zugriff eines Zwölfjährigen entzöge, pfeift auf Realismus, und jeder Anflug stilistischer Geschlossenheit muss in einem Übermaß kreativer Einfälle und kindsköpfiger Spielereien untergehen.
1993, Oui Oui hatten sich ein Jahr zuvor aufgelöst, heuert Björk ihn für das Video zu ihrer ersten Solosingle „Human Behaviour“ an – für beide bedeutet das den internationalen Durchbruch. In „Human Behaviour“ entwirft Gondry eine alptraumhafte Szenerie: Er übersetzt seinen lose auf Yuri Norsteins „The Hedgehog in the Fog“ (RUS 1975) basierenden Plot (Bär verfolgt Mädchen im Wald) in eine Art Kinderzimmer-Expressionismus aus Plüschkostümen und unproportionierten Tieren mit ungeschlacht-ruckeligen „Stop-Motion“-Bewegungen. Björks eigenwillige Musik und Gondrys bizarre Märchenwelt faszinieren und verstören zugleich. Eine Tür ins Innere des Betrachters scheinen diese suggestiven Bilder aufzustoßen. Ist es der Alptraum einer Erinnerung oder die Erinnerung an einen Alptraum, die Gondry da heraufbeschwört?
In jedem Fall geht es ihm in seinen „dreamlike visuals“ weniger um eine konkret-situative Vergangenheit als um die schmerzvoll-schwelgerische Patina von Nostalgie, nicht darum, wie die Dinge waren, sondern wie man sich an sie erinnert: Wenn der kleine Junge in „Music Sounds Better with You“ (Stardust, 1998) ein rotes Flugzeug bastelt, etablieren Gondrys golden erstrahlende Bilder neben der Geschichte das Gefühl eines weit zurückliegenden Sommers, in dem alles möglich erschien. Erinnerung und Traum werden so selbst zum Thema seiner Arbeiten.
Aufgrund der knappen Laufzeit eines Musikvideos muss der Regisseur paraphrasieren und pointieren. Gondry arbeitet dazu mit Identitätsorten, -gegenständen und -erlebnissen, die für jeden anders und doch für alle ähnlich sind. Diese Fähigkeiten kommen ihm in “Eternal Sunshine” zupass, wo er aus wenigen, überdies handlungstragenden Elementen ein ebenso zärtliches wie unerbittliches Porträt der Beziehung zwischen Joel und Clementine zeichnet, aus Momentaufnahmen eine Stimmung destilliert.
Seinem Motiv- und Symbolfundus bleibt er dabei treu: Wald und Hütte des in vielerlei Hinsicht prototypischen „Human Behaviour“ kehren in „Everlong“ (Foo Fighters, 1997) zurück, die naiv-naturbelassene Künstlerin aus „Isobel“ (Björk, 1995) und „Bachelorette“ (Björk, 1997) findet ihre Widergängerin in „Human Nature“, und mit einem roten Flugzeug hadert auch Kindskopf Rob in “Eternal Sunshine” am Strand herum.
Hypnotisches und Ornamentales
Neben solchen verfilmten Träumen (bzw. was dem sehr nahe kommt) bilden formal gestrenge Visualisierungen von Musik und insbesondere Rhythmus den anderen großen Teil in Gondrys Schaffen. Wo hüben die assoziativ-gleitende Logik von Traum oder Erinnerung den Ton angibt, richtet sich drüben alles nach bestimmten Bild-Algorithmen – so wie bei „Star Guitar“ (Chemical Brothers, 2001). Das Video zeigt ein Zugfenster, an dem eine Industrielandschaft samt Strommasten, Schornsteinen und Lagerhäusern vorbeirauscht. Dabei wiederholen sich die Elemente nach einem genau auf den Rhythmus der Musik abgestimmten Muster, werden Motive des Liedes mit entsprechenden Bildmotiven visualisiert. Dem flüchtigen Betrachter kann sich dieses Moment der Inszenierung glatt entziehen, was der hypnotischen Wirkung des Clips jedoch keinen Abbruch tut. In „Around the World” (Daft Punk, 1997) verfährt Gondry ähnlich: Hier zuckeln Vierergrüppchen von Skeletten, Robotern und anderem Kinderzimmerinventar auf einer Bühne im Kreis herum. Jeder Gruppe ist eine Tonspur zugeordnet und je nachdem, ob gerade Gitarre oder Schlagzeug dran sind, recken die Skelette die Arme oder verrenken sich die Mumien im Takt. Das sieht albern aus, ist jedoch ungemein clever ausgeführt und bleibt in der Bilderflut des Musikfernsehens als Strandgut zurück. Neueste Arbeiten für The White Stripes („The Hardest Button to Button”, 2003) und The Vines („Ride”, 2004) stellen nur mehr Variationen dieses algorithmisierenden oder ornamentalisierenden Prinzips dar.
Im Übrigen regiert der Aberwitz: „Bachelorette” erzählt von einem Theaterstück über ein Theaterstück über ein Theaterstück über ein Buch über ein Mädchen, welches im Wald ein leeres Buch findet, dessen Seiten sich langsam mit der Geschichte „Bachelorette” füllen. Das Erzählprinzip gemahnt an die ineinander geschachtelten russischen Puppen. Nach surrealistischen Prämissen steht die Welt in „Deadweight” (Beck, 1997) Kopf. Menschen tragen Autos spazieren, an den Wänden hängen gerahmte Tapetenstücke und Schatten werfen Menschen. Das vielleicht elaborierteste Erzählkonstrukt bietet Gondry jedoch in „Sugar Water” (Cibo Matto, 1996) auf: Zwei Erzählstränge in Splitscreen, einer läuft vorwärts, der andere rückwärts ab; in der Mitte des Stücks konvergieren beide Stränge und wechseln ihre Abspielrichtung. Gondry berichtet dazu, er habe ein filmisches Palindrom drehen wollen. So ist es gleichgültig, ob man „Sugar Water” vorwärts der rückwärts anschaut – seichte Musikvideokost sieht anders aus.
Doch nicht nur von ausgetretenen Pfaden und Topoi des Erzählens hält der Franzose wenig. Auch jene wohlfeilen Stilismen, welche man gemeinhin als „Videoclipästhetik“ denunziert, sind seine Sache nicht. Wie seine Kollegen Chris Cunningham, Spike Jonze oder Jonas Åkerlund zieht Michel Gondry das Auffällige stets dem Gefälligen vor, bricht bei ihm das Experimentier- stets das Gewohnheitsrecht. In „Let Forever Be” (Chemical Brothers, 1999) wechselt er zwischen Videomaterial (bei Innenaufnahmen) und 16mm-Film (bei Außenaufnahmen). An den kaleidoskopischen Personenvervielfältigungen, die das französische Enfant Terrible ohne die Hilfe eines Computers realisiert, hätte auch Strindberg seine Freude gehabt. Das schon jetzt legendäre Animationsvideo zu „Fell in Love With a Girl” (The White Stripes, 2002) bestreitet Gondry mit einer Mini-DV-Kamera und zahllosen Legosteinen. Die Dreharbeiten der nicht einmal zwei Minuten langen, atemlosen Rocknummer nahmen geschlagene zwei Monate in Anspruch.
En passant entwickelt Gondry auch höchst modernen Budenzauber wie Morphing- und Bullettime-Effekte. Was in „The Matrix” (USA 1999) ein Millionenpublikum in Erstaunen versetzte, hatte er bereits Jahre zuvor in „Je Dance le Mia” (I Am, 1993), „Like a Rolling Stone” (The Rolling Stones, 1995) und „World in a Bottle” („Smirnoff“, 1996) ausbaldowert und perfektioniert. Überhaupt scheint es keine (trick)technischen, ästhetischen oder erzählerischen Mittel zu geben, derer sich Michel Gondry in seinen Musikvideos nicht vorzüglich zu bedienen wüsste.
Das Gesellenstück: „Human Nature“
Dass ein derart findiger Künstler ins Metier abendfüllender Spielfilme wechseln musste, überrascht kaum. Umso mehr erstaunt es, dass sein Erstling „Human Nature“ zum veritablen Flop geriet. Die Ausgangslage versprach viel: Charlie Kaufman, der kurz zuvor mit „Being John Malkovich” (USA 1999) Hollywood aufgemischt hatte, steuerte das Drehbuch bei; für seinen Stab konnte Gondry auf Weggefährten wie Kameramann Tim Maurice-Jones oder Cutter Russel Icke zurückgreifen; und mit Tim Robbins und Patricia Arquette waren namhafte Darsteller an Bord. „Human Nature“ erzählt von einer ganzkörperbehaarten Naturschriftstellerin (Arquette), die sich in einen verklemmten Forscher (Robbins) verliebt. Dieser versucht aus dem von Wölfen aufgezogenen Puff (Rhys Ifans) einen echten Menschen zu machen, hauptsächlich konditioniert er ihm jedoch gute Tischmanieren an.
Um Affektkontrolle und Domestikation geht es hier ganz offensichtlich, und obwohl „Human Nature“ damit Gondrys Themen vom – seit Aufklärung und Romantik in der Kunst verhandelten – Widerstreit der Natur mit der Zivilisation und des Triebes mit der Vernunft aufgreift und er all die erheiternden Fluchten zeigt, mit denen sich die weidwunde Seele des modernen Menschen Linderung zu schaffen sucht, berührt der Film nicht so recht. Deutlicher noch als in anderen Kaufman-Adaptionen stehen sich die drei gleichrangigen Hauptfiguren mit ihren Schicksalen und Geschichten fortwährend im Weg. Handwerklich ist „Human Nature“ zwar ein echter Gondry – sei es in den verschrobenen Labor-Requisiten, den theatralisierten Natursets oder dem Changieren zwischen unterschiedlichen Filmmaterialien – und als spleenige Komödie mit den Mitteln der Björk-Videos funktioniert das Ganze prächtig. Allein: die Konzentration Gondrys früherer Arbeiten erreicht „Human Nature“ nicht.
Das Kino des 21. Jahrhunderts…
Von ganz anderem Schrot und Korn ist da „Eternal Sunshine”, ein abenteuerlich erzählt und konstruierter Liebesfilm und das Produkt einer Zeit, in der Identität und Erinnerung ein unsicheres Gut geworden sind. Drei Jahre dauerte es, bis Kaufman aus einer Idee Gondrys das Drehbuch verfertigt hatte, die Geschichte eines unglücklich Verliebten (Jim Carrey), der auszieht, seine Ex-Freundin (Kate Winslet) medizinisch aus seinem Gedächtnis tilgen zu lassen. Leider bemerkt Joels Unterbewusstsein während des Löschungsvorgangs recht bald, dass er die guten Zeiten mit Clementine gar nicht missen will und so entspinnt sich eine atemberaubende Jagd durch Joels Oberstübchen.
Die beiden großen Themen des Films bieten ein zweifaches Max-Frisch-Déjà-Vu: Zum Einen reflektiert die Reise durch Erinnerungen und Identität Korrekturzwänge des modernen Menschen wie in Frischs „Biographie: Ein Spiel“ von 1967; sie wägt das Wirken von Zufall und Schicksal ab und kommt an ihrem Ende, das für Joel und Clementine Katastrophe wie Rettung, Verdammnis wie Erlösung zugleich ist, zu dem Schluss, dass die Liebe „zugleich Ausdruck des freien Willens und des Schicksals“ (Georg Seeßlen/Fernand Jung) sein muss.
Zum anderen ist “Eternal Sunshine” eine Passage durch eine erodierende Paarbeziehung, deren Fluchtpunkte an den unwirtlichen Gestaden Montauks liegen – Frischs gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1975 lässt grüßen. Kaufmans und Gondrys Meisterschaft zeigt sich darin, im Ausbleichen der Erinnerungen Joels und Clementines Beziehungsgeschichte rückwärts zu erzählen, so dass Joel paradoxerweise an eben jenem Strand seine letzte Erinnerung an Clementine verabschieden muss, an dem die beiden sich einst kennen lernten. „Meet me in Montauk“, flüstert sie ihm noch zu und entgleitet in die Nacht des Vergessens hinaus. Diese Sequenz, die in sich den Schmerz des Verlassens mit der Hoffnung des Verliebens vermählt, gehört fraglos zum großartigsten und bewegendsten, was das Kino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.
Kaufmans erzählerische Winkelzüge bleiben in “Eternal Sunshine” keine selbstrefernziellen Fisimatenten, zumal der King of Quirk nun endlich zwischen Haupt- und Nebenfiguren unterscheiden lässt. Wiewohl selbst das Personal der dysfunktionalen Bastelbude, die die Gedächtnislöschungen vornimmt, genug Potenzial für einen eigenen Spielfilm bietet, hält Kaufman diese Nebenerzählungen von Patrick (Elijah Wood), der Joels Identität anzunehmen versucht, und von Mary (Kirsten Dunst), die sich (zum wiederholten Male wie sich herausstellt) in Dr. Mierzwiak (Tom Wilkinson) verliebt, doch so knapp wie nötig.
So ungewöhnlich eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund Gondrys vorheriger Arbeiten (sieht man vom garstigen „Knives Out” (Radiohead, 2001) einmal ab) erscheinen mag, subsumiert der Kampf der beiden Liebenden gegen das Vergessen doch alles, wodurch sich Gondry als linkischer réalisateur auszeichnet. Hitchcock hatte bei „Spellbound” (USA 1944) die Visualisierung des inner-space noch Salvador Dalí überantwortet, und von Kubrick soll der Satz stammen „Ich kenne in der Filmgeschichte keine einzige überzeugende Traumsequenz.“ Einem Treppenwitz kommt es da gleich, dass Gondry auf diesem Terrain Bahnbrechendes leistet, ohne dass dies den Möglichkeiten zeitgenössischer CGI geschuldet wäre. Gondry beharrt auf seinen Low-Tech-Effekten, arbeitet mit Rauch, Spiegeln, Kameratricksereien und allerlei mehr. Dabei kann er auf weidliche Erfahrung mit Technik und Metier zurückgreifen: Abenteuer im Unterbewusstsein erlebte schon Dave Grohl in „Everlong”, und durch surrealistische Szenerien stolperte bereits Beck Hansen in „Deadweight”, um nur die augenfälligsten Beispiele zu nennen.
Im Gegensatz zu „Human Nature“ und wie man es von einem musikvideoerprobten Regisseur kaum erwarten dürfte, arbeitet Gondry bei den Dreharbeiten kaum mit Storyboards, entwickelt die Auflösung von Szenen mitunter erst am Set und lässt seinen Darstellern Raum für Improvisation. Darsteller Mark Ruffalo meint dazu: „He just has a lot of joy and irreverence toward the rules of filmmaking.” Das zeigt sich auch darin, dass Gondry gelegentlich Anfang und Ende von Einstellungen nicht durch „Action!“ respektive „Cut!“ anbefahl, und dann filmte, ohne dass die Schauspieler es wussten. Gondry erklärt diese eigentümliche Methode in radebrechtem Englisch so: „I wanted to use the film more as a tape recorder than a film camera.“
Die Faszination von Gondrys Bildern liegt ganz in ihrer Bewegung, im Verblassen der Details, im steten Umarrangieren, Spiegeln und Vexieren des Raumes. Das Erstaunliche an “Eternal Sunshine” sind dann auch weniger Joel und Clementine in einer Bibliothek voller weißer Buchrücken, sondern ihre assoziationsgeleitete Flucht durch eine Welt in Auflösung, in der den Liebenden die Erinnerung wie Sand durch die Finger rinnt und an deren Ende Joel noch einmal ein letztes Erinnerungsgestöber an Clementine aus einem Autofenster an sich vorbeirasen sehen wird. Dem Faszinosum vermittels Standbildanalyse auf die Schliche zu kommen, ist darum zum Scheitern verurteilt, womit Gondry quasi den Gegenpol zum Kino eines Wes Anderson bildet, das ganz vom ausgefeilten Arrangement seiner Einzelbilder lebt.
Am Ende wird “Eternal Sunshine” mit einem neuen Anfang für zwei Menschenkinder aufwarten, die sich wieder finden und füreinander entscheiden obwohl, oder gerade weil, sie sich schon einmal verloren haben; mit einem Anfang, der in seiner Ambiguität zeigt, wie viel Weisheit doch manchmal selbst in Kindsköpfen wie Kaufman und Gondry stecken kann, und man wird nicht umhin kommen, anzuerkennen, dass Gondry mit “Eternal Sunshine” den besten amerikanischen Film der Saison 2004 abgeliefert hat – und wenn man es genau betrachtet sogar den besten europäischen gleich dazu. Folgerichtig gehört Gondry zu den großen Kino-Hoffnungen des beginnenden Jahrhunderts, und sein nächster Film ist schon in Arbeit. Er trägt – welch Überraschung! – den Titel „The Science of Sleep”.
…wurde vor 30 Jahren in einem Pariser Kinderzimmer erfunden.
Die Faszination Gondrys kleiner und großer Geschichten steckt in der Dynamik, mit der Träume und Gespinste kaleidoskopisch auffächern und verschwimmen; sie steckt in der – nunja: – traumwandlerischen Sicherheit, mit der sich Gondry unterschiedlichster und abseitigster Artistiken und Erzählformen zu bedienen weiß, um sein Publikum immer wieder in Staunen zu versetzen, es an den Punkt zurückzuführen, als ein Kinderzimmer noch das ganze Universum bereithielt – all seine Schrecken, seine Wunder und all seine Verheißungen.