"Tod den Lebenden" - ARD-Serie von Tom Lass
Tod den Lebenden
ARD 2023. Regie: Tom Lass.
Mit Odine Johne, Julius Feldmeier, Kristin Suckow, Lea van Acken, Jan Henrik Stahlberg, Jörg Schüttauf, Ursuala Werner u.v.a.m.
6 Folgen à ca. 30 Minuten.
Hier im Stream: https://www.ardmediathek.de/serie/tod-den-lebenden/staffel-1/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3RvZC1kZW4tbGViZW5kZW4/1 (bis 15.10.2025)
Im Hotelzimmer ein paar verlorene Gestalten, eine weitere
steht vor der Tür, die Sporttasche voller großkotziger halbautomatischer
Gewehren, damit nimmt alles seinen Lauf: Das Ende ist der Beginn, oder besser:
mit dem Anfang vom Finale beginnt Lass seine Serie, die aber alsbald ins ganz
normale WG-Leben von Heidi, Becky und Juklas führt, in der alles ganz
einvernehmlich und demokratisch geteilt wird; Liebe, Körper, nur nicht das
Denken. Denn das ist Heidi vorbehalten, weil jeder freiwillig ihrer Meinung zu sein
hat. Einfache Regeln, eigentlich, die ein gedeihliches Miteinander garantieren
in der polyamourösen Führerinnengemeinschaft. Denn, und das ist eine der
schönen Volten des Films, es gibt keine Revolte unter den dreien. Einfach, weil
es für Becky und Juklas bequem ist, sich einzufinden.
Odine Johne spielt diese Heidi, die Anführerin, die sich nicht als Anführerin gibt, weil ja alles sehr achtsam vor sich gehen muss; Becky wird von Kristin Suckow gespielt, die ein bisschen den Eindruck macht, als wüsste sie, was eigentlich vorgeht in diesem Beziehungsgeflecht, aber das ist nur eine leise Ahnung im Zuschauer… – grade andersrum bei Julius Feldmeier als Juklas, der wahnsinnig doof rüberkommt, aber es vielleicht gerade deshalb doch nicht ist.
Dann kommt Akki (Lea van Acken) dazu, und sie durchschaut
das Ganze – ist aber zugleich ganz kindlich, kleine Hundewelpen sind ihr ganzes
Glück. Sie wird aufgenommen in die WG, in der sich alle liebhaben, denn Heidi
hat Probleme, die nur eine Anführerin hat. Sie sollen rausfliegen aus der
Wohnung! Und Akki hat Verbindungen – sie ist die Tochter des Vermieters, den
Jan Hendrik Stahlberg auf ganz unnachahmliche Weise spielt. Einerseits als
Profit-Kapitalist, andererseits als Vater; er weiß, dass er strikt streng sein
muss, und er ahnt, dass er seine Tochter damit verliert – er ist eine ganz
traurige Gestalt, und weil Stahlberg Stahlberg ist, ist das sehr lustig.
Stahlberg verkörpert so etwas wie eine Traditionslinie. Denn
die Improvisationsmethode im modernen deutschen Film ist unmittelbar mit ihm
verbunden, mit dem ersten „Muxmäuschenstill“ von 2004, aber vor allem schon
vorher mit Franz Müllers „Kein Science Fiction“ von 2003, in dem er sich
zusammen mit Arved Birnbaum durchs Paralleluniversum improvisiert: Sobald eine
Tür hinter den beiden zuschlägt, sind sie für die Leute im anderen Raum
vergessen… Improvisiert, das heißt: zusammen mit den Darstellern erfunden; und
das ist ja das, was zehn Jahre später mit German Mumblecore so etwas wie eine
neue Bewegung wurde, die richtig Schwung ins deutsche Kino brachte. Tom Lass
war zusammen mit Bruder Jakob die eine Seite der Hauptprotagonisten dieser
neuen Welle – Axel Ranisch auf der anderen Seite; und seither hat es viele
weitere, natürlich auch weibliche, German Mumblecorers gegeben! Und das, was
sich daraus entwickelte – nämlich eine neue Frische, eine Unmittelbarkeit, ein
Bewusstsein, dass man einfach mal machen kann. Das Schöne ist, dass auch die
ARD via Degeto bei sowas mitmacht; und dass Tom Lass sich mit seiner Methode
hier austoben kann.
Lass ist Improvisationsleiter; seine Protagonist*innen sind als „Writer’s Room“ in den Credits gelistet. Man kann davon ausgehen, dass sie ihre Charaktere selbst gestaltet haben, und dass Lass vor allem die Aufgabe blieb, den Überblick zu behalten. Und zwar nicht nur darüber, dass kein Holterdipolter entsteht, sondern auch, dass die Serie ihre Stimmung(en) erhält. Denn das macht „Tod den Lebenden“ aus: dass bei diesen sechs knapp halbstündigen Episoden die Atmosphäre immer wieder umschlägt – nein, falsches Wort: „umschlagen“ würde ja Plötzlichkeit einer Wende suggerieren. Die Serie spielt mäandernd mit dem Publikum, Lass lädt es zunächst ein als Zaungast in dieser WG, in der alles geht, solange es nach Heidi geht, lässt dann geradezu soapoperaartige Storyschlangenlinien einfließen, um nachgerade ins Ultrabrutale zu münden…
Es ist ein Spiel mit der Atmosphäre, das nicht nur Lass und
sein Film mit dem Zuschauer spielt, sondern das die Charaktere untereinander
spielen, teils, ohne es zu wissen. Da kommt Micha mit rein, der neue Freund von
Becky, der dann auch bei dieser Wir-teilen-alles-WG mitmachen darf, und für den
Heidi dann doch eine Überraschung bereithält. Weil natürlich nichts geschehen
darf, das nicht auf ihre Initiative hin geschieht. Oder: Heidi will natürlich
Mutter werden! Aber nicht schwanger sein. Könnte nicht Becky… mit einer Eizelle
von Heidi? Die Juklas befruchtet hat? Heidi findet ihren Plan super, und so
gibt es eine weitere Keimzelle dafür, dass ihr Projekt Risse bekommt. Zumal
irgendwann auch der Kampf gegen den Klimawandel ins Spiel kommt – wie so vieles
hier aufgrund einer persönlichen Heidi-Befindlichkeit. Sie ist nämlich schon
von Anfang an immer wieder unerklärlich zusammengebrochen; jetzt ist klar: die
Lunge. Der Klimawandel. Und keiner tut was dagegen, dass Heidi todkrank ist!
Das Private wird politisch: Lass lässt den alten Slogan geschickt auflaufen, nämlich in sein komplexes System von Macht und Abhängigkeiten, von Manipulation und Ausnutzung, von achtsamer Sprache und oberflächlicher Behutsamkeit und von komplizierten Emotionen, die sich in verschiedene Richtungen immer wieder neu justieren. Jetzt geht es ums Ganze, um die Rettung der Welt, die direkt verknüpft ist mit der Rettung von Heidi (in einem kleinen Denk-Kurzschluss), und damit mit der Rettung dieser Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die sich erweitert, weil der Kampf um eine bessere Welt anziehend wirkt.
Jetzt haben wir also diese Situation: Heidi – Becky und Juklas – Akki – und weitere Aktivist*innen, die es geil finden, mal mit Schusswaffen zu hantieren für eine bessere Welt; der Vermieter, dessen Verbindung zu Akki immer mehr schwindet; Akki, die Oberwasser bekommt, als sie die Macht hat über den Verbleib in der Wohnung; der Polizeipräsident (Jörg Schüttauf in toller Gastrolle), der von der Heidi-Clique in seinem Büro belagert wird, weil er ja wohl den Klimawandel aufhalten kann!
Die Ideen sind in dieser ganzen Serie mitunter ausgesprochen
doof, aber nicht aus Doofheit, sondern deshalb, weil in der ganzen Mannschaft
jede*r für sich auf andere Weise irgendwie lebensuntüchtig ist. Weil Heidi
& Co. das große Ganze herunterbrechen auf ihren Horizont, der ziemlich
schmal ist – einfach deshalb, weil sie immer zusammen sind, und weil Heidi sich
durchzusetzen weiß, und weil die anderen kaum aufmucken, und wenn doch, dann
radikal komplementär, was nichts besser macht. Eine ganz eigentümliche Komik
hat „Tod der Lebenden“, eine Komik, die direkt mit den Figuren zu tun hat, mit
den Verhältnissen, in denen sie leben, mit dem Kontrast aus fürsorglichem
Umgang und autoritärer Führung, aber auch mit der selbstgewählten Unterordnung,
mit den kindlichen Spielereien, die sich im Zusammenleben ergeben, überhaupt
mit dem Spielerischen, das von den Figuren so ernst genommen wird, aus dem sich
der ganze Umgang miteinander und mit anderen ergibt: Man geht über Leichen,
weil das Konzept von „Leiche“ gar nicht vorhanden ist im System Heidi; oder im
System Akki; oder in den ganzen Subsystemen, die hier umeinander kreisen.
Weshalb das Finale des Films dann auch ein gewaltvolles ist, blutig und grausam und ganz und gar spielerisch.
Lass lässt auf diese Weise ganz subtil diese, ich sach mal, einfach gestrickten Menschen aufeinanderzulaufen, mit dieser ganz besonderen Komik, die sich nicht lustig macht über die Protagonist*innen; die nicht daraus entsteht, dass willentlich, von außen, alles ins Absurde, zumindest Ironische (des Schicksals) gezogen wird. Sondern die daraus entsteht, dass alle, so wie sie es vermögen, das Beste wollen, und dass dieses Beste für andere das Schlechteste bedeuten kann. Und dass dabei niemand in der erzählten Welt den Überblick behält, und dass Lass ganz souverän sich zurücknimmt (da sei der Impro-Charakter vor!), um sich nicht selbst als Übervater in dieses ganze Serienkonstrukts hineinzuschreiben. Spielerisch wurde es entwickelt, spielerisch haben die Protagonistinnen und Protagonisten ihre Charaktere erschaffen, und diese Charaktere sind es, aus denen der Witz entsteht. Ein Witz ohne Pointen, ein Charakter-Situationen-Witz, der auch ganz tragisch sein kann.
Es geht um das Spiel, und das Spiel entpuppt sich mehr und
mehr als ein Spiel von kindlichen Gemütern, die mit dem Ernst des Lebens
konfrontiert werden, mit diesem aber wenig anzufangen wissen. Außer irgendwann
selbst ernst zu machen, aber auch das nur als Spiel. Dass dabei über diese
Komik, die irgendwo zwischen den Charakteren, zwischen den Szenen entsteht,
auch echte Emotionen ins Spiel kommen, die die ganzen Figuren füreinander
und/oder für sich selbst vielleicht gar nicht fühlen können, die aber doch den
Zuschauer packen, weil man all diese kleinen Egos, die versuchen, irgendwie
miteinander irgendeine Utopie zu leben, lieb gewinnt: Das ist die Kunst dieser
großen, kleinen Serie.
Irgendwann, die Krise ist schon ganz doll am Überkochen, stehen Heidi, Becky und Juklas auf einem Feld, die Sonne geht unter, es könnte romantisch sein. Und Heidi will, dass alles so bleibt, und welch eine Enttäuschung, dass die Sonne doch untergeht und keiner sie aufhält, obwohl Heidi sich das so sehr wünscht! Und irgendwann, die Krise ist noch immer am Überkochen, suchen sie sich ein Plätzchen am See – dort, nein dort, oder ein anderer See? Und da sitzen sie, und die Stimmung ist schlecht, und Heidi muss einsehen, dass sie vielleicht doch zu viel bestimmt hat. Nachdem Juklas sie sanft gedrängt hat, doch mal nachzudenken. Und irgendwann, die Krise ist schon final tödlich, findet Akki ihren Babyhund, und er ist tot.
Harald Mühlbeyer
Zum Thema "German Mumblecore" ein kleiner Verweis auf den Band "Ansichtssache - Zum aktuellen deutschen Film", herausgegeben von Bernd Zywietz und mir - Zywietz beschreibt und analysiert schon damals, 2012, das German Mumblecore-Phänomen, und hat damit ein Zeichen gesetzt!
https://www.schueren-verlag.de/programm/titel/ansichtssache-zum-aktuellen-deutschen-film.html