14. Mannheimer Filmseminar: Martin Scorsese
Psychoanalyse und Filmtheorie im Dialog, 22. bis 24 Januar
2016
Selbstverständlich ist ein Wochenende – sprich: Samstag und
halber Sonntag – viel zu wenig, um Martin Scorseses Œuvre gerecht zu werden.
Aber andererseits kommt man dem Filmemacher allein schon näher, wenn man einige
seiner Filme sieht: Ein Doublefeature mit "Taxi Driver" und
"Mean Streets" / "Hexenkessel", dem anderntags der
hollywoodmainstreamaffine "Color of Money" / "Die Farbe des
Geldes" und die Mafiasaga "Goodfellas" folgen: Da ist schon ein
Claim abgesteckt.
Zumal natürlich Referate und Diskussionen das Feld
erweitern. Sehr genau hinsehen. Und weit darüber hinaus blicken. Georg Seeßlen geht
in seinem Eröffnungsvortrag auf den auteur-Status
Scorseses ein. Was ist ein guter Filmemacher? Entweder schlicht jemand, der
gute Filme im Kopf hat; oder einer, der für den guten Film in seinem Kopf den
Kampf mit der Kinomaschine, mit Hollywood, mit dem Kommerzsystem, mit
produktionsimmanenten Hindernissen aufnimmt. Zu welcher Kategorie Scorsese
gehört – dreimal dürfense raten.
Im Scorsese-Publikum – insbesondere im Stammpublikum
kritischer Fans – bilden sich dann die Vorstellungen heraus, wie ein
Scorsese-Film aussieht. Zwischen "Mean Streets" und "Raging
Bull" fand diese Reviermarkierung statt – die Scorsese freilich gerne
überwand. Wie geht das Publikum, das einen Scorsese-Film erwartet, um mit so
etwas wie "Age of Innocence"? Er fordert nicht nur das
Hollywoodsystem heraus; auch seine Zuschauer.
Die grundsätzliche Motivik ist schnell festgezurrt: Der
katholische Hintergrund; die Frage nach Motivatioon und Ausgestaltung von
Gewalt; die Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeit; die Sünde, in der
der Mensch lebt, und sein Umgang mit ihr; die Musik als Ausdruck von
Lebensgefühl; die Sehnsucht, die stets unerfüllt bleibt; die Mythen, die sein
Kino hinterfragt und bricht.
Helmut Däuker, Psychoanalytiker aus Mannheim, bricht das
herunter auf "Taxi Driver", ganz detailliert: Der Männlichkeitsmythos,
der Einsamkeitsmythos, Waffen-, Beschützer- und Befreiungsmythos, der Rächer,
der Grenzgänger, die Freiheit: An all diesen Mythen arbeitet Travis Bickle sich
ab, und er scheitert. Um dann in einem, so Seeßlen, fast nihilistischen Ende
doch Gewinner zu sein.
Ein Ende, das, wie sich zeigte, größten Diskussions- wie
Interpretationsbedarf. Wird hier ein Todestraum gezeigt? Kann der amerikanische
Mann nur sterbend leben? Überhaupt: Ist Bickle das Verdrängte des Zuschauers?
Schließlich sind wir hier unter Psychoanalytikern. Und da
ist es eine besondere Gelegenheit, einen Film aus zwei Sichtweisen anzublicken:
einmal film-, einmal psychoanalytisch. Ein Duell der Referate, ganz wörtlich:
Denn der Mannheimer Medienprofessor Jochen Hörisch liebt "The Color of
Money"; Psychotherapeut Gerhard Bliersbach tat sich gelinde gesagt schwer.
Hörisch – der Medienanalytiker – arbeitet die
psychologischen Interpretationsansätze ab: das Ödipale – Paul Newman als Tom
Cruises Ersatzvater in Buhlschaft um eine Frau; das Phallische – die stoßenden
Stäbe, die Kugeln einlochen –; das Narzisstische, die Psychosucht nach Geld,
Erfolg, nach dem Kick. Um daraus eine kleine Theorie des Geldes zu kreieren,
das einerseits ganz immateriell und gar nicht sinnlich, andererseits aber
ebenso erotisch wie religiös aufgeladen sei ("die Gläubiger müssen
befriedigt werden", so ein schlagendes Zitat aus den
Wirtschaftsnachrichten). Und irgendwie fühlen wir den Spaß mit, den Hörisch an
diesem Film hat, auch wenn wir selbst irgendwo mittendrin das Gefühl für
"Color of Money" verloren haben.
Bis Gerhard Bliersbach auftritt. Der nimmt sich denselben
Film vor. Doch im Gegensatz zu Hörisch zerpflückt Bliersbach den Film nicht, um
ihn dann wieder zusammenzusetzen, arbeitet sich nicht am Material selbst ab –
sondern er seziert sich selbst, sein eigenes Unbehagen, erkundet sich selbst
anhand des Films. Und sieht einerseits all das Vermittelte im Film, die
mittelbaren Impulse: Vom Billardspiel selbst, wo eine Kugel nicht direkt,
sondern nur über die weiße Kugel angestoßen werden darf, über all die Bluffs
und Doppelbluffs, die Newman und Cruise um ihre Billardspiele herum
inszenieren, bis zu dem zwischenmenschlichen Begehren, das immer wieder nur
über Bande angespielt werden kann. Und er sieht andererseits im Film lauter
unreife Adoleszente am Werk, nicht nur Cruise, der Bruder Leichtfuß, auch
Newman, der gealterte Billardmeister, der eine neue Jugend beim neuen Spiel
sucht. Das – so führt Bliersbach aus – gehe ihm lebensgeschichtlich nahe,
vielleicht zu nahe, um es genießen zu können. Und anhand der langjährigen
Doppelkopf-Runden, die er mit alten Schulfreunden regelmäßig abhalte, kommt er
hin zu dem, was am Film stört: Das Unausgesprochene hinter den Kulissen, wie
bei seinen Kartenspielen, die oft eher genervter Pflichterfüllung glichen: So
habe wohl auch Scorsese hier recht unehrlich gefilmt, quasi anhand der
Betrügereien im Film wiederum Betrug am Publikum vollzogen, mit all dem
Hollywoodglanz der Stars und den manieristischen Kameratänzen von Michael
Ballhaus, mit der glatten Ästhetik und der irgendwie irgendwo undurchdachten
Handlungserzählung…
So muss es sein, hier spürt man den Wert dieses
Filmseminars: Ein paar Stunden intensive Beschäftigung mit Martin Scorsese, und
dabei gänzlich unterschiedliche Aspekte, gegenteilige Ansichten, die den
Horizont erweitern. Und die auch durchaus unterhaltsam wie auch hinterrücks
erkenntnisreich sind: Wenn in der anschließenden Diskussion Hörisch Bliersbach
ob dessen Ansichten herausfordert: "Jetzt müssten eigentlich die Fäuste fliegen",
oder wenn Hörisch ein rhetorisches Foul begeht: Auf ein ihm missfallendes
Argument aus dem Publikum bezüglich der authentischen und der geblufften
Reaktionen im Film verwies er auf die generelle Inszeniertheit nicht nur des Films, sondern unserer
zwischenmenschlichen Reaktionen im Leben selbst – als könnte man dies, weil
stets vorhanden, nicht einfach herauskürzen. Da hat einer seinen Schopenhauer
eifrig gelesen in der Kunst, recht zu behalten – und im übrigen auch seinen
Gernhardt, seinen Freud, seinen Kafka, die Hörisch alle fleißig zitierte, um
mit Witz und Ironie seinen Standpunkt zu vertreten.
Und ist dies nicht die intellektuelle Variante des
scorsesesken Mannes, im Wissenschafts- nicht im Straßenmilieu? Stets zum
Angriff bereit, um nach erfolgtem Kampf mit dem Gegner einen zu trinken, bevor
sie wieder aufeinander losgehen; mit großer Sehnsucht nach Nähe zum Gegenüber,
aber unter der (selbstredend vergeblich bleibenden) Voraussetzung, dass der
andere sich einem ergibt; in der Begegnung mit dem anderen stets in einer
Performance gefangen: Keitel in "Mean Streets", de Niro als
"Taxi Driver", Paul Newman in "Color of Money", Liotta, De
Niro, Pesci et. al. in "Goodfellas", und Hörisch in Mannheim… Mit dem
tiefen Bedürfnis, sich in den Mittelpunkt zu stellen durch volles Erfüllen all
der Riten – ob bezüglich der Männlichkeit oder der Filmdiskussion. Und das
Ganze inszeniert in weitgespannter Erzähllust.
Harald Mühlbeyer