TIPP: ES WERDE STADT - Domink Grafs u. Martin Farkas Sicht auf 50 Jahre Grimme-Preis und das deutsche Fernsehen

Domink Graf und Martin Farkas haben dem Grimme-Preis zum 50. Geburtstag und uns einen wunderbaren, einen komplexen wie eleganten, einen nostalgischen wie kritischen, kurzum: einem unbedingt sehenswerten, wenn auch tendenziösen und bisweilen verklärenden essayistischen Dokumentarfilm geschenkt. ES WERDE STADT spiegelt Entwicklung, Bedeutung und (Not-)Stand des hiesigen öffentlich-rechtlichen TV (punktuell gar mit dem Hauch eines enthüllerischen Polit-, gar Verschwörungsthrillers was die Fehlinvestitionen und -entscheidungen betrifft) in die Geschichte der Experimentier-Stadt Marl (aus der der Grimme-Preis stammt), der Ruhrpottregion wie des Grimme-Preises und seiner Relevanz und Symbolkraft selbst.

Ein Film, der Stefan Niggemeier nicht nur im besten Sinne wütend sein lässt, sondern ihn auch zu einem schönen, treffenden Kommentar veranlasst hat.

Dass allerdings Graf und Farkas, wie zuvor schon zusammen mit LAWINEN DER ERINNERUNGEN ein solches Glanzstück im und für dasselbe Fernsehen geschaffen haben, dass sie kritisieren, hat natürlich auch etwas Ironisches. Fast schon zum Glück (für ihre Argumentation) wird bzw. wurde die viermalige Ausstrahlung von ES WERDE STADT - was auch Niggemeier anmerkt - im Nachtprogramm versteckt.

Und die "Vermischung von Avantgarde und Popularität", die sich Graf (selbst in den 2000ern vielfach mit dem Grimme-Preis prämiert) und Farkas wünschen, ist im Grunde auch eine etwas utopisch-vage, in sich widersprüchliche Idee, zugleich aber eine hehre und antriebswürdige.

Schließlich: Aus eigener Fernseherfahrung als Jugendlicher, der noch in der hier gedachten Glanzzeit aufwuchs, muss man fairerweise auch anmerken, dass das deutsche Fernsehen eben nicht nur DAS BOOT oder KIR ROYALE bot (letzteres wusste ich damals noch nicht zu schätzen). Was freuten wir uns auf die Privaten, die uns eine Reihe aufregenden US-Filme und -Serien brachten, solche, die ARD und ZDF nur in Kleinstdosen gewährten. Muff und (Bildungs-)Mief, der beige Rollkragenpulli des Mathelehrers im Telekolleg etc. Aber: Wir hatten ja nichts anderes, und so muss auch in Rechnung gestellt werden, wie sich dank vervielfachten Angebot und Digitalisierung die Nutzungsstile und Gewohnheiten, mithin der Status des Fernsehen als Begegnungs-, Kultur- und Themensetzunginstitution radikal verändert hat.

Heute allerdings ist man schlauer - wie oft hinterher -, und generell dem einfachen, doch wieder etwas versöhnlicheren, weil perspektivischem Fazit der Filmemacher aus voller Seele zuzustimmen: Wir waren schon mal weiter. In Sachen Mut der Redaktionen, der Anforderung (folglich: Förderung) des Zuschauers, den Sendungen, die damals noch nicht "Content" waren oder Würmer, die dem (Zuschauer-)Fisch schmecken müssen und nicht dem programmverantwortlichen "Angler". Na ja, zumindest alles in der Rückschau.

Mal sehen, ob's wieder nicht wie früher, aber etwas wird, mit den Ö.-R., wenn jetzt die Politik dank Bundesverfassungsgerichtsentscheid sich erheblich aus den Gremien zurückziehen müssen... Man muss es nicht glauben, aber hoffen darf man es und will es auch, nach solch einer besinnenden Doku. 

ES WERDE STADT - 50 JAHRE GRIMME-PREIS IN MARL, ein Glanzstück in der Formalistik und Facettenreichhaltigkeit der Selbstreflexion des Mediums, wenn auch durch einen eigenköpfigen Macher und Grenzgänger wie Graf, ist noch HIER in der WDR-Mediathek zu sehen.

Und einige ebenfalls uninteressante Einsprüche und Kritikpunkte dagegen finden sich v.a. im zweiten Seitenteil von Harald Kellers taz-Rezension.

zyw