SHERLOCK 3.0

Achtung: moderate Spoiler!

SHERLOCK mag vielleicht nicht DIE beste Serie in der aktuellen Schwergewichtsarena des anglo-amerikanischen „Quality-TV“ sein, sicher aber eine der souveränsten. Zumindest, was die Selbstreflexivität anbelangt. Und es ist zu bemerken, dass es sich bei der von Mark Gatiss und Steven Moffat kreierten Serie eigentlich um eine Fernsehfilmreihe handelt. "Quality-TV", eher ein Genre-Begriff als eine Wertung, zeigt sich mithin ländertypisch in seinen Sendungsformaten (wie Deutschland setzt das britische Fernsehen, v.a. die BBC stärker als die USA auf Mini-Serien, Mehrteiler und Einzelfilme, auch wenn es hier wie da Gegenbeispiele gibt). 


Während sich Martin Freeman alias Watson und Benedict Cumberbatch aktuell noch im Blockbusterkino als Bildbo und Schmaug gegenüberstehen (Cumberbatch liefert im Original seine Stimme für den Drachen im zweiten HOBBIT-Teil), ist am Neujahrstag in der BBC der erste Part der dritten Staffel von SHERLOCK über die Leinwände geflimmert. Mit phänomenalen Einschaltquoten. Die zweijährige Wartezeit der Kultreihe, die Arthur Conan Doyles Meisterdetektiven grandios – und mit viel Selbstironie - in die Neuzeit verlegt hat sich gelohnt, insbesondere wegen des Endes der letzten Season.

Sherlock, man erinnere sich, stürzt sich, von Erzfeind Moriarty (im wahrsten Sinne ausgezeichnet: Andrew Scott) bedrängt und um seine Freund zu schützen vom Dach des St. Bartholomew Hospitals in den Tod, schlägt auf dem Bordstein auf, alles vor den Augen des entsetzten Watson. Doch, natürlich, Holmes lebt. Nur wie? 

Die lange Pause zwischen Staffel 2 und 3 vertrieb sich die glühende Fangemeinschaft mit Spekulationen, wie Sherlock wohl seinen „Reichenbach“-Fall überlebt hat. Wildes Spekulationen machten die Runde, und kurzzeitiges Aufsehen erregte Jonathan Creek-Darsteller Alan Davies, der eine Falltür im Boden als Idee anführte – entsprechend einem Plot-Einfalls aus seiner Serie. Doch von SHERLOCK-Produzentenseite her wurde der Einfall freundlich ins Abseits verwiesen. 

Gatiss, nicht nur Autor der ersten Folge der dritten Staffel, sondern auch Darsteller von Sherlocks Bruder Mycroft, wartetet nicht etwa mit einer besseren Auflösung auf, sondern mehr noch: mit praktisch gar keiner definitiven. Die ersten Minuten von THE EMPTY HEARSE liefern sofort eine Erklärung, eine freilich, die so haarsträubend in ihrer Mission-Impossible-Manier ist, dass man am liebsten abschalten möchte. Aber natürlich sind die SHERLOCK-Macher auf der Höhe der Zeit ... und so entpuppen sich die Version von Sherlocks vorgetäuschten Tod hanebüchene Spekulation innerhalb der Diegese, die, wie so oft bei derlei Spekulationen, am meisten eben etwas über den Spekulierenden aussagen.

Sogar homoerotische (Meta-)Varianten bekommen wir im Verlauf der Folge dargeboten (heißt: filmisch präsentiert): eine „Zusammenarbeit“ von Holmes und Moriarty inklusive Shlash-Fanfiktion-Liebeserkenntnis. Was sich freilich ebenso als Hirngespinste oder Erzählung innerhalb der Erzählung entpuppt, mithin: als unzuverlässig. So unzuverlässig, wie letztlich auch Sherlocks eigener Bericht. 


Hierin liegt freilich der Reiz von SHERLOCK – THE EMPTY HEARSE: Der Einbezug des Denkens über Sherlock in und als Fiktion selbst. Und gar die letzte, die plausibelste Version, bezieht das Medium Film/Fernsehen mit seiner Zweidimensionalität ein: Sherlocks Aufschlag auf dem Zement wurde schließlich von einem Gebäude verdeckt. Ein Gebäude, freilich, das als solches nicht auf der 2-D-Fläche des TV-Schirms wahrnehmbar wäre.

Letztlich sind aber all die Spekulationen ohnehin müßig, denn was die Theoretiker weithin übersehen ist, dass ja handlungslogisch Sherlocks Sturz nicht Watson galt, sondern Moriartys Scherken in die Irre zu führen, die ja von Gott weiß wo aus hätten zuschauen können... 

Aber SHERLOCK hantierte schon in der letzten Staffel mit Unwahrscheinlichkeiten und Plot-Löchern, die man angesichts der Screwball-Geschwindigkeit der Handlung und der geschliffenen Gewitztheit der Dialoge gerne und leicht übersah. Auch zum Auftakt von Season 3 sollte man nicht alles allzu viel auf den Plausibilitätsprüfstand stellen. Und am überzeugendsten sind ohnehin die Soap-Effekte. Holmes Wiederkehr und sein Arrangieren mit Watson, der immer noch um ihn trauert und anschließend gehörige Wut auf den Meisterdetektiv und Sozial-Autisten. Dabei gehen die Macher auch hier clever vor. Watsons Schnurrbart wird – wenn auch etwas zu Tode geritten – als Referenz an all die anderen Holmes/Watson-Verkörperungen thematisiert. Derweil in einem charmanten wie psychologischen interessanten Zug Watsons Verlobte Mary (Amanda Abington) gerade in dem Gegensatz und in Abgrenzung zur weiteren erfolgreichen S.H.-Neuauflage, den zwei Filmen mit Robert Downey jr. und Jude Law, Sherlock als Person durchaus mag. Man darf also gespannt sein, wie es in der Ersatzfamilientragikomödie weitergeht ...

Hier wie bezüglich der anderen Punkte SHERLOCK nicht nur auf das, was über die Figur auf Meta-Ebene diskursiv verhandelt wurde und wird, sondern eignet sich auch Kinoszenarien bis auf hin zu den Bildern an: Der – freilich dürftig daher erfundene Terrorplot – bedient sich lässig bei V FOR VENDETTA, und wenn Holmes bei seiner Rückkehr dramaturgisch unmotiviert und symbolstark den Blick über die Dächer von London streifen lässt, steht er an exakt derselben Stelle und tut dies genau wie Daniel Craigs James Bond in dem halbgaren SKYFALL, der 007 auch zwischen Reminiszenz und Neuausrichtung neu und zugleich alt-traditionell im direktesten Sinne verortete. So fragt man sich gar, ob nicht ein Cross-Over zwischen den James-Bond-Filmen und dieser SHERLOCK-Serie als den Exportschlager-Helden des Empires geboten wäre.

SHERLOCK, unter der Regie von Jeremy Lovering (IN FEAR), inszeniert denn auch nicht nur Sherlocks Ermittlungsgedanken visuell in erstaunlichem Retro-Look jenseits hipper visueller Griffe (sondern u.a. mit altmodischer Direktprojektionen auf den Darsteller): THE EMPTY HEARSE selbst inkorporiert die kooperative Tüftel-Welt des Web 2.0 und des „forensic fandoms“ gleich selbst, insofern hier die Interpretations-Fangemeinschaft selbst vorkommt wird, wie sie in und mit ihren „Verschwörungstheorien“ Realität in der Beschäftigung mit modernstem Fernsehen, mithin -serien, ist. 

SHERLOCK erweist sich in der ersten Folg der dritten Staffel denn auch zum einen in seinem Austarieren zwischen Krimi und Soap (letzteres mit größerer Überzeugungs- und Unterhaltungskraft), sowie in seinem Einbezug auf bzw. Positionierung im web- und popkulturellen Drumherum (um den eigenen „Markenkern“) als ein phänomenales Produkt eines Web 3.0, das nicht zuletzt in seiner amüsanten Lässigkeit gegenüber den postklassischen „Quality-Serien“ aus den USA einen enormen Vorsprung hat, ohne sich in transmedialen Erzähl-Mätzchen zu verlieren.

Cumberbatch ließ verlauten, nach dieser dritten Staffel sei für ihn Schluss. Eine Schande wäre es. Vielleicht kann ihn die Queen persönlich umstimmen? Sein SHERLOCK jedenfalls ist mehr als nur auf der Höhe der Zeit.  

zyw