MOP 2014: BLUTGLETSCHER (Ö 2013)


Der Berg flucht

Zugegeben, der Titel dieses Beitrags ist ein arger Kalauer. Aber eine der Taglines zu Marvin Krens BLUTGLETSCHER (neben dem ebenfalls so ungelenken wie – weil; gleichwohl – gelungenen „Die Gletscher schmelzen – die Mutanten kommen“) lautet ja auch: „Am Berg hört dich niemand schreien“. Das ist haarsträubend, jedoch natürlich ebenfalls Reminiszenz an Ridley Scotts Sci-Fi-Horror-Meilenstein ALIEN von 1979, dereinst beworben mit „Im Weltraum hört dich niemand schreien“.

Und darum geht es Kren, der mit BLUTGLETSCHER nicht nur dem „Unheimlichen Wesen aus einer fremden Welt“ Tribut zollt, sondern auch anderen Creature-Feature-, Öko-Tierhorror- und sonstige Monster-Klassikern vor allem der 1970er und -80er wie John Carpenters THE THING, John Frankenheimers PROPHECY oder, wie Kren in Saarbrücken verriet, Ron Underwoods dann etwas späterer, aber nicht minder gelungener B-Film-Spaß TREMORS (deutscher Titel-Zusatz: IM LAND DER RAKETENWÜRMER). Wobei diese Filme selbst wiederum als Neuauflagen u.a. des Atomic-Horror- und Sci-Fi-Subgenres der 1950er (etwa: Gordon Douglas‘ THEM! von 1954) zu betrachten sind, und Carpenters THE THING ist ja auch Remake des DINGS AUS EINER ANDEREN WELT von 1951 (Regie: Christian Nyby u. Howard Hawks). Eines, dass wiederum 2011 nicht ganz überzeugend von Matthijs van Heijningen Jr. neu verfilmt wurde.

Kren also stellt sich mit seinem Film in eine große Traditionlinie, ist dabei auch eingedenk der Remake-Welle von 70er- und 80er-Genreerfolgen in Hollywood aktuell. Allerdings besteht er, so wie so besehen, ganz Fabelhaft vor den Vorbildern und den Wiederauflagen, einfach weil er etwas vielleicht nicht unbedingt Neues, in jedem Fall aber etwas Eigenes schafft und dabei einmal mehr nicht nur Händchen, sondern auch Köpfchen beweist.

Schon mit dem (im besten Sinne) M. Night Shyamalan’esken SCHAUTAG hat der 1980 in Wien geborene Regisseur zusammen mit seinem Drehbuchautor Benjamin Hessler 2009 eine verwickelte, eindringliche und clevere, dazu stilistisch gelungene „Gruselgeschichte“ vorgelegt, die prompt als bester Kurzfilm auf dem ansonsten nicht als übermäßig genre-affin verschrienen Max Ophüls Preis ausgezeichnet wurde. Der nächste Kren/Hessler-Knaller, der international für Aufsehen (und Vertrieb) sorgte, war 2010 der mittellange Zombie-Horror RAMMBOCK. Darin reist Unglücksrabe (Michael Fuith selbst Nachwuchsdarstellerpreisträger des MOP und bei BLUTGLETSCHER in einer Nebenrolle zu sehen) nach Berlin, um dort seiner Exfreundin den Wohnungsschlüssel zu bringen – und unversehens in die Untotenapokalypse zu geraten. Nicht nur handwerklich, von der Inszenierung bis zu Maske und den Effekten, ist dieser 60-Minüter erstklassig, sondern darüber hinaus witzig und originell: Die Handlung beschränkt sich auf (und nutzt erzählerisch mustergültig) ein Hinterhofmietshaus und dessen Örtlich- bzw. engen Räumlichkeiten. NIGHT OF THE LIVING DEAD meets REAR WINDOW quasi.

Dass Hollywood bei Kren daraufhin anklopfte, war nur folgerichtig. Ebenso, dass nun ein Langspielfilm gefolgt ist, der beim MOP in Saarbrücken im Wettbewerb lief, dort zwar nichts gewann, dafür aber die Herzen der Fans der guten (und manchmal gern auch nicht so guten) Horrorstreifen aus einer goldenen New-Hollywood-Ära und des postklassischen Kinos.

Entsprechend ist die Story von BLUTGLETSCHER (erneut nach dem Buch von Hessler) ebenso schnell erzählt wie sie für die Einschätzung des Films in Gänze an sich relativ nachrangig bleibt: Die Messstation einer Klimaforschungsstation in den Alpen fällt aus, und so macht sich die Hauptfigur, der grummelige Schrat Janek (Gerhard Liebmann) zusammen mit einem der Wissenschaftler auf, um erstaunt den zu beobachtenden schmelzenden Gletscher in ekligem Rot vorzufinden. Die Verfärbung rührt freilich nicht von Blut her, sondern von durchs schwindende Eis freigesetzten Mirkoorganismen, kleinen „Genlaboren“, die im Magen der Wirtstiere die DNS der von diesen gefressenen Lebewesen zu bizarren Mischwesen (stets mit gehörigem Insektenanteil) kombinieren, auf dass diese sich ihren Weg bahnen. Was natürlich die Forscher fasziniert, für diese aber ebenso zur Gefahr wird. Ebenso wie für den Besuchstrupp um die resolute Ministerin (großartig: Marvins Mama, die Theaterdarstellerin Brigitte Kren), der sich von unten im Tal anschickt, der Station einen Besuch abzustatten. Mit dabei: Janeks Ex Tanja (Edita Malovcic), die ihm dereinst das Herz brach.    

Den Fluch der Bergwelt an seinen Umweltpeinigern, dem Menschen, muss man als Öko-Botschaften nicht gar zu ernst nehmen (auch wenn hier und da tatsächlich nachdenkend machende Momente gibt, so wenn der gemütlich-bärtige Bergführer aufs kahle Felsenmeer verweist und sich traurig erinnert, wie er hier noch als Kind gerodelt ist). BLUTGLETSCHER ergeht sich, gottlob, nicht in AN INCONVENIENT TRUTH, bietet dafür eine nachgerade perfekte Spannungsdramaturgie. Ohne Langatmigkeit, insbesondere in Sachen Exposition, eskaliert die Situation zünftig vor sich hin und verliert sich doch nicht in blindwütigem Terror-Aktionismus, weiß sehr elegant auch das Menschelnde einzuflechten – und das sogar in einen gelungenen Schluss zu überführen bzw. mit dem Horrorstoff zu verbinden. Ein Schluss, der an den von RAMMBOCK einem: einem – je nach Auffassung – schwarzhumorigen oder tragisch-beklemmenden „Happy-End“, das den Film unversehens über den bloßen Monster-Fun hinaushebt, dorthin, wo etwa thematisch Larry Cohen mit seiner IT’S ALIVE-Trilogie (1974, 1978, 1987) uremotional grimmig anrührte.  

Bei aller effizienter Kameraführung, der Montage, dem einfallsreichen Soundtrack (-einsatz) und der Choreografie der Darsteller insbesondere in der Enge der Station, da diese als Box von außen attackiert wird, sind in BLUTGLETSCHER auf der einen Seite die Schauspielerleistung und -präsenz von Gerhard Liebmann (von seinem geliebten Hund hier mal zu Schweigen), auf der andere das Mischungsverhältnis von Ernst und Humor hervorzuhebe. Liebmann in Parka und Strickmütze gibt zwar einen Genre-Prototypen, stellt in seiner waidwunden Muffigkeit einen Kurt Russel jedoch leicht in den Schatten. Naturgemäß bleibt in solch einer Story, die auf äußere Aktion und Reaktion in einer Extremsituation hin angelegt ist, wenig Raum und Muße, die Figuren sich hin zu handfesten Charakteren entwickeln zu lassen. Kleine Skizzierungen müssen genügen und tun es hier auch, zumindest und vor allem bei Liebmann (und auch: bei Brigitte Kren): Blicke, Gesten, vor allem aber eine enorme Körperlichkeit, jeweils auch vom Kamerablick mitgeformt. In und über sie ist Liebmanns Janeck nicht aus Versatzstücken der Lässigkeit, der Misanthropie etc. grob zusammengesetzt wie aus einem Baukasten, sondern ergibt eine glaubwürdige, „organische“ Gestalt, von der verlotterten Trunksucht bis hin zum Verantwortungsbewusstsein. Auch B. Krens kalkuliert-freundliche bis herrisch wirsche Ministerin ist nicht nur ambivalent in ihrer Führungsrolle, die sie, als es hart auf hart kommt, beansprucht, dabei für den Zuschauer nicht eindeutig sympathisch oder unsympathisch gerät: Sie lässt diverse Facetten durchschimmern, so dass man sich sowohl ihre wie Liebmanns Figur durchaus – keine Selbstverständlichkeit, eher noch eine Ausnahme im reinrassigen Horrorfilm – in anders gelagerten Filmen (vom Familien- bis Politdrama) denken könnte und gerne anschauen würde. Nicht umsonst wurde Liebmann für die Rolle in der BLUTGLETSCHER mit dem Österreichischen Filmpreis 2014 ausgezeichnet, ebenso wie Krens Film dazu für den besten Ton und die beste Maske.

Was den Humor anbelangt: Da rennt jäh ein hübsches Mädel (Coco Huemer) von einer bestachelten Flugbestie verfolgt durchs Geröll. Wer sie ist (also die junge Frau!), woher sie kommt, was sie da will, dass ist sozusagen Kren und seinem Film aufreizend und augenzwinkernd egal; erklärt wird’s nicht – so ein sexy Girl in Shorts gehört halt dazu. Und ein Highlight überhaupt ist, wie Mama Kren wutschreiend einem mutierten Steinbock per Gesteinsbohrer zu Leibe rückt, auf dass das Blut nur so spritzt. Damit ist es allerdings schon genug, denn BLUTGLETSCHER ist zu keiner Zeit eine simple Parodie oder gag-versessene Aneinanderreihung von Zitaten und -dekonstruktionen, noch erschöpft er sich im bloßen Nachäffen der US-Genrevorbilder, wie das leider allzu oft bei europäischen und insbesondere deutschen Werken der Fall, Projekte, für die am liebsten gleich US-(B-)Gesichter gecastet und auf Englisch gedreht wird. Wie RAMMBOCK mit seinem Hinterhofhaus funktioniert BLUTGLETSCHER für Fans und Nicht-Fans auf aller Welt und hätte doch nicht (so) einfach irgendwo anders (selbst nicht in Amerika) entstehen können. Soll heißen, es ist nicht nur eine eigene Handschrift, die Krens Film auszeichnet, sondern auch eine Regionalspezifik, die BLUTGLETSCHER als Horror-Beitrag interessant macht. In diesem Sinne ist Hilde Beselers Erklär-Bär-Wissenschaftsvortrag über das, was da wie so mutantenmonstermäßig vor sich geht (eine Dialogpassage, die leider im Trailer den Eindruck vom Film ein bißerl zu versauen vermag), arg theatral-gestelzt und mithin der most cringeworthiest moment von BLUTGLETSCHER, dabei aber eben auch als lustvoll überzogenen genre-obligatorischer Standard betrachtbar und darüber hinaus: So deppert, sicherlich auch weil schlicht: hochdeutsch. Es ist das Österreichische, das den Film adelt, von der Sprache bis zum Gemüt und der lakonischen Konsequenz, die das Alpenrepublikskino gegenüber dem hiesigen so voraus hat. Wenn es also etwas an BLUTGLETSCHER zu beweinen gibt, dann dass er nicht taugt als leuchtendes Beispiel eine gelungenen individualistischen deutschen Genrekinos der blutigen Art. Bei RAMMBOCK hatte immerhin noch die Sigrid Hoerners Moneypenny Filmproduktion in Berlin und das Das kleine Fernsehspiel (Redakteurin: Katharina Dufner) die Finger im Spiel (außerdem ist Hessler Deutscher, so!).

Viel gekostet hat BLUTGLETSCHER nicht, gerade mal 2 Millionen Euro plus, lächerlich wenig oder erstaunlich, betrachtet man, was Kren damit auf die Beine gestellt hat. Zur Erinnerung: jeder Wald- und Wiesen-TV-Film hierzulande bringt es – ohne Alpenstation, Killerviehzeug und Metzeleffekten – auf rund 1,4 Mio. Möglicherweise wäre BLUTGLETSCHER, hätte man Kren das Zehnfache, das die Umsetzung des Ursprungsbuchs gekostet hätte, zur Verfügung gestellt, gar nicht so wunderbar geworden wäre. Sicher ist aber, dass man etwas Ordentliches für sein Geld bekommt, ob Filmfinanzierung oder Kinokarte. Auch das dürfte Kren so interessant für Hollywood und Co. machen.

Ob Tugend aus der Not, ob bewusste Entscheidung, was BLUTGLETSCHER nicht zuletzt und gerade als Schauerfilm außerdem positiv auffällt, ist, dass bei allem Monster- und Körperhorror Kren dezent in dem bleibt, was er zeigt. Es geht blutig und eklig zu, aber diese Schauwerte werden nicht ausgereizt, geschweige denn überzogen – in ein oder zwei Momenten wünscht man sich bei aller Mageninstabilität gar eine paar Sekunden längere (oder deutlichere) Betrachtung der Scheußlichkeiten. Aber es geht BLUTGLETSCHER eben nicht um derart unmittelbare, visuelle Viszeralitäten. Auf den Slasher-Film übertragen ist BLUTGLETSCHER eher HALLOWEEN als FRIDAY THE 13TH, sind Verwundung und Mutation im Zweifel eher Mittel zum (statt Selbst-) Zweck, schockhafte Auflösung der Spannung, Buh!-Überraschung oder ambivalentes Mitleid angesichts von Deformationen. Alles in (richtigen, ggf. Unter- als Über-) Maßen, denn was Kren versteht und herzustellen weiß, ist, was letztendlich die wahren Meisterwerke von beliebiger Schmuddelduzendware abhebt: dichte Atmosphäre.    

Dazu gehört auch, dass die Kreaturen weitgehend nicht aus dem Computer stammen, sondern in guter alter Manier richtig gebaut sind, physisch anwesend vor der Kamera statt nachträgliche Pixelmonster, mithin nicht von ihnen zu viel preisgegeben wird, auf dass man sich daran nicht übersatt sehen könnte. Das unterstützt die saftige Taktile des Films –  wunderbar realistisch mutet die übergroße Kellerassel an –, hat aber auch in klitzekleinen, je passenden Momenten den Charme mal Ray Harryhausen’scher Monsteranimation, mal der Augsburger Puppenkiste, was Kren und Monteur Daniel Prochaska per Schnitt in sichtbarer Hingabe gut im Griff haben, um die Ungeheuer und ihre Erscheinung ebenso wie alles andere der Geschichte, der Szenendramaturgie und ihrer Gesamtwirkung unterzuordnen, statt einfach nur auszustellen.

Kurzum: BLUTGLETSCHER ist ein großes, wiewohl ein ernstes Vergnügen, mehr als nur solide, stimmungsvoll und ohne Kokolores. Ein Film, den dankenswerterweise die noch junge Filmverleihgenossenschaft Drop-Out-Cinema als solchen erkannt hat und hierzulande ab 6. Februar in die Kinos bringt. Anschauen!

Die Webseite zu BLUTGLETSCHER mit Trailer, Regiestatements etc. finden Sie HIER.

Bernd Zywietz