Grindhouse Nachlese September 2016 – Unterweltliches und Unterirdisches
Cinema Quadrat, Mannheim, 24. September 2016:
"Fluchtweg St.
Pauli – Großalarm für die Davidswache", BRD 1971, Regie: Wolfgang Staudte
"The Toy Box"
/ "Sexualrausch", USA 1971, Regie: Ronald Víctor García
(Bonus:
"Damnation
Alley" / "Straße der Verdammnis", USA 1977, Regie: Jack Smight
"Ich – ein
Groupie", Schweiz/BRD 1970, Regie: Erwin C. Dietrich)
Zunächst muss ich mir etwas von der Seele schreiben. Denn
sonst würde sie vielleicht noch platzen!
Über die Grindhouse-Nacht im Wonnemonat Mai nämlich konnte
ich aus Zeitgründen nicht berichten; aber immer, immer muss ich daran denken!
Zumal, wenn ich Musik höre. Der erste Film dieses Abends nämlich war
"Damnation Alley", und er ist eine Art inoffizielles Remake des Songs
"Electric Funeral" auf Black Sabbaths zweitem Album:
Robot minds of robot slaves lead them to atomic rage
plastic flowers, melting sun, fading moon falls upon
dying world of radiation, victims of man's frustration
Burning globe of oxygen fire, like electric funeral pyre.
plastic flowers, melting sun, fading moon falls upon
dying world of radiation, victims of man's frustration
Burning globe of oxygen fire, like electric funeral pyre.
Apokalypse durch totalen Atomschlag; nur wenige Überlebende.
Darunter Jan-Michael Vincent, seines Zeichens rebellischer Ex-Soldat, und
George Peppard, gestandener Offizier. Jawoll: Airwolf und A-Team in einem Film!
Sagenhaft. In einem selbstgebauten Fahrzeug, das aussieht wie der missratene
Bastard eines Müllcontainers, der von einem Akkordeon vergewaltigt worden war,
machen sie sich auf quer durch das verwüstete Amerika. In einem alten Zirkus
lesen sie eine Frau auf. Zwischendurch greifen Riesenmengen von unzerstörbaren
Kakerlaken an. Alles ist Wüste in USofA, unter einem Himmel, in den die ganze
große Kunst der Visual Effects einfließt, die dem Regisseur Jack Smight zur
Verfügung stand.
Gut: Das war nicht viel, diese Kunst; dafür aber hatte er
immerhin so viel Budget zur Verfügung – wohl um die 16 Millionen Dollar –, dass
er eine Riesenmenge elektronischer Bildeffekte in den Himmel malen konnte, so
was wie ganz frühe CGI. Das ganze Geld für einen blinkenden blitzenden bunten
elektrisch geladenen Himmel – nuja, für den Rest war dann halt nicht mehr so
viel übrig – aber immerhin alles vor "Mad Max"! Und die kongeniale
Bebilderung des heimlichen Inspirationssongs:
Flashes in the sky turn houses into sty
Turn people into clay, radiation minds decay.
Turn people into clay, radiation minds decay.
Musik übrigens eben auch im zweiten damaligen Film, Ingrid
Steeger in "Ich – ein Groupie", als zunächst ganz naive Jungfrau, die
von einem Konzert im Hyde Park erweckt wird. Sie macht mit dem Leadsänger rum,
verliebt sich total, während er sie nur als Groupie sieht, und mit Freundin
reist sie ihm quer durch Europa hinterher, erweitert dabei ihren sexuellen
Horizont. Drogen natürlich, rumbumsen, große Enttäuschung in der Liebe. Und
ganz gute Musik eigentlich, von 1970 ist der Film, wir hören damaligen
Krautrock unter anderem von "Birth Control" und "Murphy
Blend", irgendwann wird es schlimm, Heroin und Hell's Angels und schwarze
Messen und dann auch noch Lesbensex! Ganz naiv durchwandert Frau Steeger den
Film, meistens nackig, und das sieht natürlich super aus an ihr, halsabwärts.
Nackbaden. Joint und ausziehen im Wald. Motorradfahrt im Evakostüm. Und nicht
allzu viel im Oberstübchen. Haha: Sie reist lieber ihrer Illusion von Liebe
hinterher und lässt dafür ein Konzert am Freitag von einer Band namens Black
Sabbath aus. Dabei hätte sie da im Schnelldurchgang den ganzen Höllentrip haben
können!
Seele gereinigt. Keine Altlasten mehr. Sprung zu den
Septemberfilmen – da spielt die Musik. Nämlich so ein merkwürdiges
Jazz-Rock-Geplänkel auf dem Soundtrack, der ziemlich penetrant und aufdringlich
wirkt und das Schlechteste ist an Wolfgang Staudtes vorletztem Kinofilm: "Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für
die Davidswache". Staudte ist einer der Könige des deutschen Kinos.
Einige der besten Nachkriegsfilme gehen auf sein Konto – der erste
übrigens auch, mit "Die Mörder sind unter uns", 1946. Im Herbst
seiner Karriere drehte er viel fürs Fernsehen, das Kino hatte ihn überholt:
Zwischen Sexreporten und Neuem Deutschen Film war kein Platz mehr für ihn.
"Fluchtweg St. Pauli" ist sein Versuch, einen Mittelweg zu finden:
Ein großes Unterwelt-Brüder-Drama, weniger mit Action als mit innerer Spannung;
und ein paar Einblicke ins St. Pauli-Milieu. Wobei der Film in der Tat
keineswegs reißerisch ist, ganz anders, als sein Titel vermuten lässt:
"Aber beim Titel fängt der Ärger schon wieder an", so wird Staudte im
von Egon Netenjakob, Eva Orbanz und Hans Helmut Prinzler herausgegebenen
"Staudte"-Band des Volker Spiess-Verlags zitiert, "'Fluchtweg
St. Pauli' wollten die Verleiher. Richtig schön provinziell, aber ich kann es
nicht ändern: ich bin ja nur der Regisseur."
Gleich am Anfang: Heinz, der Taxifahrer, gondelt eine
heftigst Betrunkene durch die Hamburger Nacht. Die sich auf der Rückbank nackig
auszieht, weshalb er sie auf der nächsten Polizeiwache – ratense mal, welche –
abliefert. Dort kennt man sie schon. Und Heinz auch: Weil sein Bruder wegen
Bankraubs einsitzt. Dieser Willy nun entfleucht aus dem Knast und sucht seine
Beute – die aber, Zeki Müller lässt schön grüßen, just im Dachboden eines
Hauses versteckt ist, das gerade abgerissen wird. Er braucht Geld, er haut
seinen braven Bruder Heinz an. Sein Komplize: Timpe, Heinz' Taxifahrerkollege.
Die Bösewichter entführen Willys Ehefrau, die inzwischen, während der Haft des
Göttergatten, mit Heinz glücklich geworden ist. Kommissar Knudsen kriegt das
alles mit, weil er von Klaus Schwarzkopf gespielt wird, der aussieht, als würde
er sowieso immer alles mitkriegen und würde unter der Last dieses Wissens am
liebsten einpacken und gehen. Aber er ist Beamter. Er muss den Fall durchstehen.
Das ist ziemlich spannend gemacht – zunächst freilich scheint
vor allem Kommissar Zufall das Drehbuch zusammengestoppelt zu haben, denn immer
ist irgendwer genau da, wo gerade was passiert; allmählich merkt man, dass das
Methode hat: Die Kamera weiß, wo das Schicksal wieder mal unbarmherzig
zuschlägt, und ist als unser Zeuge vor Ort. Große Action gibt es nicht – es
geht um das Zusammen- oder besser Gegeneinanderspiel der Figuren, um die Kreise,
die ihre Handlungen ziehen und die die Kreise der anderen stören. Gut: Das
alles ist offenbar ziemlich hastig und nicht sehr sorgfältig gefilmt; und
wahrscheinlich wegen der vielen Außenaufnahmen direkt on location wurden Ton und Sprache komplett nachsynchonisiert, was
dem Film eine gewissen Fremdheit verleiht. Zudem: Wenn man sich anschaut, was
zu jener Zeit einige Jungfilmer in Hamburg getrieben haben: Klaus Lemke mit "Rocker" zum Beispiel, oder Roland Klick mit "Supermarkt" – die haben einen
ebenso ungeschliffenen Ansatz, aber mehr jugendliche Energie, um ihn auch als
Weltbild, als Haltung, als Grundsatz zu präsentieren. Und wer Heinz Strunks
"Der goldene Handschuh" gelesen hat, bekommt einen noch viel
intimeren Blick in die Eingeweide von St. Pauli vorgeführt, als es Staudte je
könnte.
Als Thriller aber, als einer zumal, der einige Stars der
70er vereinen konnte: Horst Frank, Christiane Krüger, Heinz Reincke, Klaus
Schwarzkopf, funktioniert "Fluchtweg St. Pauli" sehr gut – ein
Unterweltsknaller, vielleicht nicht so hammerhart wie vor zwei Jahren hier beim
Grindhouse "Zinksärge für die Goldjungs" von Jürgen Roland,
aber dennoch ein starkes Stück Hamburg.
Starkes Stück: Das war sicherlich der zweite Film des
Abends. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ein derart obskures,
zusammengeklopptes Machwerk, das mitten reinhaut in perverse Sexorgien, die
dazu angetan sind, dem aufgegeilten Filmpublikum ordentlich Zucker zu geben;
das dabei jede Art von Handlung über Bord wirft und dennoch Sinn und Bedeutung
behauptet, auch wenn diese noch nie vorhanden waren; und das am Ende abschließt
mit einer plötzlichen Science-Fiction-Idee, die den Film zu umschnüren versucht
so, als wolle man einen Pudding ohne Verpackung mit der Post verschicken. "The Toy Box" heißt der Film,
auf deutsch übersetzt: "Sexualrausch".
Zunächst haben wir eine Blondine, Donna, im Auto. Sie
spricht nicht, aber wir hören ihre Stimme, weil Gedanken und so. Gedanken, die
sich um Ralph drehen. Der hat einen Pornoschnurrbart und einen bitterlich
geilen Blick in den Augen. Und übergibt ihr, bevor er "noch was zu
erledigen" hat, im Auto ein Geschenk vom Onkel. Darin ein weißer Vibrator.
Die Gedanken von Donna rasen, soll ich, soll ich nicht, guckt Ralph zu oder
nicht, kurz: Sie tut es. Ralph nach seiner Rückkehr findet's gut. Und sie ist
auch happy.
Das ganze war, glaube ich, eine Rückblende auf das erste
Mal, als sie mit dem Onkel zu tun hatte und dabei ihre letzten Hemmungen
verloren hat. Inzwischen sind Donna und Ralph regelmäßig beim Onkel, weil's
dort hoch her geht. Der Onkel ist aber vielleicht tot. Das erfahren wir in
Dialogen, während Donna und Ralph miteinander rummachen auf dem Sofa. Bumsen, bumsen,
mit einigen gynäkologischen Einblicken zwischen Donnas Schenkel. Das Lustige
ist, dass die Dialoge den ganzen Film über zwar hör-, aber nicht sichtbar sind,
weil sich die Münder der Schauspieler nicht bewegen. Könnte Telepathie sein.
Vielleicht stand freilich auch beim Dreh die Handlung noch nicht fest, die dann
hinterher eingesprochen wurde.
Nach dem Bumsen jedenfalls geht’s los in Onkels Haus. Der
aber, wie gesagt, vielleicht nicht mehr lebt. Im Dachboden jedenfalls sitzt
sein Körper, der aussieht wie eine Rabbi-Fantasie aus einem Coen-Film. Hinterm
Karl Marx-Bart ein blasses Gesicht, dunkle Augen, alles bewegungslos. Aber den
Kopf kann er drehen, dann geht mechanisch der Mund auf, und wir hören seine
Stimme, ohne Lippenbewegungen. Was das soll, wissen wir nicht. Was das
Nacherzählen des Films auch noch schwieriger macht: Dass man vieles, vielleicht
gar alles erst im Nachhinein erschließen kann, freilich nie mit Sicherheit,
immer nur mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgehalt, was das Geschehen
angeht. Und dieses nachträglich erworbene Ahnen um die Hintergründe fließt in
die Inhaltsschilderung ein, so dass sich das vollkommen verwirrende Gefühl des
ersten Sehens dieses Films kaum schreibenderweis rekapitulieren lässt.
Unten, im Erdgeschoss, jedenfalls sind eine Menge Leute
versammelt, die sich immer wieder ausziehen, um zu bumsen. Allein, zu zweit, zu
vielt. Eine Performance gibt es auch, zwei Frauen, ein Mann, Römertoga, die
Frauen als Löwinnen, denen der Mann vorgeworfen wird, den sie dann vernaschen. Das
spielt sich zwar vor dem Orgienpublikum ab, könnte aber auch eines der Spiele
des Onkels sein, der nämlich zu den vollen Stunden einzelne oder mehrere der
Partygäste nach oben kommen lässt – bzw. er ruft sie nicht, sie wissen von allein,
was zu tun ist. Auf dem Dachboden nun führen sie Szenen sexueller Phantasien
vor, die wahr werden. Eine üppige Dame entkleidet sich vor dem Schminkspiegel,
aus ihrer Puderdose greift eine Hand nach ihren Brüsten, "OK, aber nur
kurz!", dann legt sie sich ins Bett und wird von den Bettlaken (!)
liebkost bis zum süßen Orgasmus. Dann öffnet sich eine Truhe für sie.
Ab und zu taucht plötzlich, aus dem Nichts, unten bei der
Orgie eine Leiche oder so was auf. Was treibt denn der Onkel heute?, wundern
sich die Leute, irgendwas ist anders als sonst.
Was hamwer noch. Einmal befindet sich ein Pärchen, das zum
Onkel rauf ist, plötzlich auf einer Wiese. Die Frau spricht – in der
amerikanischen Originalfassung! – deutsch, gekleidet sind sie nach der Mode des
Fin de siècle. Aber nicht lange, weil sie natürlich in der Natur bumsen. Eine
andere Szene: Ein Metzger hackt Fleisch. Hinter ihm hängen zwei nackte Frauen
an Fleischerhaken. Die eine Tote nimmt der Metzger ab, betatscht sie, befummelt
sie, bumst sie. Während er lustvoll dabei ist, hängt sich die andere Tote
selbst ab, kommt herzu und zerhackt den Metzger. Plötzlich sind die drei wieder
schauspielermäßig vor dem Onkel, der alles gut fand – soweit eine bleiche
Leiche etwas gut finden kann –, wie immer nach einer solchen Show öffnet sich eine
Kiste. Und wir begreifen: Unten die Orgie ist zum Aufgeilen der Menschen, die
dann vor dem Onkel eine Sexszene performen, nacheinander und im Voraus eingeübt
(so wie Donna und Ralph beim Bumsen auf dem Sofa), und der Onkel guckt als
guter alter Voyeur zu und belohnt aus der Spielzeugkiste – daher der Filmtitel.
In der Kiste: Ein Haufen Geld.
Derweil werden Donna und besonders Ralph misstrauisch. Es
stimmt was nicht, weil immer wieder Leichen auftauchen. Und wieder
verschwinden. Beide werden in der Abstellkammer eingesperrt, wo ihnen das
Gesicht des Onkels erscheint. Und wieder verschwindet. Eine Nackte ist auch da.
Und verschwindet wieder. Dann kommen sie wieder frei. Sind das Halluzinationen?
Spielchen des Onkels, der sie alle in der Hand hat mit seiner Spielzeugkiste?
Oder ist da mehr? Nach ca. einer Stunde Bumsen kommt es zum Finale. Das ist so
ungeheuerlich krass, dass man es gar nicht zu erzählen sich traut. Plötzlich
ist eine nackte Dame riesengroß, während Donna und Ralph ganz klein sind. Und
die Riesin redet was von einer anderen Welt. Und dann ist der Onkel ein Alien,
und noch wer, was wir aber nicht verraten. Was jedenfalls nicht passt zu
irgendwas von vorher. Aber die Welt geht unter, weil Onkel plus Komplizin die
Menschen mit Geilheit verdorben haben und sie nun mitnehmen auf einen anderen
Planeten, wo sie, wenn ich mich recht erinnere, zu Futter werden. Oder zu
Sexspielzeug. Wer weiß das schon.
Harald Mühlbeyer