Hofer Filmtage 2016: Heinz Badewitz-Gedenkfestspiele
50. Hofer Filmtage, 25. bis 30. Oktober 2016
Ich bin ja generell film- nicht personenfixiert. Aber beim
Abholen der Akkreditierung in den engen Hofer Büros, da hatte ich doch das
beständige Gefühl, dass jederzeit – wie in all den Jahren, die ich schon hierher
fahre – Heinz Badewitz geschäftig um die Ecke sausen würde. Ja, mehr noch:
Zweimal habe ich von der Treppe des Scala-Kinos aus einen Besucher gesehen, mit
badewitzesker Prinz Eisenherz-Frisur, und schon wieder: zack, deja vu.
Nun ist Heinz Badewitz, Gründer und Chef der Hofer Filmtage,
bekanntlich im März verstorben. Ein halbes Jahr vor dem 50. Geburtstag seines Filmtage-Lebenswerks.
Drei Kuratoren haben die Programmauswahl übernommen: Linda Söffker, Leiterin
der Sektion "Perspektive Deutsches Kino" der Berlinale; Alfred
Holighaus, SPIO-Präsident; Thorsten Schaumann, internationaler Programmer beim
TV-Sender Sky. Und: Die Hofer Filmtage waren in ihrem 50. Jahr wunderbar.
Einerseits: Jubiläum. Da wären wahrscheinlich auch so viele
der alten Hof-Hasen mit ihren neuen Filmen gekommen. Werner Herzog und Wim
Wenders waren da mit "Salt & Fire" bzw, "Die schönen Tage
von Aranjuez"; Jim Jarmusch hatte hier Anfang der 1980er ein Karrieresprungbrett,
jetzt lief sein "Paterson". Dominik Graf hat hier schon viele Filme
gezeigt, Christian Schwochow war mit seinen ersten Filmen hier, Axel Ranisch
konnte hier mit "Dicke Mädchen" richtig durchstarten, Chris Kraus hat
hier schon "Vier Minuten" und "Poll" gezeigt und durfte mit
"Die Blumen von gestern" eröffnen. Außerdem im Programm:
Cannes-Gewinner "I, Daniel Blake" von Ken Loach, und
Venedig-Preisträger "Paradies" von Andrei Konchalovsky.
Zudem wurden die Filmtage nun durch traurige Umstände zu Heinz Badewitz-Festspielen: Da sagt ohnehin keiner nein, wenn er von Hof angefragt wird. Großartige Filme hier, so viele großartige Filme, dass man sie gar nicht alle sehen konnte. Ein Festival des verpassten Films: Ein schöneres Kompliment kann es ja wohl kaum geben.
Man hätte mehrere thematische Reisen unternehmen können bei
den 50. Hofer Filmtagen. Beispielsweise Künstlerporträts. Oder Psychothriller.
Oder Schauspielern folgen: Veronika Ferres spielte in Werner Herzogs "Salt
& Fire" ebenso wie in Andreas Arnstedts "Short Term Memory
Loss" die Hauptrolle; mehrmals zu sehen: Eva Löbau, die damals, 2003, mit Maren
Ades Debütfilm "Der Wald vor lauter Bäumen", ganz groß rauskam – der
Film lief in der Retro, die sich mit fünf Filmprogrammen aus fünf Jahrzehnten
der Festivalgeschichte zuwandte. Übrigens genau das, was Badewitz ausdrücklich nicht
wollte. Und wirklich eine eher lahme Angelegenheit, weil willkürlich
zusammengestellt. Man hätte ja wenigstens einen kleinen Bogen bauen können:
Filme von Regisseuren, die inzwischen auch schon gestorben sind. Oder die
ersten paar Filmtage, damals ab 1967, rekonstruieren, auf denen fast nur
Kurzfilme liefen… Zurück zu Frau Löbau – die nämlich auch in einem Kurzfilm,
"Oxytocin" von Ludwig Löckinger, in "Die Blumen von
gestern", in Ranischs "Frau Lotzmann auf den Barrikaden" zu
sehen war. Und wer weiß, vielleicht hab ich sie noch irgendwo verpasst.
Verpasst: Das hab ich ohnehin vieles. Weil ich auch keinen
thematischen Linien gefolgt bin. Nur angerissen, die Psychothriller
beispielsweise. "Das dunkle Haus am Rande des Waldes", ein dolles Debüt
von Johannes Leistner: Ein junges Pärchen in einem alten Bauernhaus nahe dem
Gebirge, sie haben ein Geheimnis, man weiß nicht, welches; im Wald geht ein
Axtmörder um. Am Wochenende werden die Eltern kommen, dann will Konstantin
alles verraten, das will Marie verhindern. Es ist unheimlich, es ist blutig, es
ist ungewöhnlich genug, um höchst originell zu sein: Tatsächlich recht
unvorhersehbar ist der Film, und wenn dann doch ein klarer Gang erkennbar ist,
dann hält uns die Psycho-Spannung schon genug im Griff, um den Thrill zu
genießen.
Sowas wäre Thomas Stiller gut zu Gesicht gestanden, mit
seinem Film "Die Haut der Anderen", in dem sich ein voyeuristischer
Pornosüchtiger und eine Todesfetischistin in eine Liebesaffäre stürzen… Beim
Liebesfilm bleibt es auch, wenn er auch im Bizarren wühlt. Leider allzu
uninteressant gehen die beiden sich einander hin, allerdings nicht ohne große
Krise: Sie will gewürgt werden, von ihm, der doch eh Schwierigkeiten mit Hautkontakt
hat! Spannung: Fehlanzeige. Hätte aber was werden können.
Verpasst: "Therapie" von Felix Charin, Debüt mit
Dominic Raacke als sinistrer Therapeut; "Lavender" von Ed
Gass-Donnelly, ein Geisterthriller aus Kanada, yeah, Psychiater spielt auch
eine Rolle; "Im Nesseltal", Debüt von Philipp Pamer, eine ins
Horrormäßige driftende Geburtstagsfeier auf einer Berghütte – stolz verkündet
das Plakat, dass der Film in nur 76 Stunden gedreht wurde. Und "Tödliche
Geheimnisse", ein TTIP-Thriller von Sherry Hormann.
Die Künstler wiederum: Die nimmt sich der Filmemacher gerne
vor, schließlich will er auch selbst ein Künstler sein; vielleicht färbts ja
ab. Aber ernsthaft: Film ist natürlich ein großartiges Medium, um Kunst
erfahrbar zu machen: Schließlich ist Film Bild, Ton und Zeit. Womit vieles
abgedeckt ist, was andere Künste einzeln für sich haben. Da kann man
Künstlerporträts als Spielfilm machen: Christian Schwochow erzählt in
"Paula" von Paula Modersohn-Becker, der ersten Malerin, der ein
eigenes Museum gewidmet wurde. Carla Juri spielt die burschikose Künstlerin,
die sich dem Expressionismus hingibt, bevor der bei irgendwem angekommen ist.
Was sie nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Malkunst
von den anderen isoliert. Es geht schließlich in der Akademie in Worpswede um
die genaue Abbildung der Natur; und freilich wird den Damen allenfalls das
Malen als Hobby zugestanden, als sommerlicher Zeitvertreib, bis sie sich dann
verheiraten.
Nun lacht sich Paula Becker freilich Otto Modersohn an; ihre
Freundin geht gar mit Rainer Maria Rilke nach Paris. Und Paula malt, malt, malt
– verkauft aber nichts. Künstlerische Krise, Ehekrise, Fahrt nach Paris.
Ankommen in der Moderne. Kreatives Klima. Bohème. Erfüllung. Oder so was
ähnliches. Schwochow hat einen faszinierenden Film gedreht, ein Film der
Unangepasstheit, des Widerstands, der Kunst, der Empfindungen, der Bilder –
tolle Darsteller, tolle Kameraarbeit, die selbst schon etwas Malerisches hat.
Und das Porträt einer Malerin, die wirkliche Avantgarde war.
Sowas wie Avantgarde auch die österreichische Gruppe
Gelitin. Die mit Unsinnsperformances sich in den Kunstbetrieb hineininszeniert,
die irgendwo zwischen Quatsch und Perversion allerlei Körperöffnungen zeigen,
die man doch lieber verborgen hielte. Alles, was Unterleib ist, ist ihrer Kunst
wert, Schwanz irgendwo reintunken, irgendwas in den Arsch schieben… Immer
wieder dolle Performances, Videoaufzeichnungen davon in diesem Film:
"Whatever Happened to Gelitin" von Angela Christlieb. Aufhänger
dabei: Die Gruppe ist verschwunden, nach dem Erstellen einer riesigen
Nasenskulptur, in deren Popel sich Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither
und Tobias Urban suhlten… Gibt kein Gelitin mehr, sagt der Film, und schickt
einen Reporter auf die Reise, nach New York und Paris, wo Künstler,
Kunsthändler und Kuratoren ihre Meinung zum Gelitin-Phänomen abgeben. Recht
merkwürdige Kunst, recht cooler Film.
Wo wir gerade bei Merkwürdigem sind: "Frank Zappa: Eat
That Question" ist eine phantastische Annäherung ans Frank
Zappa-Universum, nämlich aus sich selbst heraus erklärt. Thorsten Schütte hat
Zappa-Interviews zu einem konzisen, konsistenten Porträt zusammengestellt, in
seinen eigenen Worten wird Zappa erklärt, er erklärt sich selbst und die Welt,
sein Herkommen, seine Ziele, sein Verständnis von Musik und Musikindustrie, von
Politik und Gesellschaft. Und Zappa kann erklären, kurz, knapp, satirisch,
ironisch: "Eine Mischung aus Jesus und Mr. Spock" war er, sagt seine
Tochter Moon, die bei der Aufführung dabei war. Ein unglaublicher Film über
einen unglaublichen Mann, der unglaubliche Musik machte – unglaublich, dass
derart atonale Avantgarde-Töne als Rockmusik funktionieren…
Jim Jarmuschs "Paterson" ist auch so etwas wie ein
Künstlerporträt ist, eine Hommage an den Künstler in uns allen, in einer
Kleinstadt, in der jeder irgendwie seine kreative Ader auszuleben scheint, gänzlich
fiktiv allerdings – dagegen hat Lena Geller mit "You Are Everything"
in ein reales Kunstphänomen eine fiktive Geschichte eingeschrieben. Auf
diversen Goa-Festivals, wo Neo-Hippies zu elektronischer Trance-Musik ihr
Bewusstsein zu erweitern versuchen, entspinnt sich eine
Dreiecksliebesgeschichte um einen enbedded journalist, dessen Freundin
und einem DJ – diese Story ist allerdings dem Zuschauer weitgehend wurscht;
immerhin kriegen wir einiges von der Goa-Subkultur mit. Ein Dokumentarfilm wäre
sicher von vornherein die bessere Wahl gewesen.
"Am Abend aller Tage" ist Dominik Grafs Annäherung
an die Gurlitt-Affäre: Friedrich Mücke hat als verkrachter
Kunstgeschichtsstudent den Auftrag einer Anwaltskanzlei, in München ein
verlorenes Gemälde von Anfang der 1930er Jahre aufzuspüren; an den Sammler
kommt er nur über dessen Nichte ran, geschickt folgt er den Spuren,
scharwenzelt sich immer näher ans Ziel ran – das Drehbuch von Markus Busch
basiert auf einer Henry James-Novelle, mit der die Raubkunst-Sache ziemlich gut
eingekreist wird. Freilich steht eine Liebesgeschichte dem Film ziemlich im Weg
– man glaubt niemals, dass diese beiden füreinander bestimmt sind…
Genug der Kunst? Es hätte noch einiges gegeben. Verpasst
habe ich: "Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich
verspäte", ein Handke-Porträt von Corinna Belz, die zuvor "Ludwig
Richter Painting" gedreht hat – ein Film, der zu Wim Wenders' ebenfalls
verpasster Handke-Adaption "Die schönen Tage von Aranjuez" gepasst
hätte. "Phantom of Punk – Macht und Freiheit" von Christoph Faulhaber
erzählt eine "Rote Flora"-Geschichte: Ein Musical wird in
Punk-Attitüde aufgeführt. "Egon Schiele – Tod und Mädchen" ist ein
Künstler-Biopic: Kreativität und Erotik Hand in Hand im Wien des Fin de Siècle.
"We are X" – eine Spurensuche von Stephen Kijak nach den Mitgliedern
und dem Erfolg von X, Japans erfolgreichster Rockband, die sich 1997 aufgelöst
hat…
Soviele Filme verpasst! Das ist mir in Hof noch nicht
passiert. Und es ist ein tolles Gefühl, wenn die Auswahl an Interessantem
größer ist als die Kapazitäten des Kritikers! Nächstes Jahr geht es weiter. Es
weiß nur noch niemand, wie. Und vor allem: mit wem an der Spitze. Die Hoffnung
ist da: Vielleicht gibt es 2017 auch wieder viel zum Verpassen.
Harald Mühlbeyer