In kalten Nirgendwowäldern



Ich weiß, Sie zögern noch. Sie wollen sich WINTER’S BONE nicht im Kino anschauen. Was Besseres zu tun. Fernsehen. Kommt eh bald auf Video ähh... DVD, Blu-Ray... Ist nicht TRANSFORMERS 3 und FLUCH DER KARIBIK 4. Und ich weiß auch, warum auch sonst nicht.

Zunächst mal die Idee, der „Spielplatz“: Ein Redneck-Drama. Eine Tragödie, irgendwo im US-amerikanischen Nirgendwo - einem Nirgendwo, in dem es auch noch kalt ist, unwirtlich. Die Provinz.

Daraus abgeleitet also zwei Untervorbehalte: a) „Was schert mich deren Provinz?“, und b) „Ist eh ein Kino-, ein (irgendwie) Hollywood-Film“ – sprich: Diese Provinz geht nicht nur am Allerwertesten vorbei, sondern ist sicher auch noch fein glattgeschmirgelt. Also nicht nur weit weg, uninteressant, sondern schlimmer noch: nicht echt – verlogen.

Der zweite Einwand hängt mit dem ersten zusammen: Die Hauptdarstellerin, Jennifer Lawrence. Zu hübsch sieht sie aus, schon auf dem Poster. Und schlimmer noch: Eine so auf abgelebt machende Hübsche; gekünstelte Härme. Buah, schüttel! – denken wir, hier, in Deutschland, wo schon unsere (dicke Anführungszeichen!) „STARS“ aussehen wie dem Hund aus dem Maul gezogen.

Falsch, ganz falsch, und zwar alles!!



Sicher, Jennifer Lawrence hat, allein schon mit ihren schräg stehenden (blaugrünen?) Augen einen Schönheitsbonus, den ihr auch der breite Nasenrücken nicht austreiben kann. In einem lesenswerten Spiegel-Online-Interview (HIER!) beschreibt sie, wie sie die Rolle als Bella in TWILIGHT nicht bekommen hat und für Hollywood nicht misstrauisch und egoistisch genug war, und spätestens mit dem furchtbar schlechten Gossenwitz, den sie am Ende des Interviews zum Besten gibt, hat man sie ins Herz geschlossen.

Kurzum: sie ist kein Disney-Club-Mädchen. Mehr noch aber: Sie spielt schon gar nicht so. Hübsch ist sie, aber – und das ist ein großes Lob sowohl für den Film wie für seine Hauptdarstellerin –: man vergisst das schnell, schaut man sich WINTER’S BONE an. Für den Hauptdarstellerinnern-Oscar war sie nominiert. Dass, ebenso wie der Umstand, dass sie ihn nicht bekommen hat, spricht für Lawrene, für den Film. Den hindurch bleibt man bei ihr, immer, im Geiste, im Herzen.

Womit wir wieder beim ersten Einwand wären. WNTER’S BONE ist kein Reißer, im Gegenteil, erschreckend beiläufig, alltäglich, und – im Guten oder Schlechten –: man spürt die Resonanztiefe eines Romans, eines potentiellen, dahinterliegenden „Noch-mehr“ und „Weiter-hinein“, wie das dereinst bei THE EXORCIST der Fall war. (WINTER'S BONE basiert auf dem Roman von Daniel Woodrell.)

Ree, so Lawrence Name in dem depressiven, schaurigen aber unpathetischen Stück, kümmert sich um ihre Geschwister. Der Vater ist weg, die Mama ein Wrack. Und vor den verstreuten billigen Häusern in den kalten Nirgendwowäldern sammelt sich Krimskrams und der Schrott, derweil der Winter schon fast da ist und der Atem einem vor dem Mund hängt wie katholische Seelen.

Ein Kautionsjäger – in anderen Film- und Fernsehfiktionen der Held, hier der Arsch – taucht auch. Der Vater hat vor Gericht Grund und Boden der Familie verpfändet, und wenn Ree nicht ihn oder aber den Beweis seines Todes beischafft, sitzt die Sippe auf der Straße.

Das ist der Anlass für Rees stoische Suche nach ihrem Dad, den wir (fast, nur teilweise) nie sehen werden, der als solcher nur eine symbolische Rolle spielt – für Ree, wie sie uns zerbrechlich und unbeirrt durch diese abgeschiedene Schattenwelt am Rande der Zivilisation führt, wo das mythische Amerika irgendwie noch überlebt hat und seinen schwärenden Unterbauch zeigt. Ein Hinterland, das ansonsten für Horrorstreifen überzogen wird.

Es gibt keine große Reise für Ree, sie kommt nie aus der Region heraus, aber irgendwie hat man doch am Ende das Gefühl, Frodo & Co. habe den Ring zum Schicksalsberg geschleppt und wäre gleichzeitig nicht übers Auenland hinausgekommen. Die Spuren von Inzest, Drogenselbstbrau, von Feindseligkeit und Sippenzwang, -schutz und -haft begegnen einem hier und unterwegs, eigene, archaisch zu nennende Ehrenkodizes, böse Magie ohne Zauber als kalte, schmucklose Gewalt. Und wenn in einer Nebenrolle, hinter einer der dürftigen Trailerpark- und Sperrholzhausverandatüren, an die Ree klopft, gar als entfernte Verwandte die merklich gealterte Sheryl Lee, die dereinst die mythische, mystische Laura Palmer in David Lynchs und Mark Frosts nicht minder mythischen, mystischen TWIN PEAKS spielte, auftaucht, dann macht diese atemstockende Reise nichts ins, sondern im Herz der Finsternis mehr Verweissinn als man schier verdauen kann.



Nein, keine Angst, WINTER’S BONE ist nicht gelackt, sondern unheimlich in seiner beiläufig alltäglichen, sozial rauen wie unmittelbaren Echtheit, in (s)einer abgeschiedenen Welt jenseits von Zeit und Regulierbarkeit. Hier gelten anderen Konventionen, Gesetze, wie im Western geht es zu, und einer der herbsten Rückschläge für Ree ist es, sich (noch!) nicht für den Militärdienst verpflichten zu können. Man ertappt sich selbst dabei, mit ihre aufgrund des verweigerten Ausbruchs in die "normale", die "zivile" Realität des modernen Söldnertums ehrlich mitzuleiden.

Aber: WINTER’S BONE, kalt und klamm wie er ist und von Regisseurin Debra Granik inszenatorisch rundum fest im Griff gehalten, verkauft nicht für ein billiges Gesellschaftsmitleid, was es an Land und Leuten zeigt – was der Film und seine Independent-Macher, seine großartigen Schauspieler (auch John Hawkes als Rees ambivalenter Onkel wurde neben Christian Bale für den Nebendarsteller-Oscar nominiert und hätte ihn ebenso verdient) darstellen, zeigen, erzählen. Gedreht hat man vor Ort. Wie bei einer Expedition.



Aus der Härte, Kälte und dem krampfhaft erscheinen Schweigen schälen der Film und seine Charaktere immer wieder auch Solidarität, Stärke, Mut. Trotz oder wegen der Gewalt, die umso härter wirkt als sie nur oftmals ganz knapp an die Oberfläche gelangt, sie kräuselt, wie eine Hand im Wasser.

Alles das ohne viel Gewese. Und alles lässt frösteln, wenn man es lässt.

Auf, ins Kino mit Ihnen!



Bernd Zywietz