Neu auf DVD: Aki Kaurismäkis LE HAVRE
Aki Kaurismäki erzählt wortkarge, aber stilvoll-gewandte Märchen über die Realität in mattem Technicolor-Timbre. Und angesichts der frischen Brise seines idealistischen Kampfgeistes in LE HAVRE scheint der Regisseur in voller Blüte zu stehen.
Denn die neueste Arbeit des finnischen Auteurs berührt sozialkritisch eine afro-europäische Wirklichkeit, die er dieses Mal gar zu einer hoffnungsvollen zwischenmenschlichen Vision hin verfremdet: Kaurismäki rüttelt mit LE HAVRE auf, protestiert wie ein poetischer Preßlufthammer in Primärfarben gegen die Grenze der europäischen Moral und die allgemeine Deprivation. Und er liegt mit diesem reifen Plädoyer für mehr Poesie, in wieder liebevollst gesetzten Bildern, den Umständen in der Realität nie wirklich fern. Die DVD erschien am 30. März und enthält, außer diesem wunderbaren Film, auch in der französischen Originalversion mit deutschen Untertiteln, keine Extras.
Marcel Marx (André Wilms), ein alternder Schuhputzer, ehemaliger Bohemian und erfolgloser Autor aus Paris, tagelöhnt auf den Straßen von Le Havre, um sich und seine treue Frau Arletty (Kati Outinen) knapp über Wasser zu halten. Auf dem Heimweg ergaunert sich der schlitzohrige Jacketttaschenpoet charmant Baquettes und was er eben so bekommt von den aufgrund langer Rechnungen ihm eher unwillig gesonnenen Inhabern der kleinen Geschäfte in seiner Straße, die in einem kargen Arbeiterviertel liegt.. Im Hafen wird währenddessen ein Flüchtlingscontainer entdeckt, aus ein kleiner Junge flieht. Marx trifft den kleinen Idrissa (Blondin Miguel) aus Gabun und hilft ihm über aufwändige Umwege schließlich zur weiteren Flucht, um zu seiner Mutter zu gelangen, die in London lebt. Inspecteur Monet (Jean-Pierre Darroussin), mit schwarzem Trenchcoat, schwarzem Hut mit kurzer Krempe und einem altweißen Automobil, ist ihnen dabei stets auf den Fersen. Jener analysiert scharfen Blickes die kriminalistische wie gesellschaftliche Situation und überwindet schließlich seinen Konflikt zwischen menschlicher Würde und beruflicher Pflichterfüllung.
Dieses sozialisierende Märchen scheint im Zeitalter der multiplen Krisen Konjunktur zu haben: Es geht in einem der erfolgreichsten Arthouse-Filme des vergangenen Jahres um soziale, multikulturelle Solidarität und Opferbereitschaft, um treues, doch keineswegs bedingungsloses, sondern ehrenwertes Mitgefühl, kurz: um den Traum von Menschlichkeit. Indem ethische Entscheidungen eine kleingeistige Gesetzesmoral überwinden, mündet diese Parabel schließlich in die moralische Rehabilitation der Charaktere.
Darüber hinaus bewirkt das die Verwirklichung einiger Träume, inklusive mancher des Regisseurs, der schon länger auf der Suche nach einem geeigneten Dreh-Ort für diesen Film gewesen ist. Auch zieht sich Kaurismäki, nach der tristen "Trilogie der Verlierer", selbst aus dem Sumpf mit LE HAVRE als wieder hoffnungsvollere, betont sozialkritische, künstlerische Vision, die nicht nur im eigenen Mief schwelgt und sich beklagt, sondern konkrete, konstruktive, wenn auch märchenutopische Vorschläge macht, zentral in den Handlungen der Figuren Marcel und Inspecteur Monet. Der große Gestus des Leidens unterspielender Gesichter kommt natürlich dennoch nicht zu kurz. Doch Kaurismäki ist wieder auf der Höhe, auch wieder in Frankreich, und haut hart, aber gefühlvoll auf den Tisch, wie man es von einem europäischen Filmemacher verdammt noch mal erwarten können sollte.
In LE HAVRE kommt nicht nur die Problematik vieler Migranten auf der Suche nach einer lebensmöglichen Zukunft auf den Tisch. Auch der giftige Blick durch Zeitung und Fernsehen auf Flüchtlinge oder der exklusivierende Einfluss der Kirche im Beichtstuhl wird bloßgestellt; ebenso die kalte Hand des Innenministeriums in Form von polizeilichen Einsatzkommandos, rigorose Schuhgeschäftsbesitzer und der einzelne, stumme Denunziant. Die empathischen Menschen, die sich im Namen der Herzlichkeit fügen, werden ungewollt zu Helden, die ihrerseits lediglich einen Anstoß brauchten, aus der bürgerlichen Lethargie herausgefordert zu werden. Dieser herzhafte Einsatz aller Figuren, teils auch derer Existenz, hebt LE HAVRE von einem allzu bequemen, schönen Lifestyle-of-Health-and-Sutainability-Märchen ab, zu dessen Erfüllung nur der ferne, einzelne Held leidet. Der Erfolg der Geschichte basiert auf der direkten menschlichen Zusammenarbeit, wie bei einer Feuerlöschkette. Und wo die gegenseitige Bekanntheit aufhört, verläuft ein teurer Graben: Der Schwager des Cousins des Fischers, eines Freundes Marcels, nimmt den Jungen noch lediglich gegen Geld für Treibstoff mit, das nächste, anonyme, Glied in der Kette, der Schlepper, verlangt schon 3000 Euro.
Kaurismäki, das finnische Schwergewicht der wortkargen Schwermut, lichtet so Pfade der Solidarität, wo sie beinahe vergessen und/oder von interessedienlichen Gesetzen durchzogen sind: Sie führen, über den Umweg der Erinnerung der eigenen Not, zum grenzübergreifenden Mitgefühl der Figuren.
Schon alles verraten? Keineswegs – das war nur das nicht ganz trockene Baquette einer wirklich interessanten Kaurismäki-Geschichte, denn auch dieser Film des finnischen Auteurs lebt stark von dessen kargem, aber wesentlichem Stil, den dieser hier zu perfektionieren scheint: Recht lange und distanzierte Einstellungen, ein bedächtiger Erzählrhythmus, die knappe, elliptische Montage (Timo Linnasalo). Das dramatische Unterspielen der Mimik mit dann plötzlichen großen Gesten ist stark stilisierte Mileustudie.
LE HAVRE wird bestimmt von einem wieder herzlicheren Ton, auch jenem der treffsicher eingesetzten Musik: Von französischer Akkordeon-Folklore über finnische Surf-Klänge, Alt-Blues von der Schallplatte bis zum Rock’n’Roll en fabrique Haute-Normandie. Matte, augenzapfensättigende Farbtöne stechen entweder aus dem tristen Alltagsbild hervor, oder aber nehmen den ganzen Raum athmosphärisch ein, um die Einstellungen in eines dieser nur fast kitschigen Heiligenbildchen zu verwandeln, deren Plateu die Darsteller dann sehr verhalten beleben. Immer wieder verweilt die Kamera (Timo Salminen) nach dem "Abgang" der Darsteller auf dem Hintergrund, oder auf der unbewegten Szene, etwa nachdem die Blicke Marcels und Arlettys – die im Lauf der Handlung ins Krankenhaus eingeliefert wurde – wieder auseinander gingen: Diese "Bedenkzeit" wird nicht langweilig oder gar qualvoll, wenn sie auch noch so explizit ausgestellt ist – sie ist in diesem reflexiven Film inneres Spannungsmoment. Die visuelle Ruhe verdichtet das eben Gesehene, nun mehr Unsichtbare, die Bedeutung des Vergangenen, im Auge des Betrachters.
Abgesehen davon sind es unwirklich schöne, patinaablätternd verlebte Wände oder menschenleere Bar-Räume, die da stehen bleiben: Vollmundig klare, palimpsestische Vergänglichkeit, welche die Wertschätzung der Dinge hochhält. Die stilistische Spur einer subtilen Störung durchzieht das gesamte Aki-Kaurismäki-Filmuniversum, aber steht hier in voller Blüte. Es handelt sich um die speziellen, minimalen wie essentiellen Abweichungen von einer naturalistischen Darstellungsweise, die auf vielen Ebenen wirken: Die Positionierung der Figuren nahe an, aber nicht in der Bildmitte, wo sie in der Erzählung "bei sich" sind (und die im Breitbild-Format oft eine Aura von Einsamkeit der Figuren hervorruft). Eine wie immer sehr sorgfältige Bildkomposition, die still von der momentanen Intention der alltagsnahen Szene erzählt, wird betont durch intensive Lichtsetzung und spärliche Raumausstattung (Wouter Zoon). Auch wo keine Dialoge stattfinden, können die Wände vor Gefühlsausbrüchen zittern, so etwa, als Idrissa still den Blues ("Statesboro Blues" von Blind Willie McTell) entdeckt und man gar ein minimales Zucken seiner Beine zu vernehmen meint.
Die stimmungsvolle Störung betrifft hier auch die Dialoge in entscheidender Weise: Kaurismäki lässt seine Figuren aus existentiellen Gründen und auf poetische Weise lügen. Sie lenken so oft die Handlung, nach bestem Wissen und Gewissen, aber übernehmen dabei in erster Linie Verantwortung für den Anderen. Abgesehen davon geht es unter fein aufgesetzten Anführungszeichen darum, Würde zu bewahren ("Hast Du geweint?” – „Nein.” – „Gut, es hilft auch nicht."), oder mit trockensten Mitteln herzhaftes Lachen vom Stapel zu lassen. Im Falle des konformistisch-psychotischen, in der Figurenlandschaft des Filmes einzig einsam stehenden Nachbarn (Jean-Pierre Léaud) offeriert Kaurismäki – oder viel mehr der Darsteller selbst, der angeblich seine Dialoge stets zu improvisieren pflegt – sogar einmal psychologisches Profil. In LE HAVRE steht auch das Musikmachen an einer Stelle wieder im Rampenlicht: Der alternde Little Bob (Little Bob) elvist in knallroter Lederjacke wiegenden Breitbeines herum und singt Le Havreschen Arbeiterrock’n’Roll: „...I do my job..., ...try to stand free....". Auch die Literatur bekommt in LE HAVRE einen expliziten Auftritt: Bäckerin Yvette (Evelyne Didi) liest, neben Barfrau Claire (Elina Salo), Arletty im Krankenhaus aus Kafkas Nouvellen vor: „Wie könnten verrückte Menschen müde werden?“ Diese so minimalen wie essentiellen, lyrischen Störungen berühren nüchtern oszillierend die Normalität des Betrachtens.
So deutlich und wichtig wie kaum je zuvor scheint LE HAVRE ein unbedingtes Plädoyer zu sein für den Versuch der Verwirklichung eines eigenen, menschenmöglichen Traumes und das notwendige, aber würdevolle Einwirken auf die Welt, diesen zu Erreichen. Marcel Marx, der erfolglose Autor (aus LA VIE DE BOHÈME, R: Aki Kaurismäki, F/G/S/FIN 1992) praktiziert ein entschlossenes, leidenschaftliches Festhalten an dem Traum, der ihm das Leben möglich macht: Poetischer, verzweifelter Glaube an das Gute, die Liebe, die schöne Seite der Menschlichkeit, der wahr macht, was er kann und wunschdenkend überlagert, was unerträglich und unvermeidlich ist.
Doch kommt dieser neopoetisch-realistische Puppentheater-Märchenfilm letztlich nur dank seiner idealistischen Herzenswärme aus einem kleinbürgerlich eingerichteten Mief idealistischen Nebels heraus, jenem der Verbindung von Bourgoisie und Bohémian. Auch bejaht diese Wieder-Hinwendung des Finnen zu Frankreich als Ort filmischen Geschehens erneut, was schon aus der Ferne auszumachen ist: Die alte, sozialkritisch-lebenskulturelle Verbindung, deren Kinder des Olymp im Hafennebel oder unter den Dächern von Paris vor sich hin dösten, lange bevor der Tag anbrach. Es ist die Anknüpfung Kaurismäkis an den sogenannten poetischen Realismus französischer Regisseure der 1930er Jahre, die hier zu einem neu belebten, trocken wie leuchtend gestalteten Neo-Manifest seines eigenen Stils aufflammt. Die Analogien liegen etwa im ebenbürtigen, sympathisierenden Blick auf die Benachteiligten und der schmerzbewussten Aufmerksamkeit gegenüber sozialen Problemen wie auch in der deutlichen Positionierung zum Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, sowie grundlegend in einer, wenn auch stilistisch jeweils sehr differierenden, phantastisch-parabelhaften filmischen Gestaltung der inhaltlichen Motive. Der aktuelle Bezug politischer, wirtschaftlicher und moralischer Krisen zu den 1930er Jahren, auch als Auslöser von Migration, birgt weitere Wurzeln. Kati Outinen schließlich wird hier mit dem Figurennamen Arletty geehrt: Dieser verweist namentlich wie mimisch-ikonisch auf die Schauspielerin, Stenotypistin, Mannequin und Revuetänzerin Arletty, eigentlich Léonie Marie Julie Bathiat, die ein Star in Filmen des sogenannten poetischen Realismus wie LE JOUR SE LÈVE (R: Marcel Carné, F, 1939) oder HOTEL DU NORD (R: Marcel Carné, F, 1938) war.
Andreas Michel
LE HAVRE. Buch, Regie: Aki Kaurismäki. Finnland, Frankreich, Deutschland 2011.
Darsteller: André Wilms (Marcel Marx), Kati Outinen (Arletty), Blondin Miguel (Idrissa), Jean-Pierre Darrousin (Kommissar Monet) etc.
Länge: 94 Minuten.
Anbieter: Pandora Film.
Keine Extras.
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