Grindhouse-Nachlese Oktober 2015 – Hexen und Zombies made in spain

Cinema Quadrat, Mannheim, 31. Oktober 2015:

"Blutmesse für den Teufel" / "El espanto surge de la tumba", Spanien 1973, Regie: Carlos Aured

"Die Nacht der reitenden Leichen" / "La noche des terror ciego", Spanien 1971, Regie: Amando de Ossorio
 


Halloween: Diese Nacht zum Ausgang des Oktobers, alte keltische Feier, in der die Iren mit ihren Kürbissen die umherwandelnden Geister der Verstorbenen erschrecken, um dann amerikanischen Candy einzusammeln… Halloween: Unheimlichkeit allerorten, auch im Kino. Auch in Spanien. Wobei es dort natürlich nochmal extra dicke kommt. Weil in den 1970ern dort der Horror ohnehin Teil des Alltags ist: Franco ist noch immer am Ruder, ein faschistisches Regime mitten in Europa. Eine Wunde, aus der man schöpfen kann, filmisch: Denn da ist noch eine andere Wunde, vielleicht fast verheilt, die man aber aufreißen kann – die spanische Inquisition, eine andere, lang vergangene Form autoritärer, gewalttätiger Repression. Ach, was nun aber, wenn diese üble Vergangenheit in die üble Gegenwart hineingreift? Da kann man sicherlich historico-soziologisch eine Menge aufarbeiten, was den spanischen Horrorfilm so besonders macht, diese irre Mischung aus nackigen Frauen und grausligen Untoten, diese katholischen Urgründe und die rot-rohe Blutrünstigkeit…

"Blutmesse für den Teufel" ist ein ziemlich treffender Titel – doch der Film beginnt im 15. Jahrhundert. Ein paar fackeltragende Reiter, ein Ochsengespann, ein Wagen mit Mann und Frau. Ein Baum, uralt, knorrig, und ein Urteil: Hexerei, Pakt mit dem Teufel, Bluttrinken, Kannibalismus – die beiden Delinquenten werden getötet. Ihm wird der Kopf abgeschlagen, der weit weg vom Körper begraben werden soll, sie wird verkehrt herum aufgehängt, nackt – das erste Mal Nacktheit in diesem Film. Vor der Exekution: Ein Fluch. Denn der Ankläger ist sein Bruder, der Henker dessen Freund, und diese beiden und ihre Nachkommen will der Verurteilte für alle Zeiten heimsuchen - - -

Jetztzeit. Zwei Pärchen. Bisschen Liebesgetingel. Und eine Séance, ach, da wackelt der Tisch, und das Medium, einealte Frau, die wie ein Medium aussieht, fällt fast in Ohnmacht, weil da dieser geisterhafte Kopf des alten Alaric durch die Luft schwebt… In dem haben wir längst Paul Naschy erkannt, der sonst so gerne den Wolfsmenschen Waldemar spielt: Hier aber in einer Doppelrolle, denn er spielt auch Hugo, den Nachfahren des verfluchten Bruders des Hexenmeisters, im heutigen Paris… Sein Freund Maurice übrigens – dessen Vorfahr wurde anno dunnemals auch verflucht. Jetzt ist er Maler, und er sieht immer nur in seinen kreativen Visionen dieses grässliche Gesicht des eifernden, geifernden Satanisten… Huch, was schreckliches Gemälde!

Man muss dem auf den Grund gehen, fährt in die tiefe Provinz, in die alte Heimat, wo Hugos Herrenhaus steht. Unterwegs Wegelagerer – offenbar sind wir trotz modernem Ambiente in einer mittelalterlichen Gesellschaft. Und Lynchjustiz: Die beiden Räuber werden von herbeieilenden Dorfbewohnern kurzerhand gehenkt – offenbar lebt die Grausamkeit der Inquisition weiter. Im Herrenhaus der Hausmeister und seine beiden hübschen jungen Töchter, ein bisschen verwirrt sich das Ganze jetzt mit diversen Liebesszenen, weil wenn man Frauen am Set hat, dann sollen sie sich auch ausziehen, sonst bringt das ja nichts. Zwischendurch gräbt man an einer Klosterruine nach dem abgeschlagenen Kopf von Alaric. Findet eine Kiste, die als Büchse der Pandora nur Leid bringt, wenn man sie öffnet. Was irgendwelche Dorfdeppen natürlich alsbald tun, weil sie darinnen Gold vermuten. Den Hausmeister kostet's das Leben, den beiden Dorfdeppen geht’s bald auch nicht mehr so gut, alle werden nonchalant im sumpfigen See versenkt. Leider sind jetzt Kopf und Körper wieder vereinigt, und der olle Graf hat ersteht auf und hat wieder telepathisch-hypnotische Macht. Hausmeisters Töchterchen in der Küche wird niedergemetzelt, während sie sich auch noch ausziehen muss. Und diverse Frauen werden entführt, was zu einem feinen Wiedererweckungsritual führt: In einem Sarg nämlich die Knochen von Old-Alarics Geliebter; darauf muss sich das lebendige Fleisch einer feschen Dame legen, die dann vom untoten Grafen betatscht und entkleidet wird, dann bestiegen, in einem Zeugungsakt wird das Leben von der einen in die skelettierte Andere gepumpt – schön und nackt steht die tote Geliebte auf, und nun geht’s auf Verführungs- und Tötungsfeldzug ins Dorf.

Inzwischen steht auch Maurice unter Alarics Bann, aber das weiß Hugo noch nicht; was sich kompliziert anhört, läuft auf einen dollen Punkt hinaus: Nachdem eines Abends die Zombies dem See entstiegen sind (jaja, Zombies gibt es auch, irgendwas muss man ja machen mit den Toten) und unsere Helden böse bedroht haben – eine Menge Möbel mussten brennen, um sie zu verscheuchen –, taucht der vermisste Maurice auf. Nun, am Morgen, wollen er und Hugo die Toten aus dem See holen und entzombieisieren. Aber oh Schreck: der böse gewordene Maurice erschießt seinen Freund Hugo! Ein Wechsel der Hauptperson im Stück, ganz plötzlich – und ja klar, das hat seinen Grund: Sowohl der gute Hugo als auch der böse Alaric: Das ist ja beides Paul Naschy. Und im Endkampf kann er ja wohl schlecht gegen sich selbst kämpfen, was? Soviel Tricktechnik kriegt man nicht hin, und nachdem sich ein paar weitere Fräuleins ausgezogen haben, weiß Maurice, der übrigens jetzt wieder zu den Guten gehört, wie er dem untoten Bösewicht beikommen kann: Im Brunnen dieses alte Amulett mit Thor-Runen (!), das kann Alaric samt Geliebter gar nicht ab. Und während es bei ihr genügt, ihr eine Silbernadel ins Herz zu stechen, muss Alaric, um ihn zu überwinden, das Amulett auf die Stirn gelegt werden. "Der Glaube ist auf unserer Seite!", weiß Maurice, weil er dem hypnotischen Bann entkommen ist. Zusammen mit Hugos Frauchen stellt er sich den Bösewichtern, Silberstift und Amulett bei der Hand, irgendwann sind ganz viele tot, aber die Bösen auch. Paul Naschy brennt. Und wir sind glücklich, dass Runen uns helfen gegen untote Satansmeister, und dass die Inquisition ganz im Sinne Lars von Triers recht hat mit all den Hexenverbrennungen.

Paul Naschy hat das Drehbuch – angeblich – in einer Nacht runtergehauen, unter dem Einfluss gewisser Substanzen. Das spricht mehr als alles andere dafür, dass sich hier etwas losbrechen musste, die tiefen Traumata, die hier miteinander vergoren und verpanscht werden – da ist der Volksseele etwas aufgebürdet, was sich nicht recht loswerden lässt und nun mit filmischem Popanz gebannt werden soll. Die Grausamkeit der Vergangenheit, die Gegenwart, die vergrausamt wird – womit wir zum nächsten Film kommen. Den vielleicht der eine oder die andere schon kennt. Weil er auch schon im Fernsehen lief.

Wobei nach wie vor unklar bleibt, wo denn die Pferde herkommen. Andererseits: Ritter ohne Pferde, das geht natürlich gar nicht! (Gruß an die Pythons zum 40. "Holy Grail"-Jubiläum!) Und um Ritter geht es hier natürlich, um Tempelritter, legendenumrankte Weltherrschaftsaspiranten, Großverschwörer, Machtansammler: Aus den Kreuzzügen kommen sie, um ihre Herrschaft durchzusetzen, eine Herrschaft, die noch bis ins Heute wirkt. Denn sie haben das Geheimnis ewigen Lebens entdeckt, Jungfrauenblut ist eine Hauptzutat, ewige Jugend ist aber nicht Teil des Ergebnisses… Und so steigen sie aus ihren Gräbern, jede Nacht ist die "Nacht der reitenden Leichen"!

In diesem Film geht es also ebenfalls und wiederum um die ins Zerstörerische gewendete Macht eines ewigen Katholizismus, einer immerwährenden, immer neu aufbrechenden Unterdrückungs- und Gewaltmaschinerie. In Form von Zombies natürlich. Zombies auf Pferden. Und es geht um eine rigide Sexualmoral, die allerlei innere Neurosen und Hemmnisse bewirkt, eine Moralstrenge, die total lebensfeindlich ist. Das wäre natürlich Anlass, Nackedeis zu zeigen, doch Amando de Ossorio versagt sich das weitgehend in seinem Film.

Obwohl er durchaus in Verführung hätte geraten können: Beginnt er doch in einem Schwimmbad, eine Schönheit unter der Dusche neben dem Becken, bevor sie eine alte Schulfreundin sieht, die sich in der Sonne räkelt… Beiden ist die Begegnung etwas unangenehm, unbehagliche Erinnerungen an das Früher scheinen irgendwie mitzuschwingen, die Unterhaltung zeigt frühere Verbundenheit ebenso wie oberflächliche Unverbindlichkeit, bis Roger auftritt, seines Zeichens Macker und Stecher und von sich überzeugt. Er ist der Freund von Virginia, der unschuldigen Dame, die hier von Bella angesprochen wurde: Virginia und Roger planen einen Kurzurlaub, auf Rogers Drängen kommt Bella mit, ein schiefes, unharmonisches Dreieck, wie sich herausstellt. Weil Virginia eher verhuscht ist, und Bella nicht mit ihren Reizen geizt, und Roger sowieso aufgeschlossen ist für alles. Und weil diese Rückblende das Früher zeigt, als Bella und Virginia in der Klosterschule ein Zimmer teilten, und als Bella Virginia zu verführen suchte… Auch dies recht zurückhaltend gefilmt übrigens, es ist wahrscheinlich noch der Frühzeit des Nacktheitskinos geschuldet, dass hier nicht allzu viel Haut zu sehen ist. Tut aber dem Film gut, denn der ist von erstaunlich hoher Qualität, was Spannung und Dramaturgie angeht – zumal damals, Anfang der 1970er, ja all die Stereotypen und Standards erst mal etabliert wurden, so dass dieser hier weniger epigonisch denn vorbildhaft erscheint; auch, wenn die meisten filmischen Situationen inzwischen nun auch schon etliche Male durchgekaut wurden.

Noch aber ist nichts passiert außer im zwischenmenschlichen Bereich: Bella, Virginia und Roger sind unterwegs per Bahn, und weil Roger heftig mit Bella anbandelt, und weil Virginia sich schämt ob ihrer früheren Bindung zu Bella, ein paar giftige Blicke, ein bisschen Schmollen, und hops packt sie sich ihr Reisetäschchen und springt aus dem Zug. Der Lokführer und der Heizer (jawohl: Dampflok! Gute alte Zeit…) sind besorgt – denn gerade sind sie an diesem Ruinendorf vorbeigefahren, das hinten in der Ferne von einem kleinen Berge dräut… Weil wir mitten im Nirgendwo sind, wandert die junge Dame in die Ruine, wo sie sich ein Nachtlager einrichtet. Und in der Nacht, da wackeln die Grabsteine, da trappelt es wie von tausend Pferdehufen, da brechen die Hände durch die Erde durch – zerfledderte, zerlumpte Gestalten machen sich auf, sie spüren jedem Geräusch nach: Später erfahren wir, dass sie blind sind, sie wurden durch Blendung gestraft, als der Templerorden aufgelöst wurde… Nach einer kurzen Jagd holen die Reiter das Fräulein ein, zu Pferde, auf freiem Feld, und sie stürzen sich auf sie…

Was natürlich die Polizei auf den Plan ruft. Eine Leiche auf dem Feld – das muss der Herr Kommissar am nächsten Morgen untersuchen. Aber natürlich ist nichts mehr zu finden… In der Leichenhalle dann wieder Bella und Roger, zur Identifizierung – und zur filmischen Einführung dieses Faktotums, so was wie der Hausmeister in der Pathologie, der mit sichtlicher Lust erstmal die falsche Leiche vorzeigt, haha, reingelegt! Der im Übrigen ein Fröschlein sein eigen nennt in einem Glas, in einem Käfig einen Vogel hat. Und nachts nicht merkt, wie hinter ihm sich das Leichentuch bewegt – das war's dann für ihn, Virginia ist wieder da. Und macht sich auch noch an Bellas Mitarbeiterin in deren Fabrik für Schaufensterpuppen her. Die liegt übrigens direkt neben einem Friedhof, was aber nichts zur Sache tut, denn das Grauen kommt aus dem Mittelalter. Die tote Virginia schleicht zwischen den Puppen umher, und wir lernen: Zombies brennen lichterloh.

Bella und Roger forschen nach. Ein alter Professor ist kurz angebunden, was seinen Sohn angeht, der ist nämlich Schmuggler und von daher prädestiniert für eine weitere Nacht in der Ruine. Zusammen mit seiner eifersüchtigen Freundin. Die fängt alsbald Streit mit Roger an, während Bella auf dem Templerfriedhof von dem Herrn Schmuggler vergewaltigt wird. Der ist nämlich dauergeil. Zumindest solange, bis wieder die Grabsteine wackeln…

Die Vergewaltigung macht Bella erstaunlich wenig aus, das liegt aber wohl eher daran, dass der Film jetzt zu einem Ende kommen soll. Und dass er jetzt schon ziemlich alles gesagt hat über unterdrückte, ausbrechende, begehrende und/oder gewalttätige Sexualität. Und natürlich über die Mittelalter-Monster, die wir in einer Rückblende eine blonde Maid zerbeißen sehen, im Rahmen des Ewiges-Leben-Rituals… Leben: Das ist halt ein kostbares Gut, der Heizer bemüht sich deshalb, die fliehende Bella zu retten, auf Kosten eines ganzen Zuges voller Menschenleben – ein schöner, abgründiger Schluss offeriert uns dieser Film, wie es nur die Großen unter den Horrorfilmen – Polanski mit tanzenden Vampiren oder Rosemarys Nachwuchs, Romero mit seinen Friedhofszombies wenige Jahre vor, Herzog/Kinskis Vampir einige Jahre nach den reitenden Leichen – zum Besten geben.


Harald Mühlbeyer

Filmkritik: "Spectre" (2015)

Big (Step-)Brother is watching you


Was für ein Anfang, was für eine Entwicklung von Bond: In der eleganten, ungeschnittenen Brian-De-Palma-artigen Eröffnungssequenz von "Spectre" gleitet Daniel Craig alias 007 behände wie eine Katze über Straßen, Flure, Dächer von Mexico City – als wären scheinbar zufällig in die Baulandschaft gesetzte Mauern, Winkel, Stüfchen nur für ihn gemacht. Dieser Bond ist elegant, nonchalant, smart, ein perfektes Chamäleon in seiner Umgebung, die er sich anverwandelt, unterordnet. Das totale Gegenteil zu Craigs Einstand als ungeschlachter Killer in "Casino Royale", wo er immer eine Spur ungelenker und berserkerhafter als ein "Parkour"-Artist selbigem hinterherhetzte und lieber alles brutal kaputtmachte, statt wie der Verfolgte die Umgebung als natürliche Hindernisse zu betrachten, die es geschickt zu überwinden galt. Von ähnlicher fließender Eleganz ist eine spätere Auto-Verfolgungsjagd in Rom, bei der fast nichts kaputtgeht und Bonds neuer Aston Martin wie ein Spielzeug für das Kind im Manne durch die engen Gässchen und am Tiber entlang – gleitet statt brettert. Dazu Gadgets, die nicht immer so wollen wie Bond und für eine komisch-verspielte Note sorgen (der Anti-Film ist insoweit "Goldeneye", in dem Bonds BMW keine Tricks aufbietet und reines Product Placement ist und in dem Pierce Brosnan stattdessen mit einem geklauten Panzer halb Sankt Petersburg in Schutt und Asche legt).

Man merkt, Bond hat was gelernt – aber Regisseur Sam Mendes nutzt dies in 
seinem zweiten Bond in Folge nicht etwa, um zu einem allzu verspielten Roger-Moore-Stil zurückzukehren, sondern um diesen Bond ausgerechnet da zu erwischen, wo er noch nicht so smart geworden ist: in seinem Kopf. Insoweit eine konsequente Entwicklung und ein stimmiges Aufeinandertreffen von Gegensätzen, die den Helden darum umso härter treffen. Dieser Mann, der scheinbar gelernt hat, alles mühelos zu bewältigen, der hat dennoch ein verbleibendes Riesenproblem. Und es gibt einen Superschurken, der sich dies zunutze macht: Ernst Stavro Blofeld, der jedoch zunächst nicht so heißt (Christoph Waltz). Nebenbei möchte dieser bewirken, dass sich die Geheimdienste von neun Nationen vernetzen, natürlich unter seiner Kontrolle. Bond-Filme waren schon immer gut darin, aktuelle Themen aufzugreifen (woraus sie dann gelegentlich herrlichen Blödsinn entwickelten, wie etwa bei "Der Mann mit dem goldenen Colt", der lose an die 1974er Ölkrise anknüpfte). Jetzt also die Gefahren von Big Data. Dass man zu einer stärkeren Geheimdienstvernetzung bereit ist, wenn in einem Land ein Anschlag passiert – da war dieser Film sogar aktueller, als er wissen konnte und als ihm lieb war. Aber keine Sorge: Weil Fiese und Gute, die wie bekloppt auf Computertastaturen um die Wette herumtippen, filmisch ziemlich unsexy sind, gibt es noch genug nichtvirtuelle, spektakuläre, teils herrlich bond-typisch hanebüchen-absurde und nicht immer ganz logische Action (nur ein Beispiel: Warum fliegt der Hubschrauber, den Bond am Ende mit einem Motorboot verfolgt, nicht einfach höher?). Mendes verknüpft dies geschickt mit seiner Geschichte einerseits und mit den Erwartungen an einen Bond andererseits, die es zu erfüllen, aber auch zu variieren und zu erweitern gilt. Dies ist ihm gelungen.
Blofeld möchte zum Big Brother werden, der den Menschen in ihr Innerstes schaut, und er malträtiert grad Bond eher psychisch als physisch, von dem er viel weiß, dessen Schwächen er kennt und nicht nur ausnutzt, sondern ganz gezielt einsetzt, um ihn seelisch zu quälen. Er möchte Big Brother sein und ist auch Big Stepbrother von Bond, in echt jetzt! Er hat ein Foltergerät. Das ist hübsch verspielt, hochfein und hochtechnologisch und nicht mehr so archaisch roh wie in der Folterszene aus "Casino Royale". Und es wird Bond nicht (wie in "Casino Royale", aber auch der Laserstrahl in "Goldfinger") in seiner Libido bedrohen, sondern sich im wahren und im übertragenen Sinne in seinen Kopf, sein Hirn, seine Erinnerungen, seine Vergangenheit, seine Seele bohren. Obwohl die Szene äußerlich viel weniger brutal als die Folterung in "Casino Royale" ist, schmerzt sie intensiv, ist aber auch von der kreativen Technikverliebtheit, die Bond-Schurken ureigen ist. Hier gelingt Mendes eine Verbindung aus Kult und Emotion auf höchstem Niveau.

Dies ist auch ansonsten der Fall, in einem durchstilisierten Film des stilbewusst inszenierenden Sam Mendes. Ich habe bei diesem längsten Bond, den es je gab, keine Minute Langeweile empfunden, zumal es auch in den ruhigeren Szenen viel Interessantes zu erzählen gibt (und wir froh sein können, dass das Dauerfeuer zu irrer Schnittgeschwindigkeit eines "Ein Quantum Trost" nicht wiederaufgegriffen wurde). Und Skurriles! Das kam bei Bond schon öfter vor, aber noch nie so gewagt und so souverän, wie hier die Zwiesprache Bonds mit einer Maus (!) die Lösung voranbringt (ganz nebenbei mag dies eine Hommage an eine zum Ärger von Billy Wilder nie gedrehte Zwiesprache mit einer Kakerlake aus "Das Goldene Tor", 1940, sein). Bond scheint schon etwas gaga, wenn er das Tier bedroht, als wäre es der Feind. Aber dies scheint mir nicht nur ein weiteres Zeichen für Bonds Verwundbarkeit, sondern auch ein Hinweis, dass nur leicht Verrückte in einer mehr als nur leicht verrückten Welt bestehen können.

Abgesehen von derartigen Extravaganzen löst sich Mendes nicht zu weit vom Gesetz der Serie. Da dürfen ein paar Anspielungen auf frühere Bonds gern vorkommen: Der mexikanische dia de las muertes erinnert an Rituale in New Orleans und auf San Monique ("Leben und sterben lassen"). Dass ein Hüne von Gegner seine schrecklichen Fähigkeiten zunächst vor Bond demonstriert, kennen wir aus "Goldfinger" (mit dem Kreissägenhut geköpfte Statue), "Leben und sterben lassen" (von der Stahlklaue zerquetschte Walther PPK) und "Octopussy" (mit der bloßen Hand zu Staub zerquetschte Backgammon-Würfel). Und natürlich vom "Beißer", der sich z.B. in "Der Spion, der mich liebte" mit Bond in einem Zug prügelte, was nun wieder aufgegriffen wurde (die Ur-Zug-Prügelszene findet sich aber in "Liebesgrüße aus Moskau"). Nach einem gefährlichen Abenteuer kommt Bond in einem Niemandsland an, in dem er schon vom Schurken erwartet wird – geradezu märchenhaft geschah dies in "Moonraker"; nun wird er märchenhaft elegant mit einem 1948er Rolls Royce mitten in der Wüste abgeholt. Mendes hat ein Gespür für "unmögliche Orte", die vielen Bonds eigen waren und oft aus Elementen bestehen, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen. Blofeld bringt Bond dann zu einem kartographisch unauffindbaren Domizil, das z.T. als Krater getarnt ist – siehe "Man lebt nur zweimal".

Zu diesem Film wird es übrigens noch eine direkte inhaltliche Verbindung geben – erinnern Sie sich an die schreckliche Narbe, die die Maske damals Donald Pleasance alias Blofeld verpasst hatte? Hier erfahren wir, wie sie entstanden ist. Den zeitlichen Anachronismus seit "Casino Royale" führt Mendes konsequent fort: Alle Craig-Bonds spielen in der Jetzt-Zeit und bedienen sich modernster Accessoires und Technik – aber sie spielen auch in der Vergangenheit und erklären, wie Bond zu dem wurde, was er ist. Sie dringen weiter zu Bonds Wurzeln vor, so wie Blofeld mit und ohne Foltergerät in seinen Kopf eindringt.

Diesmal dringt man auch zu Blofelds Wurzeln vor, der bereits in mehreren Bonds der Superschurke war, bevor er in dem netten, aber auch etwas albernen "Diamantenfieber" eher unspektakulär ums Leben kam. Doch immerhin leitet er das weltweite Verbrecher- und Terrornetzwerk "Spectre", welches in nicht weniger als sechs alten Bond-Filmen immer gewaltigere Masterpläne schmiedete, bis Blofeld in "Diamantenfieber" die Welt zur totalen Abrüstung erpressen und selbst beherrschen wollte. Schon damals keine kleinen Brötchen – und wie monströs groß sie schon immer waren, können wir nun erfahren. Von äußerlichen Zitaten einmal abgesehen, baut Mendes auch die Geschichte auf früheren Bonds auf, vor allem auf denjenigen mit Daniel Craig. Auch dies ist stringent, weil diese Filme eine konsequente Entwicklung des ungeschliffenen Rohdiamanten Bond zeigen und teils inhaltlich stärker zusammenhängen als frühere Filme (vor allem die ersten beiden, "Casino Royale" und "Ein Quantum Trost", der erstmals in der Serie eine direkte Fortsetzung war). Es wird sich zeigen, dass Blofeld die heimlich lenkende Hand hinter allen Geschehnissen der drei Craig-Bonds war. Und da passierte Bond und mit Bond so einiges, was unter die Oberfläche ging. Beispielsweise war es in "Casino Royale" das erste Mal seit "Im Geheimdienst ihrer Majestät", dass ihm eine Frau wieder etwas bedeutete, nämlich Vesper Lynd. Und hinter dem für Bond-Puristen ungehörigen Satz "Die Schlampe ist tot" verbarg sich in Wirklichkeit ein tiefer Schmerz. Wir werden wieder von Vesper hören. Und Bond auch. Tiefen Schmerz zuzufügen, das versteht Blofeld, der zu einer wahrhaft unheimlichen und ungeheuer peinigenden Nemesis unseres Helden wird. Einer, die gerade wegen der ruhig-überlegt-überlegenen Art des optisch eher unscheinbaren Christoph Waltz umso beängstigender ist.

Was wird daraus werden? Ein Bruderzwist Shakespeare'schen Ausmaßes? Man darf gespannt sein: Weil Blofeld als späterer Blofeld in früheren Bonds auftaucht, ist klar, dass der Schurke diesmal nicht sterben wird. Nette Idee, ihn in Beamtenkorrektheit "gemäß des Gesetzes XY" verhaften zu lassen (liebe deutsche Synchronautoren: Es heißt "gemäß DEM Gesetz", nur mal nebenbei). So einem kommt man mit Beamtenkorrektheit natürlich nicht bei. Aber das wird der nächste Film erzählen.

Bei aller stilsicheren Brillanz zwischen Seriengesetz und Arthouse, bei allem Geschick in der Auswahl "unmöglicher" Orte und Settings, bei allen gewohnt spektakulären Actionszenen fallen jedoch zwei Dinge auf: Sam Mendes mag offensichtlich einen geringen Grad an Tiefenschärfe, und er tut sich immer noch etwas schwer mit der obligatorischen Erotik.
Ersteres führt dazu, dass oft auch Personen, die nur in geringer Entfernung zu einer anderen Person stehen und z.B. von hinten einen großen Teil des Bildes füllen, nicht scharf zu sehen sind. Kann man machen und entspricht auch dem Unvermögen des menschlichen Auges, alles gleichzeitig scharf zu sehen. Aber die Leinwand ist nun mal zweidimensional und verschafft dem Auge einen Gesamtüberblick, wie es ihn in der Realität nicht gibt. Anders gesagt: Man sieht dasjenige, worauf man sich in der Realität nicht konzentriert, nicht unscharf, sondern man sieht es gar nicht. Anders beim Blick auf die Kinoleinwand, weswegen ich Tiefenschärfe als Mittel zum besten Gesamtüberblick und zur Möglichkeit, sich selbst auszusuchen, was man fokussiert, lieber mag (nach André Bazin ist Tiefenschärfe daher der objektivste Filmblick, was Meister der Mise-en-scène wie William Wyler und Orson Welles gern genutzt, aber mit nicht neutralen Bild(kom)positionen kombiniert haben).
Letztlich lässt sich aber auch hiermit gut leben, außer in einer Szene: Da trifft Bond auf die schöne Lucia Sciarra (Monica Belluci), die er zur Witwe gemacht hat. Er geht auf sie zu. Aus seiner Sicht ist alles scharf. Aus der Gegensicht ist nur Lucia scharf, alles andere verschwimmt, und selbst als Bond schon genau hinter ihr steht, ist er noch leicht unscharf. Das Ganze ein paarmal im Schuss-Gegenschuss-Verfahren hin und her. Ein Mendes überlässt eigentlich nichts dem Zufall, aber hier ist mir schlicht nicht klar, was das soll. Mangelnde Tiefenschärfe ist gelegentlich ein Stilmittel, um das gestörte Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung darzustellen, die vor ihren Augen verschwimmt – sie wirken isoliert. Und das könnte auf die Frau durchaus zutreffen. Aber warum dann nur "von einer Seite"? Vielleicht, weil Bond (der ja auch sonst mit seiner Umgebung verschmilzt, s.o.) sie klar sieht, aber Lucia noch derangiert ist, sodass Bond sich ihr zunächst kaum annähern kann? Rätsel bleiben, denn natürlich wird Bond schnell mehr als nur sich annähern: Er geht mit der guten Dame ins Bett, nachdem er seine Beschützersprüche geklopft hat.
Hier hatte ich den Eindruck, die Produzentin hätte Mendes irgendwann mal gesteckt, dass Bond pro Film nicht nur eine einzige Frau flachlegen darf, und der Mann hat das dann pflichtschuldig statt leidenschaftlich abgedreht. Die geheimnisvolle Frau "mit Vergangenheit" (zum Glück sieht Belluci sehr schön, aber kein bisschen jünger aus, als sie ist), die Verbindung mit dem Bösen und der Flirt mit dem Guten – eigentlich Standardzutaten. Aber Mendes interessiert mehr das "Davor" als das "Währenddessen" – und das "Danach" schon gar nicht: Lucia verschwindet einfach aus der Geschichte. Sie hat ein kurzes Gastspiel, und der Film interessiert sich nicht sonderlich für sie. Schade! Ein unmotivierter Einschub, fast ein Fremdkörper im Film. Léa Seydoux alias Madeleine Swann hat es da schon besser, und man merkt, dass Bond sie nicht nur anziehend findet, sondern dass so etwas wie Liebe zwischen den beiden entsteht. Bemerkenswerterweise lässt sie ihn – zunächst – nicht an sich heran, jetzt wo er wirklich will und nicht mal eben, wie in der Eröffnungssequenz, eine Frau, die er sofort haben kann, stehen lässt, "Ich muss nur mal kurz die Welt retten". Hier zahlt sich die Erotikverweigerung einmal aus. Zumal es nicht bei ihr bleiben wird…


Fazit: Bis auf sehr kleine Ausnahmen stimmt alles. Stringente Handlung und Entwicklung, wobei Bonds neue und konsequent weiter geführte Ernsthaftigkeit nicht allzu bleischwer auf dem ganzen Film lastet. Das ist ein echter Bond mit Neuem, aber auch mit allem Alten, was dazugehört, inklusive der obligatorischen humorvollen Einzeiler, aber ohne Klamauk. Und mit einer interessanten Weiterentwicklung von Moneypenny und Q sowie einem neuen M, in dessen Rolle Ralph Fiennes uns lange erhalten bleiben möge. Bond hat seit 1962 viele Gesichter gehabt und viele Erwartungshaltungen geweckt. "Spectre" hat das Potenzial, sie alle zu erfüllen.

Tonio Klein


"Spectre", Großbritannien/USA 2015
Regie: Sam Mendes
Drehbuch: John Logan, Neal Purvis, Robert Wade, Jez Butterworth
Kamera: Hoyte van Hoytema
Musik: Thomas Newman
Produktion: Barbara Broccoli, Michael G. Wilson
Darsteller: Daniel Craig (James Bond), Christoph Waltz (Blofeld), Léa Seydoux (Madeleine Swann), Andrew Scott (Max Debigh, "C") Ralph Fiennes (M), Ben Wishaw (Q), Naomie Harris (Eve Moneypenny), Monica Bellucci (Lucia Sciarra)
Länge: 148 Minuten
Verleih: Sony
Kinostart: 5. November 2015

Alle Abbildungen (c) Sony Pictures