Eastern Promises - Go East-Festival 2009

Das Wiesbadener Filmfestival Go East leistet nachhaltige Pionierarbeit für das ost- und mitteleuropäische Kino

von Dennis Vetter



Eines hat sich in den zwei letzten Wochen wieder einmal bestätigt: Wer von dem ewig gleichen Einheitsbrei hiesiger Kinoketten nur noch angeödet wird und sich bei Kaufhauscops oder inhaltsleeren Effektknallfröschen bloß noch langweilt, der kommt heutzutage an einem Blick gen Osten nicht mehr vorbei. Dass der suchende Blick des Kinofans dabei nicht immer bis zur ‚Monsterinsel’ Japan reichen muss, bewies bereits drei Tage nach dem Ende der diesjährigen Nippon Connection die ebenfalls neunte Ausgabe des Go East-Festivals im schönen Wiesbaden. Denn hier präsentierte sich die ganze Vielfalt des Filmschaffens Mittel- und Osteuropas, das trotz seines Ideenreichtums, seiner bewegenden Themen und seiner visuellen Brillanz in Deutschland leider nur eine verschwindend geringe Präsenz besitzt.

Wenn hierzulande überhaupt ein Hauch des osteuropäischen Films die Kinoleinwände berührt, dann ein kaum spürbarer. Lediglich Großproduktionen wie WÄCHTER DER NACHT, die sich beinahe ganz den US-amerikanischen Sehgewohnheiten unterworfen haben und somit kaum noch individuellen Charme besitzen, schaffen den Weg in die westliche Kinokultur, ins Land der visuellen Gleichschaltung, und können nicht mehr als eine Ahnung der Tiefe ihrer zu Hause gebliebenen Verwandten vermitteln, die wir zum Großteil niemals im Kino erleben werden. Fast nie.
Vom 22. bis zum 28. April wurde in Wiesbaden mit 110 Kurz- und Langfilmen und somit einem umfangreichen Mix aus aktuellen Filmproduktionen und Meisterwerken vergangener Tage spürbar gemacht, wie bereichernd eine größere Offenheit der Kinoindustrie nach Osten für das Publikum sein könnte und wie gut es einige Filmemacher unserer Nachbarländer verstehen, anspruchsvolle Inhalte mit einer individuellen Handschrift zu verbinden.

I. Ring frei


Den Kern eines jeden Festivals bildet natürlich der Wettbewerb, wo sich die Crème de la Crème aktueller Produktionen begegnet. Dieser Bereich war im Fall des Go East-Festivals mit sechs Dokumentar- und zehn Spielfilmen üppig besetzt und eine internationale Festivaljury wählte in verschiedenen Kategorien mehrere Preisträger. Unter dem Vorsitz des renommierten polnischen Schauspielers und Regisseurs Jerzy Stuhr wurden unter anderem zwei mit jeweils 10.000 Euro dotierte Hauptpreise vergeben.

Der von Skoda gestiftete Preis ‚Die Goldene Lilie’ für den besten Film ging an den Spielfilm DAS ANDERE UFER / GAGMA NAPIRI (Georgien / Kasachstan 2009) von George Ovashvili, der auch mit dem Preis der internationalen Filmkritik (FIPRESCI-Preis) bedacht wurde. Das sensible Drama zeigt die Geschichte mehrerer georgischer Flüchtlingskinder, welche in der durch Krisen und militärische Konflikte gezeichneten Kaukasus-Region auf der Suche nach Heimat und vor allem nach einer Zukunft jenseits von Kriminalität und Landstreichertum sind. Durch eindrucksvolle Jungschauspieler, schonungslose Kritik und eine geradezu erdrückende Melancholie macht der zutiefst humanistische Film neugierig auf die kulturellen Kontexte der portraitierten Geschehnisse und zeigt somit abseits vom heute verbreiteten, postmodernen Ästhetizismus, dass das Kino nach wie vor Substanz und vor allem politische Relevanz besitzt, ein greifbares Zeugnis der Kultur ist und mehr denn je gebraucht wird, um neben den nüchternen, allgegenwärtigen Fakten und sterilen Nachrichtenbildern des digitalen Zeitalters der Geschichte ihre Seele zurückzugeben.

Ebenfalls am Boden der Tatsachen orientiert war der Gewinner des ebenfalls mit 10.000 Euro dotierten Dokumentarfilmpreises „Erinnerung und Zukunft“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. ICH LIEBE POLEN / KOCHAM POLSKE (Polen 2008) ist eine kritische Betrachtung nationalistischer und reaktionärer Stimmungen in Polen und wurde von den beiden Regisseurinnen Maria Zmarz-Koczanowicz und Joanna Sławińska umgesetzt. Mit ihrer Arbeit analysieren sie eindrucksvoll schmerzhafte soziale Zustände der jüngsten Vergangenheit und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Soziopolitisch orientiert waren auch der mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnete Spielfilm VERRÜCKTE RETTUNG / SUMASŠEDŠAJA POMOŠC ( Russland 2009) von Boris Chlebnikov oder Goran Rušinovics kammerspielartige Aufarbeitung des Balkan-Krieges BUICK RIVIERA (Kroatien / Bosnien und Herzegowina / Deutschland 2008).


Neben postkommunistischen Subtexten und gesellschaftlichen Problemen, welche sich in allen Filmen mehr oder weniger ausgeprägt fanden, wurde im Wettbewerb vor allem die pure, filmische Ausdrucksstärke groß geschrieben. Eines der hypnotischsten Werke war dabei zweifellos MORPHIN / MORPHIY (Russland 2008), der neuste Film von Aleksej Balabanov, einem Enfant terrible des russischen Kinos. Im düsteren Russland von 1917 greift hier ein junger Arzt immer häufiger zu Morphium-Injektionen, um nicht an seinem privaten Scheitern und berufsbedingter Überforderung zu zerbrechen. Wahrhaft abgründiger Humor wechselt hierbei mit zutiefst erschütterndem Ernst in Form von fiebriger Klaustrophobie und derben Schlägen in die Magengrube des Zuschauers. Für seine „besondere künstlerische Originalität, die kulturelle Vielfalt schafft“ erhielt der Film den mit 2.000 Euro dotierten Preis des Auswärtigen Amts und wurde so neben den positiven Zuschauerreaktionen auch von Seiten der Jury gewürdigt.

Fesselnde Bildkompositionen bot das vom Film Noir inspirierte Regiedebüt ZIFT (Bulgarien 2008) von Javor Gardev, ein mutiger, zum Teil surrealer Trip in die bedrohlichen Fänge eines brutalen, totalitären Kommunismus. Der Protagonist des Films, Moth, ist ein Sträfling, der nach Jahren unschuldiger Haft wieder unsanft auf freien Fuß gesetzt wird und sich in einer durch und durch unwirtlichen Welt zwischen erotischen Verstrickungen und offenen Rechnungen der Vergangenheit zurechtfinden muss. Von der Jury zurecht als besonders couragiert und originell bezeichnet, präsentiert Gardev seine Vision in expressiven Schwarz-Weiß-Bildern zwischen verregneten Straßen und kalten Interieurs, die er musikalisch mit einem Wechselspiel aus treibenden Elektroklängen und feinfühligen Pianoparts hervorragend in Szene zu setzen weiß. Zu den vielen Aha-Effekten des Films tragen darüber hinaus die markante Kameraarbeit, intellektuell aufgeladene Dialoge und unkonventionelle Akzente der Montage bei.


Inhaltlich anspruchsvoll und stilistisch gewandt kam ein tschechischer Beitrag daher. DIE KARAMAZOWS / KARAMAZOVI (Tschechische Republik 2008), inszeniert von Theatergröße Petr Zelenka, präsentiert eine Schauspielertruppe, die in einem alten, polnischen Industriekomplex eine Bühnenadaption des Dostojewski-Romans „Die Brüder Karamasow“ probt. Dabei vermischt sich die Handlung des Stücks mit dem tatsächlich ablaufenden Geschehen unter den Schauspielern. Zwischen zunehmenden persönlichen Konflikten und einem unerwarteten Todesfall entfaltet sich eine komplexe Reflektion über das Verhältnis zwischen Kunst und Publikum. Der Film wurde 2008 von der Tschechischen Film- und Fernsehakademie zurecht für eine Oscar-Nominierung vorgeschlagen.

Ideenreichtum wurde auch im osteuropäischen Dokumentarfilm groß geschrieben: Mit seinem Wettbewerbsfilm BLINDE LIEBEN / SLEPÉ LÁSKY (Slowakei 2008) versucht Juraj Lehotský zu visualisieren, wie blinde Paare die Liebe erleben, was sie fühlen, wenn sie zusammen sind, was es für sie bedeutet, allein zu sein. Er verzaubert mit seinem semidokumentarischen Ausflug in eine bildlose Welt vom ersten Moment an, denn er weiß geschickt mit den eigentlich deprimierenden Schicksalen seiner Protagonisten umzugehen, Optimistisches sanft zu betonen, und inszeniert das Wechselspiel emotionaler Höhen und Tiefen auf ruhige, aber dennoch spielerische Art und Weise. So taucht der Film zwischen seinen schwermütigen Passagen unter anderem in eine völlig unvermittelt einsetzende, skurrile Stop-Motion-Sequenz ein, die die überbordende Fantasie eines der Protagonisten nicht nur erahnen lässt, sondern in ihrer ganzen Vielfalt ausbreitet. Unverhofft kommt oft: Ein interessantes Experiment, das tatsächlich funktioniert und Tragik mit einem optimistischen Augenzwinkern verbindet.

II. Das Erbe der Wende – und seine Vorboten

Der kleine Überblick zeigt beim genauen Hinsehen: Die soziale Realität nach der Wende, neue Konflikte und alte Wunden zogen sich passend zum bald 20jährigen Jubiläum des Mauerfalls als thematische Elemente durch das gesamte diesjährige Wettbewerbsprogramm und hinterließen einen nicht immer optimistischen Eindruck. Analog zu dieser vom Festivalgremium bewusst gewählten(?) thematischen Orientierung bescherte das hauseigene Go East-Symposium mit dem Titel „Winter ade. Filmische Vorboten der Wende“ besonders interessante Seherlebnisse. Zu ihrer Zeit unterschlagene, verbotene oder zensierte Fundstücke, Skandalfilme und aufschlussreiche Dokumentationen bestimmten hier das Bild und wurden erläutert von einer internationalen Abschussdiskussion. Dabei fanden nicht nur osteuropäische Beiträge Berücksichtigung: Die titelgebende Doku WINTER ADÉ (DDR 1988) von Helke Misselwitz setzt ein Jahr vor dem Mauerfall an. Sie portraitierte mit diesem wichtigen Zeitzeugnis auf offene Weise die DDR-Bevölkerung anhand mehrerer Frauenschicksale und sorgte damit zu seiner Zeit für eine Sensation in der Öffentlichkeit.


Andächtige Stille und Gänsehautfeeling stellte sich ein, als Kurator Claus Löser den Film NACHTLIED DES HUNDES / DOG’S NIGHT SONG (Ungarn 1983) des hierzulande leider nahezu völlig unbekannten Regisseurs Gábor Bódy mit großen Worten ankündigte und den Film als postmodernes Meisterwerk sowie einen persönlichen Lieblingsfilm bezeichnete. Die Erwartungen konnten von dem Film mehr als erfüllt werden und er stellte mit Sicherheit eines der Festivalhighlights dar. In surrealistisch-expressiven bis experimentellen Bildern mit Underground-Charakter entfaltet der Film eine regelrechte Symphonie aus verschiedenen miteinander verwobenen künstlerischen Strategien. Der Zuschauer wird zum Zeugen einer stark durch den Geist der Post-Punk-Bewegung der Achtziger beeinflussten, episodenhaften Geschichte um mehrere vom Schicksal geschlagene Figuren, die durch Konzertaufnahmen und Interviewszenen ergänzt und verfremdet wird. Die österreichische Kamerafrau Johanna Heer bereicherte den Film merklich, denn sie hatte unter anderem durch ihre frühere Zusammenarbeit mit Jim Jarmusch Erfahrungen gesammelt, und verwendete für die visuelle Umsetzung der komplexen Vision nicht nur 35mm und 8mm-Material, sondern brachte darüber hinaus auch Videoaufnahmen ein. Bódy, der auch in der Hauptrolle zu sehen ist, unterbricht in seinem letzten Film narrative Szenen in regelmäßigen Abständen durch völlig surreal-traumartige Passagen, mit denen er durch expressiven Lichteinsatz und ein verstörendes bis betörendes Sounddesign eine Welt des puren filmischen Ausdrucks entfaltet. Nach dem zweieinhalbstündigen Film stand die Gattin des 1985 mit nur 39 Jahren verstorbenen Regisseurs für Fragen zur Verfügung. Sie erläuterte vor allem ihre enge Verbindung zu den im Film portraitierten Post-Punk-Bands „Das Albert-Einstein-Komitee“ und „Die Rasenden Leichenbeschauer“, ging auf damalige Probleme mit den Behörden ein und vermittelte Eindrücke zu den widrigen Umständen der gering budgetierten Produktion. Überaus interessant ist, dass dem Film kein Drehbuch zu Grunde lag und die meisten Dialoge durch die beteiligten Schauspieler (meist Laien) vor Ort entwickelt wurden. Der Film wurde in einer restaurierten und neu untertitelten Fassung präsentiert, daher besteht zumindest die leise Hoffnung, dass er in ferner Zukunft irgendwann eine Veröffentlichung erfahren wird – idealerweise zusammen mit Bódys Vorgängerfilm ARMOR UND PSYCHE mit Udo Kier, der vermutlich ebenfalls beeindrucken kann.


In Anbetracht des imposanten Eindrucks von NACHTLIED DES HUNDES geriet der zuvor gezeigte Film DIE NADEL / IGLA (UdSSR 1988) von Rašid Nugmanov beinahe in Vergessenheit, obwohl er ebenfalls eine cineastische Rarität war. Der Film debütierte seinerzeit auf der Berlinale und ist ebenfalls stark von musikalischen Einflüssen geprägt, in diesem Fall von der Rock’n’Roll-Kultur, die sich im Russland Ende der Achtziger Jahre großer Beliebtheit erfreute, und aus der auch zwei der beteiligten Schauspieler stammen. Im Klima politischer Umwälzungen der Gorbatschow-Ära begleitet er einen rebellischen Protagonisten Moro (interessanterweise vom koreanisch-stämmigen Schauspieler, Musiker und Undergroundkünstler Viktor Zoj gespielt) bei seinem Kampf gegen die russische Drogenmafia, die seine Freundin zum Junkie gemacht hat. Ideenreichtum und Verweise auf die klassische Moderne des Kinos bestimmen hier das Bild und hinterlassen einen interessanten, wenn auch etwas konfusen Eindruck.

III. „Die Zivilisation ist eine Null“: Hommage an Kira Muratova

Fundstücke vergangener Tage fanden sich auch im Rahmen der diesjährigen Hommage. Sie war Urgestein Kira Muratova gewidmet, die sich mit ihrem über 30 jährigen Schaffen eine hoch angesehene Stellung im russischsprachigen Kino erarbeitet hat. Die gezeigten Filme, die einen repräsentativen Überblick über ihr Werk bieten konnten, fielen durch ihre Länge sowie durch die unverwechselbare, künstlerische Handschrift der Regisseurin auf. Sie zu entdecken gestaltete sich als ein sehr kräftezehrender und anspruchsvoller Ausflug in die Kinogeschichte. „Muratovas Filme gehen keine ästhetischen oder inhaltlichen Kompromisse ein, die Regisseurin verteidigt sie gegen marktwirtschaftliche Produktionszwänge ebenso wie früher gegen die sowjetischen Zensoren. Der liberale Mythos, dass der Mensch mit der gewonnenen Freiheit auch besser und harmonischer wird, wird von Muratova endgültig entlarvt. Eisensteins sorgfältig arrangierte Geschichten sind längst implodiert, und Muratovas Figuren treiben durch die unerträglich öde und raue Wirklichkeit des zerfallenden Realsozialismus.“ Was der Programmhefttext ankündigt, findet seine Erfüllung in grotesken, zermürbenden Werken, geprägt vor allem durch abstrakte, formelhafte Dialoge und sehr strenge visuelle Konzepte – trotz aller Liebe: sperriges Kunstkino, das mit vielen Ecken und Kanten formal so konsequent ist, dass man es zum Teil schon beinahe als klischeehaft intellektuell bezeichnen könnte. Was leider zur Sympathie nicht unbedingt beitrug, ist Muratovas offenbar mangelhafter Respekt vor Tieren, die in den gesehenen Filmen des Öfteren nicht mit Samthandschuhen angefasst werden.

Trotz dem sperrigen, gemischten Eindruck, den Muratovas Werken nach dem ersten Sichten hinterlassen, trotz der Übelkeitsgefühle und der Abneigung, die sie verursachen, lassen sie einen nicht wieder los, die Bilder prägen sich ein, die grotesk überzeichneten, maskenhaften Figuren brennen sich mit lautem Schreien sich ständig wiederholender Sätze ins Gedächtnis – und vor allem den Gehörgang. MENSCHEN ZWEITER KLASSE / VTOROSTEPENNYE LJUDI (Ukraine 2001) wartet mit einer ganzen Armada solcher Persönlichkeiten auf, die durch eine Riege geistig beeinträchtigter Darsteller auf skurrile Art und Weise ergänzt wird. Muratova, die während des Festivals selbst anwesend war, kommentierte alle ihre Filme – kurioserweise vor Beginn statt am Ende – und bezeichnete MENSCHEN ZWEITER KLASSE als ihre groteskeste Arbeit. Dem kann vorbehaltlos zugestimmt werden. Denn zu den bisher erwähnten Aspekten kommen in diesem Filmbeispiel Elemente des Horror- und Musikfilms, die in eine Geschichte um einen unbeabsichtigten Mord und die daraus resultierende Leiche eingeflochten werden. Nichts scheint zusammen zu passen, doch eine höhere Absicht spiegelt sich im unangenehmen Gefühl, dass sich während des Sehens in der Magengrube einstellt. Mit diesem späten Film schuf Muratova eine Art von brutal pervertiertem Humor, der wohl weder heitere Gemüter noch wirkliche Arthaus-Fans begeistern kann – aber zweifellos jeden, der sich der zweistündigen Tortur aussetzt, enorm bereichern wird.


Der eindrucksvollste Film der Hommage war vermutlich DAS ASTHENISCHE SYNDROM / ASTENICESKIJ SINDROM (Ukraine 1989), der 1990 auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Ähnlich wie NACHTLIED DES HUNDES breitet der Film eine postmodern gefärbte Collage verschiedener Erzählstränge aus, die lose zusammenhängen. Dabei wird Campiges, Groteskes, Todernstes und sehr humorvolle Dialoge in einen abstrakten Zusammenhang gestellt. Inwiefern der Zuschauer das Gezeigte zu sich und zu anderen in Beziehung setzt, bleibt zunächst ihm selbst überlassen – mit Sicherheit eine große Qualität des Films. Als kleiner Eindruck der in wunderschöne schwarz-weiß Bilder gehüllte Beginn des Films: Muratova schildert zunächst die Geschichte einer Frau, deren Mann kürzlich verstorben ist. Die Witwe trägt ihre Trauer und ihre Verzweiflung exzessiv schreiend und entgegen jeder gesellschaftlichen Verhaltensnormen nach Außen, schleudert Wildfremden zornige Hasstiraden entgegen. Sie sucht ohne jede Hemmung nach einer Kompensation für ihr Leid. Nach rund einer halben Stunde deprimierender Frustration wechselt der Film auf eine Metaebene: Die erste Episode wird als Film im Film entlarvt, der in Anwesenheit der Hauptdarstellerin einer unmotivierten Menschenmasse vorgeführt wurde – die dem Film rein gar nichts Positives abgewinnen wollen. Von nun an löst sich nach und nach ein klarer Zusammenhang auf und weicht einem assoziativen, schockierenden Blick auf „eine Welt des Ekels und des Elends“ (Zitat Programmheft).

Muratovas Œuvre ist in seiner Radikalität und Eigenständigkeit nur schwer zu beschreiben. Eine Faszination für das Hässliche, das Groteske befindet sich im ständigen Wechsel mit der erfolgreichen Suche nach einer Art Poesie des Alltäglichen. Muratova vermengt Provokation und Schock, Unbehagen und große Schönheit und lässt dort, wo Unvereinbares in kurioser Form aufeinander trifft, ein recht einzigartiges Gefühl entstehen. Es ist beruhigend zu wissen, dass noch Filme existieren, die vom Zuschauer mehr verlangen als das bloße Konsumieren der gebotenen Inhalte. Das Sehen von Muratovas Filmen fühlt sich an wie Arbeit – und dementsprechend ist der Lohn für jeden Fleißigen auch besonders groß.

IV. Nachwuchs

Vom Urgestein Muratova noch ein kleiner Blick auf das andere Spektrum der Altersskala. Das Go East-Festival versteht sich seit seiner Gründung vor allem als Forum des jungen Kinos, als zukunftsorientierte Projektbörse sowie als Treffpunkt für Filmschaffende und potenzielle Investoren.

Gemäß diesem Selbstverständnis fand sich daher neben dem Hauptwettbewerb der jährlich stattfindende und sehr publikumswirksame Hochschulwettbewerb mit zahlreichen Deutschlandpremieren, in dem Förderpreise der BHF-Bank-Stiftung an vielversprechende Arbeiten vergeben wurden. Hierunter fiel beispielsweise der Förderpreis für den besten Beitrag einer osteuropäischen Hochschule, um den acht teilnehmende Filmhochschulen mit vielfältigen Filmen wetteiferten. Auch das Publikum kam in der Hochschulsektion zu Wort, denn es durfte in den Kategorien Dokumentarfilm, Animations- /Experimentalfilm sowie Kurzspielfilm seine Favoriten mit drei weiteren Preisen von jeweils 1.000 Euro zu belohnen. Ergänzend bot das Programm „Next Generation“ außer Konkurrenz ein Panorama deutscher Hochschulfilme, unter anderem aus der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin oder der Filmakademie Baden-Württemberg. Wem diese geballte Portion Film irgendwann über den Kopf wuchs, der hatte die Gelegenheit, sich dem jungen Film außerhalb des Kinosaals direkt zu nähern. Unter dem Titel „Meet The Filmschools“ fanden sich Vertreter der im Hochschulwettbewerb präsenten Ausbildungsstätten zum munteren Podiumsgespräch sowie anschließender Fragerunde ein und vermittelten so einen konkreten Eindruck über Ausbildung, Lehre und diverse Themenfelder wie beispielsweise neue Medien.

In puncto Nachwuchsarbeit war neben den Förderpreisen des Hochschulwettbewerbs der Punkt „Young Professionals“ interessant, ein umfangreiches Fortbildungsprogramm, das dieses Jahr zum dritten Mal Nachwuchstalente aus Deutschland, Mittel- Ost- und Südeuropa zusammenbrachte und mit Vorträgen, Workshops und Diskussionen zum künstlerischen Austausch anregte. In der zum zweiten Mal stattfindenden Projektbörse wurden zudem Grundsteine für zukünftige Ost-West-Koproduktionen gelegt. Hier wurde 10 Regisseuren und 10 Produzenten die Gelegenheit geboten, Ideen auszutauschen und Teams zu bilden, um dann mit ihren Projektvorschlägen ins Rennen um den Filmförderpreis für Koproduktionen 2010 der Robert Bosch Stiftung zu gehen, der dann beim Go East-Festival vergeben werden wird. Mit diesem Preis werden jährlich 3 ambitionierte Projekte in der Kategorie Dokumentarfilm, Animationsfilm und Kurzspielfilm mit bis zu 70.000 Euro gefördert und so ihrer Umsetzung ein ganzes Stück näher gebracht. Dieses Jahr waren bereits Ergebnisse der Projektbörse 2008 im Festivalprogramm zu sehen.

V. Mittendrin statt nur dabei?

Was unterscheidet den Besuch eines Filmfestivals von einem regulären Kinobesuch? Eine Frage, die im Rahmen des Go East-Programms nicht immer leicht zu beantworten war. Denn während auf Seiten der Fachbesucher mit viel Liebe zum Detail eine hervorragende Vernetzung geschaffen wurde, blieb das Publikum leider ein wenig sich selbst überlassen.


Natürlich sprach die exzellente Filmauswahl für sich und spätestens, wenn ein geladener Gast den meist überdurchschnittlich bequemen Kinosaal betrat, um nach kurzer Ankündigung das Publikum mit Insider-Infos zum Film zu versorgen, wurde bewusst, dass man Teil eines größeren Ganzen war. Doch während beim Nippon Connection-Festival kurz zuvor geklotzt worden war und sich im vor Angeboten berstenden Festivalzentrum stets Unmengen schwärmender und tratschender Besucher getummelt hatten, war beim Go East-Festival dezente Eleganz angesagt. Das Programm bot mit Events wie Filmemachergesprächen, einem Filmmusikkonzert, ausgestellten Filmplakaten, einer Lesung oder der hervorragenden (kostenloser Wodka) Festivalparty durchaus Anlass genug für Erlebnisse abseits des Kinosaals. Doch leider fehlte aufgrund der zahlreichen Locations und des hin und wieder notwendigen Hetzens zwischen den Filmen ein wenig die wiedererkennbare Atmosphäre, welche manch andere Festivals zu etwas wirklich Besonderem macht. Im idyllischen Bellevue-Saal, dem eigentlichen Zentrum des Festivals, fand sich zwischen den Sitzgelegenheiten leider wenig Publikumsverkehr. Was nicht verwundert, denn der Saal bot neben einer Vorverkaufsstele für Tickets und vereinzelten Filmplakaten keinerlei Anreiz für einen Besuch, war ganz und gar nicht zentral positioniert und eher ein Geheimtipp unter Eingeweihten. Das Foyer des Festivalkinos, dem wunderschönen Caligari, wurde ebenfalls eher spärlich genutzt. Das Publikum war entsprechend der verstreuten Programmpunkte leider stets in der ganzen Stadt verteilt, vor allem tagsüber fehlte ein wirklicher Knotenpunkt, wo flüchtige Bekanntschaften hätten vertieft oder neue Kontakte hätten geknüpft werden können. Eigentlich schade, wo doch ein Filmfestival vor allem auch eine Austauschmöglichkeit darstellen sollte.

VI. Long Live The New Flesh

Trotz seines dezenten Auftretens konnte das neunte Go East-Festival durchweg mit Seherlebnissen der besonderen Art begeistern und hat somit nachhaltige Eindrücke hinterlassen. Auch wenn sich nach der letzten Wiederholung am 30. März der Trennungsschmerz von dem etwas anonymen Event in Grenzen hielt, währt der Eindruck der unzähligen, gesehenen Filme dafür umso länger. Und in der Tat: Nachhaltigkeit wird bei Go East groß geschrieben. Spätestens, wenn in einigen Jahren erste Regiegrößen durch die zahlreichen, eindrucksvollen Förderprojekte des Festivals ihre Schöpfungen präsentieren, dann wird jeder Wehmut vergessen sein und nur noch Dankbarkeit für jahrelanges Engagement bleiben. In diesem Sinne: Bis zum nächsten Jahr, liebes Go East-Festival.