Sushi und Spiele - Nippon Connection 2009
Zum 9. Mal lockte das Nippon Connection Filmfestival nach Frankfurt
von Dennis Vetter
Es ist wieder einmal Frühling geworden – Zeit, den alten, verrosteten Grill endlich wieder vor die Tür zu schleppen und sich auf der nächstbesten Wiese ein ungesundes, aber dafür besonders wohlschmeckend geräuchertes Mahl zuzubereiten. Dementsprechend sollte man annehmen, ein Filmfestival ausgerechnet jetzt auszurichten, hätte unabhängig von dessen Größe und Attraktivität Zuschauerzahlen im lediglich zweistelligen Bereich zur Folge. Doch weit gefehlt.
Der Festivalfrühling begann zwischen dem 15. und 19. April im Studierendenhaus auf dem Frankfurter Campus wieder mit einem Massenauflauf, denn unzählige Besucher waren bereit, ihren ersten Sonnenbrand noch ein wenig zu verschieben und sich scharenweise in die Kinosäle des japanischen Filmfestivals Nippon Connection zu verkriechen, um so ihren kulturellen Horizont zu erweitern. Die Nippon Connection hat sich seit ihrer Gründung zur Jahrtausendwende einen festen Platz in der internationalen Festivalszene erarbeitet, ist mittlerweile das weltweit größte Festival für japanischen Film überhaupt und lockte dieses Jahr zum mittlerweile neunten Mal wieder rund 16.000 Besucher sowie rund 30 Filmschaffende auf den Frankfurter Campus – und mich als begeisterten Mitarbeiter ins Team.
I. 10 Menschen – 10 Farben – 11 Filme
Dieses ungewöhnliche Motto, garniert mit einem faszinierenden Artwork (zu bestaunen im diesjährigen Trailer, waren dabei das Erste, mit dem der geneigte Cineast oder Japanfan auf dem Weg zum Festivalzentrum konfrontiert wurde. Beides irritierte und faszinierte, machte neugierig – und stand damit ganz im Zeichen dessen, was hinter den aufwändig designten, heiligen Mauern wartete. Denn dort fand sich nicht nur ein gewohnt umfangreiches Filmprogramm, das jenseits gängiger Klischees und auf sehr hohem Niveau ein authentisches Bild der vielfältigen und vitalen japanischen Kinolandschaft zu vermitteln suchte, sondern zudem eine dick gefüllte Wundertüte voller Kulturschätze, in der es fleißig zu wühlen galt. Das Markenzeichen des Festivals war bereits in den letzten Jahren vor allem die Vielfalt seines Angebots, und so konnten auch dieses Jahr wieder Workshops, Theaterperformances, Konzerte und Parties, eine spaßige Spielhölle und vieles mehr jegliche Zeitreserven zwischen den Filmen auffüllen.
Die Filme waren erneut auf drei üppig bestückte Programmschienen verteilt, Nippon Cinema umfasste vor allem Deutschland- und Europapremieren, welche im Wettbewerb um den Nippon Cinema-Award standen, und damit alle Langfilme, die auf echtem Filmmaterial gedreht wurden. Nippon Digital präsentierte wieder allerlei Video-Produktionen, genauer gesagt eine breite Palette kurzer und langer Arbeiten junger, innovativer Nachwuchsregisseure und zahlreicher Studenten, die mit geringerem Budget produziert, aber keineswegs von geringerer Qualität sind. Es ist also kaum verwunderlich, dass auch 2009 so mancher Grill angesichts der Konkurrenz von Sushi und Co. noch kalt bleiben musste.
II. Wärme
Und überhaupt: Wer hat schon das Bedürfnis, sich auf schmutzigen Wiesen in die Sonne zu setzen, wo es doch die ganze Schönheit der Welt auch auf Kinoleinwänden zu entdecken gilt – die dabei in der Regel auch noch vor bequemen, sauberen Sitzgelegenheiten und in angenehm klimatisierten Räumen positioniert sind. Einzig die Wärme der Sonnenstrahlen fehlt in den abgedunkelten Bildertempeln der Neuzeit, doch Wärme vermittelte das Nippon Connection Festival en masse, wenn auch zwischenmenschlicher und weniger UV-haltiger Art.
Einerseits durch die typische Nippon-Atmosphäre und das sympathische Team, das sich wieder aus einem bunten Haufen ehrenamtlicher Mitarbeiter rekrutierte, die das Festival jedes Jahr mit derartigem Herzblut auf die Beine stellen, dass es einem einfach warm ums Herz werden muss. Umso mehr, wenn man auch selbst mit angepackt, sich monatelang vorbereitet und dann nächtelang durchgearbeitet hat, um 5 Tage lang die Früchte seiner Arbeit zu bestaunen. Ein Festival aus dem Boden zu stampfen ist in der Tat echte Knochenarbeit, aber das Ergebnis übersteigt tatsächlich alle Erwartungen und entschädigt tausendfach für brutalsten Schlafmangel, Rückenschmerzen und Schwielen an den Händen. Als geneigter Zuschauer, zu denen ich mich bis vor einem Jahr selbst noch zählte, merkt man der Nippon Connection mehr als anderen Festivals einen gewissen Self-Made-Charakter an – und das ist auch gut so. Schlendert man durch das mit Angeboten prall gefüllte Festivalzentrum, spürt man förmlich eine gewisse Euphorie, die einfach in der Luft liegt und sich im Gesicht jedes einzelnen, vorbeihetzenden Teammitglieds spiegelt. Kleine Ecken und Kanten in den Abläufen machen das Festival stets menschlich und zeigen, dass Perfektion im Bereich der Kultur niemals so sympathisch sein kann wie Authentizität und Spontanität.
Die Atmosphäre des Festivals entsteht aber natürlich vor allem durch die Zuschauer; und die werden angelockt vom Filmprogramm. Auch in diesem Bereich spielte sich dieses Jahr Anrührendes und Bewegendes ab. Das japanische Kino der Gegenwart besticht oftmals durch einen überaus versierten, sehr präzisen bzw. subtilen Umgang mit Emotionen. Wo vor allem im US-Kino häufig der Holzhammer zum Einsatz kommt, scheinen in vielen japanischen Filmen kleine Gesten oder Andeutungen auszureichen, um damit eine genauso intensive, oft sogar noch größere Wirkung zu erzielen. Themen wie Verlust, Trauer, Tod, Depression und Einsamkeit, aber auch Liebe, Vergebung, Hoffnung und Freundschaft fanden sich nicht nur im Eröffnungsfilm TOKYO SONATA von Regiegröße Kiyoshi Kurosawa und dem Abschlussfilm ALL AROUND US (Gururi no koto) von Ryosuke Hashiguchi (die damit eine Art Rahmen um das Filmprogramm bildeten), sondern auch in einer Vielzahl weiterer, schwermütiger Dramen, die über alle Festivaltage verteilt überaus eindrucksvoll anzusehen waren.
Eine Liebesgeschichte der etwas anderen Art findet sich beispielsweise in THE KISS (Seppun) von Kunitoshi Manda. Der Film zeigt ohne Eile, wie eine junge Frau sich in einen Serienkiller verliebt, den sie lediglich aus TV-Berichten kennt, und sich fanatisch in dessen Geschichte bzw. Persönlichkeit hineinsteigert. Hirokazu Kore-Eda legte nach seinem hervorragenden NOBODY KNOWS von 2004 einen weiteren, mehrfach preisgekrönten Film vor: STILL WALKING beweist erneut das Gespür des Regisseurs für Melancholie und ist eine zutiefst anrührende Auseinandersetzung mit einer japanischen Familie.
Im Digitalprogramm fanden sich Raritäten, die hierzulande vermutlich nicht so schnell wieder zu sehen sein werden. So wussten unter anderem die stille Trennungsgeschichte GOODBYE (Hebano) von Nachwuchstalent Bunyo Kimura und die Dokumentation MENTAL (Seishin) von Kazuhiro Soda die grellen Frühlingsgefühle zärtlich zu unterdrücken und den Kinosaal zu einem schwermütigen Erlebnisraum zu machen. MENTAL dokumentiert Patienten einer kleinen, psychiatrischen Praxis, die zwischen Essensstörungen, Überarbeitung und Selbstmordwünschen eine ganz eigene Philosophie entwickelt haben. Indem sie vor der Kamera sich ganz offen mitteilen, weinen oder einfach nur schweigen, schaffen sie ein filmisches sowie emotionales Erlebnis, dass noch lange nachwirkt. Der eindrucksvolle Debütfilm GOODBYE ist ähnlich bewegend, allerdings keine Dokumentation, sondern eine präzise komponierte Ode an zwei wunderbar authentische Figuren, die sich in sorgsam ausgeleuchteten Bildkompositionen mit ihrer zerbrechenden Beziehung und scheiternden Zukunftsplänen auseinandersetzen müssen. Ohne ein Weichspüler-Happy End und völlig ohne Musikeinsatz entwickelt der Film mit seiner Digitalfilm-Optik und durch großartige Schauspieler realistisch anmutende Charaktere und kommt so den ganz großen Gefühlen weitaus näher, als man es von den meisten hier zu Lande populären Dramen gewohnt ist.
III. Humor & Spektakel punkten beim Publikum
Die herausragende Qualität der ernster angelegten Filme schien das Publikum bei der Abstimmung zum diesjährigen Publikumspreis, dem NIPPON CINEMA AWARD, nicht beeinflusst zu haben. So konnte sich der ‚Crowd-Pleaser’ DETROIT METAL CITY von Toshio Lee, der auch an japanischen Kinokassen Riesenhit war, souverän an die Spitze setzen. Der Film gehörte zwar nicht unbedingt zu den anspruchsvollsten Programmpunkten, war auf dem Festival aber zweifellos eines der skurrilsten und ideenreichsten Machwerke. Der Film erzählt die Geschichte eines etwas naiven, schrulligen Pop-Sängers, der mit seinen akustischen Balladen nur auf taube Ohren stößt, aber dafür mit seinem Alter-Ego ‚Sir Johannes Krauser II’ als Sänger einer Death-Metal Band widerwillig enorme Erfolge feiert. Natürlich bahnt sich neben dem ganzen Durcheinander nach kurzer Zeit auch noch eine Romanze an, welche alles noch ein wenig komplizierter – und natürlich unterhaltsam – macht. Auch auf Platz zwei und drei fanden sich mit OSAKA HAMLET (Osaka hamuretto) von Fujiro Mitsuishi und TALK, TALK, TALK (Shaberedomo shaberedomo) von Hideyuki Hirayama ausschließlich heiter gestimmte Streifen ein. Und auch abseits der Siegertreppe konnten neben den gelungenen Preisträgerfilmen weitere, großartige Komödien erlebt werden, die vor allem mit unkonventionellen Figuren und schrägen Kostümen punkteten.
Eine kleine Bemerkung am Rande: Die Preisverleihung wäre sicherlich anders ausgegangen, hätte sich Sion Sonos Meisterwerk LOVE EXPOSURE (Ai no mukidashi) im direkten Wettbewerb befunden. Der Ausnahmefilm, der vor allem von vielen der anwesenden Journalisten innig umarmt wurde, hatte bereits auf der Berlinale seine Deutschlandpremiere gefeiert, wurde dort mit dem CALIGARI- und dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet, und konnte am Festivalsonntag trotz seiner eindrucksvollen Länge von vier Stunden zahlreiche Besucher aus der Mittagssonne in den Kinosaal locken. Eine derart komplexe Geschichte um Perversion, Liebe, Sexualität und Gesellschaft ist in ihrer Länge und stilistischen Vielfalt kaum in Worte zu fassen, hat aber glücklicherweise den Weg in die Hände des hervorragenden Vertriebs Rapid Eye Movies gefunden und wird somit hierzulande sicherlich nicht zum letzten Mal zu sehen sein. Prädikat: besonders wertvoll.
Ähnlich bunt und abgedreht wie DETROIT METAL CITY gestaltete sich GS WONDERLAND von Nippon Connection-Dauergast Ryuichi Honda, der sich auch dieses Jahr wieder die Ehre gab. Hier kamen vor allem Musik-Fans und Anhänger von schrägem Humor auf ihre Kosten, denn der Film lässt die Zeit des japanischen Beatles-Fiebers wieder auferstehen und glänzt mit abgedrehten Outfits und einem grandiosen Soundtrack. THE TWO IN TRACKSUITS (Jaji no futari, R:Yoshihiro Nakamura) wirkt dagegen eher beschaulich, denn die alten, ausgewaschenen Trainingsanzüge, welche die Protagonisten fast den ganzen Film über tragen, können was ihren Schauwert anbelangt im direkten Vergleich mit den bunten Bühnenoutfits aus Hondas oder Lees Filmen nicht wirklich bestehen. Müssen sie aber auch nicht, denn der Film entwickelt ganz eigene Qualitäten. Hier wird vor allem Situationskomik groß geschrieben, oscarreife Dialogpassagen und konsequentes Understatement der beiden Hauptdarsteller ließen – zumindest bei mir – kein Auge trocken. Dabei begnügt sich Nakamuras Film allerdings nicht mit Oberflächlichkeiten, denn neben den zahlreichen Lachern werden hier durchaus sehr ernste Themen verhandelt, bloß eben auf erfrischend ungezwungene Art und Weise.
Last but not least sollte im Bereich der komischen Seite des diesjährigen Programms auch unbedingt PUSSY SOUP aus dem Digitalprogramm Erwähnung finden. Minoru Kawasaki, dessen Filme wohl am ehesten als eine Mischung als ‚Manga meets Monty Python’ beschrieben werden können, war in den letzten Jahren bereits mehrfach bei der Nippon Connection vertreten und hat einen enormen Filmoutput vorzuweisen, der vor Kreativität förmlich sprudelt. In seinem neusten Film erzählt er die Geschichte des Katers ‚Master’, der von seinem tyrannischen, superniedlichen Vater ‚Shogun’ in eine Karriere als Werbekater gezwungen wird und sich auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung verzweifelt gegen diesen auflehnt. Entgegen dem filmtypischen Trend zu aufwändigen Effekten verwendet Kawasaki zur Darstellung der Hauptfiguren abgedreht ausschauende, völlig bewegungsunfähige Plüschtiere, die mit trashigen Tricks zum Leben erweckt werden. Glauben kann man dies wohl nur, wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat.
IV. Geschmackssache: Animationsfilme
Während die bisher erwähnten Filme noch halbwegs kategorisierbar scheinen, ist eine klare Einordnung bei den diesjährigen Animationsfilmen weitaus schwieriger, denn sie stellten ein ganz eigene Kategorie dar. Häufig ist im japanischen Animationsfilm, der auf eine lange Geschichte zurückblicken kann und einen sehr hohen Standard entwickelt hat, eine besonders große Bilddynamik, kombiniert mit formaler und inhaltlicher Experimentierfreudigkeit zu beobachten, denn das technische Know How ist ausgereifter denn je und so sind den darstellerischen Möglichkeiten kaum Grenzen gesetzt. Bei aktuellen Vertretern des Genres kann es durchaus vorkommen, dass übersteigerte Actionexzesse und Gewaltausbrüche, philosophische Versatzstücke, hochkomplexe Handlungszusammenhänge, eine unüberschaubare Vielzahl von Charakteren und geradezu peinlich-pubertär anmutende Gags nebeneinander bestehen.
Obwohl die beiden Compilations GENIUS PARTY und GENIUS PARTY BEYOND der Goldschmiede Studio 4°C (u.a. bekannt für TEKKON KINKREET oder MINDGAME) jeweils gleich aus mehreren unzusammenhängenden Episoden bestehen, die auch noch von mehrere Regisseuren inszeniert wurden und deshalb umso weniger einen schlüssigen Gesamtzusammenhang vorweisen können, heben sie sich deutlich von manch willkürlichen Mixturen im Anime-Bereich ab. Sie versuchen erst gar nicht, Unvereinbares zu kombinieren, sondern konzentrieren sich auf das Wesentliche: beide Compilations präsentieren ein fachkundig ausgewähltes Gourmetmenü, bestehend aus mehreren kurzen Episoden, die virtuos inszeniert sowie präzise durchdacht daherkommen und somit jedem, der gute Speisen zu schätzen weiß, ein Erlebnis der besonderen Art bieten können. Hier wird visueller Exzess ohne Scheu mit überschwappendem Ideenreichtum kombiniert, und zwar derart virtuos, dass es einem schon beim Betrachten einzelner Screens das Wasser im Munde zusammentreibt. Doch wie es bei besonderen Mahlzeiten üblich ist, sind sie eben mehr als die Durchschnittskost reine Geschmackssache und werden somit entweder innig geliebt, oder nach dem ersten Kosten nicht mehr angerührt, entsprechend fielen hier auch die Publikumsreaktionen aus. Die beiden Compilations, die als Deutschlandpremieren im Wettbewerb starteten, konnten mit Mittelwerten aus großem Lob und großer Enttäuschung leider keinen der drei Top-Ränge erstürmen.
Den visuell überaus beeindruckenden Psychotrip HELLS von Yoshinobu Yamakawa ereilte ein ähnliches Schicksal, allerdings waren hier die negative Urteile ein wenig plausibler. Mit einer Laufzeit von rund zwei Stunden und einigen dramaturgischen Längen erzählt er die Geschichte des – Überraschung – Schulmädchens Rinne, das auf dem Weg zur Schule von einem Auto direkt in eine Art Höllendimension verfrachtet wird und sich nun zwischen Dämonenzicken und teuflischen Elvisimitatoren zurechtfinden muss. Der Film ist in jedem Fall einen Blick wert und stellt trotz kleiner Schwächen einen sehr erfrischenden und zum Teil grandios selbstreflexiven, atmosphärisch einzigartigen Genrebeitrag dar.
IV. Sex
Mit YARIMAN von Rei Sakamoto und PARTING PRESENT von Altmeister Mamoru Watanabe fanden sich im Hauptprogramm neben den eben genannten Beispielen auch zwei Vertreter des japanischen Erotikfilms, des Pink-Films (Pinku Eiga), dem die Nippon Connection zusammen mit dem Deutschen Filmmuseum ein aufwändige Retrospektive widmete. Das Genre ist eines der vitalsten und experimentellsten der japanischen Kinogeschichte und diente vielen heute hoch geschätzten Regisseuren wie Yojiron Takita (Oscar 2008 für DEPARTURES), Koji Wakamatsu (UNITED RED ARMY) oder Kiyoshi Kurosawa (LOFT, TOKYO SONATA) als Experimentierfeld für frühe Arbeiten und als Einstiegsmöglichkeit ins hart umkämpfte und ansonsten streng reglementierte Filmgeschäft der großen japanischen Studios. Dabei hat der Pink-Film kaum etwas mit der westlichen Vorstellung von Erotikfilmen gemein, denn bei den Filmen handelt es sich keineswegs um banale Aneinanderreihungen sinnfreier Szenen, die sich ausschließlich um halbnackte Haut drehen.
In diesem Bereich des japanischen Kinos besteht im Gegensatz zu Großproduktionen von Seiten der entsprechenden Studios her die Vorgabe lediglich darin, ein Minimum an sexuell eingefärbten Softcore-Szenen in den Filmen einzubringen – alles weitere bleibt den Regisseuren im Rahmen eines mäßigen, von Film zu Film immer gleichen Budgets völlig offen. Entsprechend dieser Freiheit wurde der seit den Sechzigern bestehende Pink-Film von zahlreichen talentierten Regisseuren sowohl als Plattform für radikale, politische Manifeste als auch für besonders kreative Experimente zu filmischen Darstellungsmöglichkeiten genutzt.
Die Retrospektive wurde moderiert und kommentiert von Jasper Sharp, Mitgründer des renommierten Internetportals Midnight Eye und Dr. Roland Domenig von der Universität Wien. Beide können als Nippon Connection-Dauergäste bezeichnet werden und machten mit ihren umfassenden Kenntnissen den Weg nach Frankfurt vor allem für Filmwissenschaftsstudenten überaus interessant.
Die ausgewählten acht Filme boten zusammen mit den routinierten und stets angenehm humorvollen Erläuterungen des dynamischen Duos, das unter anderem auch durch Insider Mamoru Watanabe ergänzt wurde, einen greifbaren Überblick über die verschiedenen Ausformungen des Genres. Es wurde anschaulich demonstriert, welche Ausprägungen sich im Pink-Film bis heute entwickelt haben und wie klassische und aktuelle Werke im enormen Output der Pink-Film-Industrie einzuordnen sind. Dabei zeigte allein die Vielfalt der Titel das breite Spektrum der gebotenen Inhalte: BLUE FILM WOMAN (1969, R:Kan Mukai), RAIGYO (1997, R: Takahisa Zeze), GUSHING PRAYER (1971, R:Masao Adachi), SECRET HOT SPRING RESORT: STARFISH AT NIGHT (1970, R: Mamoru Watanabe), ABNORMAL FAMILY: OLDER BROTHER’S BRIDE (1984, R: Masayuki Suo), S&M HUNTER (1989, R: Shuji Kataoka), NO LOVE JUICE: RUSTLING IN THE BED (1999, R: Yuji Tajiri) und TEARS OF ECSTASY (1995, R: Hiroyuki Oki). So fanden sich Ozu-Parodien, campige Geschmacklosigkeiten, experimentelles Kunstkino, linkspolitische Abhandlungen, bunte Farbexzesse, feinfühlige Dramen und vieles mehr, bloß eines kam zu kurz: Sex, den dieser interessierte die meisten Regisseure bei ihren Filmen am wenigsten.
Alles in allem ein äußerst gelungener Ausflug in die japanische Kinogeschichte. Neulingen wurde die Scheu vor einem zunächst sonderbar wirkenden, aber bei näherer Betrachtung enorm interessanten und vor allem vielschichtigen Bereich des japanischen Films genommen, und wer bereits mit dem Pink-Film vertraut war, erfuhr spannende Hintergrundinfos und hatte vor allem die seltene Gelegenheit, einige schwer zugängliche Filme auf der magischen Leinwand zu sehen. Zur weiterführenden Beschäftigung sei vor allem Jasper Sharps hervorragendes Buch „Behind the Pink Curtain“ empfohlen, das einen großartigen (und reich bebilderten!) Überblick über die Geschichte des Pinku Eiga vermitteln kann, sich dabei mit soliden Englischkenntnissen wunderbar liest und auch im Regal ein super Bild abgibt.
V. Kultur
Das Filmprogramm der Nippon Connection 2009 konnte jedem Japanbegeisterten wieder Freudentränen in die Augen treiben – und jedes Teammitglied, das aus Zeitmangel kaum Filme sehen konnte, zur Verzweiflung bringen. Doch es gab auch anderes zu entdecken.
Auf akademischer Seite fand sich neben der umfangreichen Retrospektive und verschiedenen Filmemachergesprächen vor allem wieder die alljährliche Podiumsdiskussion, diesmal ganz im Zeichen der neuen Generation weiblicher Filmemacherinnen in Japan, die mit innovativen Filmen im Programm stark vertreten waren und in Japan nach und nach das patriarchalische Regime der Filmindustrie zum Wackeln bringen. Sharon Kinsella von der University of Manchester gab – passend dazu – in einem Vortrag kluge Worte zur feministischen Filmtheorie zum Besten und betrachtete dazu Weiblichkeitsinszenierungen in der männerdominierten Kulturindustrie Japans. Der Filmwissenschaftler Marco Pellittieri reflektierte Fragen zur nationalen Identität Japans anhand von Darstellungsstrategien aktueller Animationsfilme und tat dies ebenfalls auf sehr inspirierende Art und Weise, vor allem mit üppigen Filmbeispielen.
Weniger akademisch, dafür aber nicht weniger fachkundig und dementsprechend sehr motiviert kommentierte Trashfilm-Experte, Regisseur und mittlerweile auch Hörspielmacher Jörg Buttgereit (NEKROMANTIK) mit journalistischer Verstärkung aus der Redaktion des Kultmagazins ‚Splatting Image’ einen recht eigenwilligen, japanischen Trashfilm. Zur Stärkung wurden Billigchips und Gerstensaft gereicht, ganz im Sinne von Roberto Cappellutis ehemaliger HR-Sendung ‚Late Lounge: Heimkino’, leider aber ohne dessen eigentlich geplante Anwesenheit. Auch eines der Hörspiele Buttgereits, namentlich „Sexplosion in Shinjuku“, war zusammen mit der RBB/RB-Produktion „Amaterasu in Shinjuku“ im Festivalprogramm zu hören: Ein Schwerpunkt ‚Sounds’ lud die Gäste ein, Japan akustisch zu erleben. Hier fand sich neben den Hörspielen beispielsweise auch ein Klangkonzert oder eine Performance mit japanischen Taiko-Trommeln.
Ein besonderes Erlebnis war sicherlich auch die erstmalige Live-Schaltung in eine japanische Bar, in der sich diverse Regisseure zum munteren Videochat einfanden und im Foyer des Festivalzentrums per Dolmetscher und Webcam vom Publikum befragt werden konnten. Das ganze wirkte noch ein wenig improvisiert, konnte aber als Gimmick sehr begeistern und wird nach dem diesjährigen Testlauf mit großer Wahrscheinlichkeit auch zukünftig ein Teil des Programms bleiben – dann aber mit verbesserter technischer Ausstattung.
Am Ende der langen Filmtage konnten neben der abends geöffneten und allseits beliebten Karaoke-Lounge vor allem am Freitag und Samstag fetzige Parties für zusätzliche Abwechslung sorgen. Hier gab zunächst das japanische Pop-Girlie Kumisolo begleitet von eigenen Elektrorhythmen eine Auswahl ihrer zuckersüßen, aber wohl nicht für jeden geeigneten Songs zum besten und Nippon-Routinier DJ Hito heitzte zum Höhepunkt des Festivalwochenendes zusammen mit Drag-Queen Masu, DJ Yogi und VJs von eyetrap.net eine begeisterte Menge zum Tanzen bis in den Morgengrauen an.
Selbst in dieser umfassenden Aufzählung über das diesjährigen Film- und Kulturprogramm fehlt noch einiges, was Nippon Connection zu bieten hatte. Aber keine Sorge: Für alle Neugierigen wird es auch nächstes Jahr wieder die Gelegenheit geben, zum 10. Geburtstag der Nippon Connection wieder auf einen Tee und eine Portion Sushi reinzuschauen – ich werde zumindest wieder mit von der Partie sein und freue mich schon auf ein Wiedersehen mit der ‚Nippon Connection-Familie’.
Wer noch nicht das Vergnügen hatte, kann sich online einen nicht ganz aktuellen, aber dafür wunderbar prägnanten Überblick über das alljährliche, bunte Treiben auf dem Festival verschaffen, denn unter http://www.youtube.com/watch?v=zAD4QtqjQ7c findet sich eine nette kleine Doku. Außerdem bietet natürlich die Nippon-Connection-Homepage nochmals alle Filminfos en detail und animiert zum Erforschen auf eigene Faust. Lust bekommen? Zukünftige Mitstreiter mögen sich die Adresse http://helfer.nipponconnection.de auf ihren Unterarm tätowieren, um nächstes Jahr frühzeitig erinnert zu werden und sich dann einfach bei unserer stets freundlichen Helferorganisatoren zu melden.